Wortschatz
Im Redaktionskreis freuen wir uns über jedes neue Wort, das ein Phänomen treffender als unser bisheriges Vokabular ausdrückt.
Transformation hat wesentlich mit Sprache zu tun: Lebensdienliches Denken und Tun brauchen lebensdienliche Begriffe, Denkräume und Bilder.
Durch diese können Sehnsüchte wachsen, die immer mehr Menschen dazu bringen, das gute Leben für alle hier und jetzt vorauszulieben – und so können transformatorische Impulse zu Keimlingen werden, Wurzeln schlagen und unsere Lebenspraxis verändern. Manche Wörter, wie »Lassenskraft«, »enkeltauglich« oder »mehr-als-menschliche Welt«, wurden uns von Denkgefährtinnen und Weggenossen geschenkt – andere, wie »pflegnutzen«, »commonisch« oder »gemeinschaffen«, haben wir selbst in den Sprachschatz des guten Lebens eingespeist.
Nachfolgend teilen wir eine wachsende Sammlung an Alltagsbegriffen, die uns Orientierung, Halt und Inspiration geben. Wir wünschen uns den regen Gebrauch dieser Wörter.
In der Bedeutung von »allen (Gemeindemitgliedern) zukommend« bezeichnete das Wort bis in jüngste Zeit die im Eigentum von Dorfgemeinschaften stehenden, gemeinsam bewirtschafteten Weiden und Wälder. In der modernen Bedeutung bezeichnet »Allmende« – wie das englische Commons – jegliches materielle (Luft, Wasser, Land, mineralische und organische Lebensquellen, Werkzeuge etc.) wie immaterielle (Raum, Stille, Artenvielfalt, Kultur, Wissen, Gemeinschaft, Sicherheit etc.) Gut, das gemeinschaftlich pfleggenutzt oder in einem Prozess des Gemeinschaffens hervorgebracht wird. Die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom (1933–2012) erforschte die Prinzipien und Haltungen, die gelingende Allmenden ermöglichen, und widerlegte so die durch Garrett Hardin (1915–2003) verbreitete Mär von der »Tragik der Allmende«.
→ gemein; → gemeinschaffen
Ein → Beutel Gedrucktes. Ein Jahrbuch, das als gedruckter Freund mit kalendarischen Elementen, Anekdoten, Geschichten und Nachdenklichem durch die zwölf Monate begleitet.
Heißt nicht »chaotisch« und »durcheinander«, sondern (von
griechisch a-, »nicht«, und arche, »Herrschaft«): »herrschaftsfrei«, »selbstorganisiert« und → »durch einander«.
→ matriarchal
→ zyklisch
→ widerstehen
Ein Muster des Commoning heißt »Sich in Vielfalt gemeinsam ausrichten«. An der Solidarischen Landwirtschaft »Rote Beete« beteiligen sich Menschen aus der Großstadt und vom Dorf, zwanzigjährige Studentinnen und fünfzigjährige Erwerbslose, Doktorinnen und Schulabbrecher, von Rassismus betroffene und sehr privilegierte Menschen. Sie haben vielfältige Erfahrungshintergründe und Sichtweisen. Doch ihr gemeinsamer Wunsch, regional zu produzieren und gut zu essen, lässt sie immer wieder mit einander wirtschaften, Werte verhandeln und zusammen → tätig sein.
Weiterlesen: Silke Helfrich u. a., Commoning. Auftakt einer Mustersprache, 33 Karten; commons.blog.
Umfasst alles. Aber nicht alles auf einmal. Im Beutel ist keine vorgegebene Ordnung. Der Beutel selbst gibt die Ordnung. Er ist das erste menschliche Werkzeug. Am Anfang war der Beutel.
Weiterlesen: Ursula K. Le Guin, Am Anfang war der Beutel, thinkOya, 2020.
Das widerständige Kraut (→ widerstehen) ist fast überall auf der Nordhalbkugel verbreitet, vor allem auf nährstoffreichen Böden; seine Wurzeln reichen bis zu 70 Zentimeter tief. Im Frühjahr lässt sich aus den jungen Blättchen (wer sie in Wuchsrichtung der Härchen erntet, brennt sich nicht) ein reinigender Tee aufbrühen oder Spinat kochen. Schmetterlingsraupen vom Kleinen Fuchs oder Tagpfauenauge ernähren sich fast ausschließlich von ihr.
Weiterlesen: Ludwig Fischer und Judith Schalansky (Hrsg.), Brennnesseln, Matthes & Seitz, 2017.
→ gemeinschaffen; → vielmittig
Gänse erscheinen hoch über uns,
ziehen vorüber, und der Himmel schließt sich. Hingabe
– so wie in der Liebe oder im Schlaf – hält
sie auf ihrer Bahn, klar,
in uralter Gewissheit: Was wir brauchen,
ist da. Und wir beten nicht
für eine neue Erde oder einen neuen Himmel, sondern dafür,
im Herzen still zu sein und im Auge
klar. Was wir brauchen, ist da.
Wendell Berry, Wild Geese. Aus: Silke Helfrich und David Bollier, Frei, fair und lebendig, Transcript 2020.
→ eingebettet; → mehr-als-menschlich
Durch freiwillige Beiträge ist die Finanzierung des Fests nicht zusammengekommen, beim entscheidenden Orga-Treffen fehlt die Hälfte des Kollektivs wegen Krankheit, beim Gemeinschaftsplenum kommt es zum Streit und eine Person verlässt den Raum
… Sich in lebensdienlichen Praktiken zu üben, heißt auch, immer wieder zu »scheitern« (ein anderes Wort für »lernen«) oder mit wirkmächtigen, überkommenen Strukturen (→ verlernen) konfrontiert zu werden – darum:
dranbleiben!
Der Begriff »postpatriarchales Durcheinander« wurde von der Philosophin und → freien Hausfrau Ina Praetorius gefunden. Groß- und zusammengeschrieben, verweist er auf das kreative »Durcheinander«, das entsteht, wenn patriarchale Ordnungen und das damit einhergehende binäre Schwarzweißdenken wegfallen. Getrennt und kleingeschrieben, bedeutet er, dass wir nur »durch einander« lebensfähig sind – indem wir füreinander sorgen (→ fürsorgen) und miteinander → gemeinschaffen.
Weiterlesen: Ina Praetorius u. a., ABC des guten Lebens, Christel Göttert Verlag, 2017.
→ schenken
Alle menschlichen und → mehr-als-menschlichen Leute bringen ihr So-Sein in diese Welt. Das Eigene spiegelt sich in der Begegnung mit dem Anderen. Wie kann daraus ein Tanz der Impulse entstehen, für den wir weder einander vollends verstehen noch »durchsichtig« (→ transparent) werden müssen? Wie viel Eigensinn steckt in diesem Tanz, diesem Raum zwischen den Wesen?
Weiterlesen: Édouard Glissant, Kultur und Identität, Das Wunderhorn, 2005.
Seine Wurzeln hat der Begriff vermutlich im Ökologiediskurs der 1980er Jahre. Die Wendung »enkeltaugliche Zukunft« tauchte erstmals im Zusammenhang mit der »Kinderagenda für Gesundheit und Umwelt 2001« des »Netzwerks Kindergesundheit und Umwelt« auf, das damit das Wort »Nachhaltigkeit« plastisch und begreifbar machen wollte.
Das Wort scheint elf Jahre im Untergrund überdauert zu haben, bis das Jugendfestival »Morgen land« im Jahr 2012 die »enkeltaugliche Zukunft« zu seinem Motto machte und Harald Welzer im Sommer jenes Jahrs den Ausdruck gegenüber Lara Mallien und Johannes Heimrath beiläufig erwähnte.
Seitdem ist »enkeltauglich« zu einem Kernbegriff des Anliegens der Zeitschrift Oya geworden und hat inzwischen sogar Eingang in den allgemeinen Wortschatz gefunden. Über den Begriff »nachhaltig« hinaus macht »enkeltauglich« eine qualitative Aussage darüber, was durch bewusstes Handeln in der Gegenwart für die Zukunft bewahrt werden soll: das gute Leben für unsere Kinder und Enkel inmitten einer intakten mehr-als-menschlichen Welt – am besten, so sagen manche Native Americans – für die sieben kommenden (und auch für die sieben vorangegangenen) Generationen.
Frau → Holle schüttelt ihre Federn, bedeckt die Haut der Planetin mit Schnee. Die Kinder lassen sich in ihre weichen Daunen fallen, hinterlassen Spuren darin.
Ich kenne meine Nachbarinnen: die Eichhörnchen und Rotkehlchen. Ich höre den Gesang und die Geschichten der Vögel, lasse mich von ihrer Lebendigkeit und ihrem Leiden berühren.
Ich frage mich, welche Rolle ich in dem Ganzen spiele. Kann ich das Leben als Geschenk annehmen und mich selbst angenommen fühlen – auch in all meinem Schmerz darüber, dass Leben Tod bringt (→ essbar sein) und da ein schmaler Grat zwischen Schöpfung und Zerstörung ist (→ verbunden)? Wenn ich eingebettet lebe, dann spüre ich immer klarer, was zu tun ist und wie ich zur Lebendigkeit beitragen kann.
Alle haben eine Gabe, eine besondere Fähigkeit: die Vögel den Gesang, die Sterne das Funkeln. Es sei ihre Aufgabe, zu singen und zu funkeln, schreibt die Botanikerin Robin Wall Kimmerer. Was ist die spezifische Gabe von uns Menschen? Uns sind Sprache und Worte zu eigen. Schreiben sei somit ein Akt des Gebens und Nehmens im Austausch mit den uns umgebenden Landschaften. Eine → verbundene Geschichte zu erzählen heißt dann, der → eigenen Verantwortung als Mensch nachzukommen.
Weiterlesen: Robin Wall Kimmerer, Geflochtenes Süßgras, Aufbau, 2021.
→ danken; → widerstehen
Das eigene Ego in den Vordergrund zu stellen, heißt Anspruch auf Unvergänglichkeit zu erheben. Nichts aber ist unökologischer als Unsterblichkeit. Jedes Ökosystem isst sich beständig selbst und bringt sich dabei immer neu hervor. Essbar sein ist der Schlüssel dazu, dass wir ein Teil der Erde bleiben dürfen. Nur die eigene Hingabe (→ danken) ermöglicht uns zu leben.
Aus: Andreas Weber: Essbar sein, thinkOya, Herbst 2023.
→ mehr-als-menschlich; → verbunden
Wenn du kommst, um mir zu helfen, verschwendest du deine Zeit.
Wenn du aber kommst, weil deine Befreiung unauflöslich mit meiner Befreiung verflochten ist, dann lass uns zusammenwirken.
So formulierten es australische Murri-Aktivistinnen in den 1970er Jahren. Seither wandert dieses Motto durch die Welt und erinnert daran, dass der Prozess, sich aus Herrschaftsstrukturen zu befreien, uns alle angeht. Unsere Freiheiten sind miteinander → verbunden. Das zeigt sich auch im Wort selbst – sprach geschichtlich ist das althochdeutsche frī nicht nur mit → »eigen«, sondern auch mit »freundlich«, »lieb« und »lieben« verwandt.
→ anarchisch
Sich kümmern und in behutsam ausgeübter Gegenseitigkeit Sorge tragen – für Kinder, Ältere, Kranke, Nachbarsleute, einen Garten, ein Hoffest oder einen Fluss.
Durch eine fürsorgende Haltung verändert sich das Handeln selbst:
Dinge werden nicht irgendwie, sondern schön, nährend und beziehungswahrend getan. Initiativen unter den Stichworten »Care-Ökonomie« und »Care-Revolution« (care, »sorgen«, → »pflegen«) treten dafür ein, Sorgebeziehungen ins Zentrum des Zusammenlebens zu stellen.
Eine hiesige Entsprechung des lateinischen communis und des englischen commons. Die indogermanische Wortwurzel -mei bezeichnet das, »was mehreren abwechselnd zukommt«: die Allmende. Erst mit deren Einhegung gegen Ende des 17. Jahr hunderts kam die abwertende Nebenbedeutung »roh«, »niederträchtig« auf. Heute noch geläufige Wörter wie »gemeinsam«
und »Gemeinde« verweisen auf die ursprüngliche Bedeutung.
Weiterlesen: Ivan Illich, Vom Recht auf Gemeinheit, Rowohlt, 1982.
Im Alemannischen wird das Wort »schaffen« für jede Art des Arbeitens oder Tätigseins verwendet. Gemeinschaffen – eine Übersetzung des englischen commoning – bezeichnet das aufeinander bezogene Tätigsein, durch das eine Allmende oder ein Commons (→ gemein) erst entsteht und erhalten wird. Gemeinschaffen bedeutet nicht unbedingt einen kollektiven Arbeitseinsatz, sondern kann auch heißen, im stillen Kämmerlein die Vereins buchhaltung zu machen, Texte für ein gemeinschaftsgetragenes Magazin zu lektorieren oder die Kinder und Alten des Hauses zu begleiten.
Ein Muster des Commoning heißt »Commons mit halbdurchlässigen Membranen umgeben«. So war etwa das »Move Utopia« ein tausch logikfreies (→ schenken) Festival: Alle waren eingeladen zu kommen, unabhängig von finanziellen Beiträgen. Wer allerdings dort andere Menschen belästigte, herabwürdigte oder beleidigte, wurde des Platzes verwiesen. Wo genau übergriffiges Verhalten beginnt, war dabei Gegenstand intensiver Diskussionen. Auf diese Weise konnten alle Anwesenden sich sicher fühlen, und es entstand ein gemeinsamer Raum, in dem die Durchlässigkeit der umgebenden Membran immer wieder neu ausgehandelt wurde.
Weiterlesen: Silke Helfrich u. a., Commoning. Auftakt einer Mustersprache, 33 Karten; commons.blog.
Auch → Beutel auf Rädern genannt (siehe Oya 58)
Die Kiste
auf zwei großen, schmalen Rädern in einem eisernen Fahrgestell mit Deichsel ist ein Transportmittel für Lebensmittel, Abfälle, Baustoffe, Kinder und das, was unverhofft noch so daherkommt. Sie begrenzt den täglichen Radius auf ein paar hundert Meter, holpert über Wiesenwege, scheppert an Bordsteinkanten, ist meist langsamer als vieles drumherum und macht → eingebettetes Menschsein erfahrbar.
In ihrem Buch »Geflochtenes Süßgras« schrieb die Botanikerin Robin Wall Kimmerer, dass Menschen, um wirklich an einem Ort heimisch zu werden, lernen müssten, »die Grammatik der Belebtheit zu sprechen.« Der Übersetzerin Elsbeth Ranke ist es hoch anzurechnen, dass sie »becoming indigenous to place« nicht mit »indigen«, sondern als »heimisch werden« übersetzt hat – wird so doch deutlich, dass es nicht um romantisierende, exotisierende Praktiken, sondern um das hier und jetzt Naheliegende geht.
Wenn Menschen also »die Grammatik der Belebtheit« sprechen und die Welt als etwas wahrnehmen, wo alles lebt, fühlt, spricht, dann gibt es keine verdinglichten Objekte und auszubeutenden Ressourcen, sondern nur Leute, die inmitten anderer Leute auf ihre je eigene Weise leben: Ameisenleute, Birkenleute, Flussleute … Beheimatung ist dann auch nichts, was nur an einem einzigen Ort gefunden und über Generationen bewahrt werden könnte; vielmehr heißt heimisch zu werden, mit dem, was ist, im lebendigen Austausch zu sein – und dieser kann potenziell überall und mit allen stattfinden: auch mit der auf einer städtischen Friedhofsmauer heimisch gewordenen Flechte. Das ist kein Luxus, den Menschen sich auf Wochenendseminaren gönnen, sondern eine überlebenswichtige Praktik: »Für uns alle bedeutet Heimischwerden an einem Ort, dass wir so leben, als käme es auf die Zukunft unserer Kinder an, dass wir für das Land sorgen, als hinge daran unser materielles und spirituelles Leben«, wie weiter in »Geflochtenes Süßgras« zu lesen ist.
Andererseits ist es keineswegs beliebig, wo ich heimisch werde. Bestimmte Orte bringen in bestimmten Menschen etwas zum Klingen. Die feministische Autorin bell hooks beschrieb etwa, wie sehr sie in den Landschaften, den Gerüchen und den Jahreszeiten der Südstaaten der USA beheimatet ist. Obwohl Generationen ihrer Vorfahrinnen dort versklavt und ausgebeutet worden waren, kehrte sie deshalb nach einigen Jahren in New York City nach Kentucky zurück.
Oya-Gründerin Lara Mallien beschrieb »Familie« einmal als Dreiklang zwischen Menschen, Sinn und Landschaft(mehr). Dieser kann auch menschheitsgeschichtlich sein, wenn ich in die Tiefe der Zeit eingebettet lebe und mir bewusst mache, auf wessen Schultern ich heute stehe. Lese ich etwa von Funden »vorgeschichtlicher« Bastfäden, Schlafnester oder Hornhacken, dann überkommt mich ein tiefes Gefühl von Beheimatung – ebenso, wenn ich in Ursula K. Le Guins Roman »Immer nach Hause« in die Welt der Kesh eintauche, die einst in ferner Zukunft in einem nordkalifornischen Tal ein gutes Leben geführt haben könnten. Heimisch zu werden heißt, all das zu umarmen, was in meinem Beutel ist: vom Sternenstaub über die Amöbe bis zu den Generationen, die da vielleicht noch kommen mögen.
→ kalt
→ eigen; → gemein
Die genaue sprachgeschichtliche Herkunft von »hoffen« ist unklar. In manchen Quellen wird jedoch eine Verbindung zum mittelniederdeutschen hopen oder hoppen, »(vor Erwartung) hüpfen«, vermutet. Anders als in der heute überwiegenden Bedeutung sei diese Erwartung jedoch weder froh noch bange, sondern offen und wertfrei gewesen. Doch auch heute heißt hoffen nicht, schönzufärben, zu verdrängen oder Differenz, Trauer, Sorge, Wut, Angst und andere spannungsgeladene Emotionen wegzulächeln. Das, was Joanna Macy, Mitbegründerin der Tiefenökologie, »aktives Hoffen« (active hope) nennt, wird gerade aus dem Schmerz über die tagtäglich voranschreitende Zerstörung des Lebendigen geboren und führt nicht in die Lähmung, sondern ins Handeln. Dieses Handeln kann auch das Vorauslieben dessen sein, was der Philosoph Ernst Bloch in seinem Hauptwerk »Das Prinzip Hoffnung« als »konkrete Utopie« bezeichnete: nämlich etwas, das noch nicht in der Realität angekommen ist, aber bereits samenhaft spürbar ist, manifest werden zu lassen (siehe Oya 59).
Eines der schönsten und tiefsten Bekenntnisse zum Hoffen stammt von dem Dramatiker, Dissidenten und späteren Staatspräsidenten Tschechiens, Václav Havel. Als ein Kritiker der sozialistischen Republik, der auch immer wieder in politische Gefangenschaft geriet, wusste er wohl sehr gut, wovon er sprach, als er in dem 1987 erschienenen Interviewband »Fernverhör« zu Protokoll gab: »Je ungünstiger die Situation ist, in der wir unsere Hoffnung bewähren, desto tiefer ist diese Hoffnung. Hoffnung ist eben nicht Optimismus. Es ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht. Sondern Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn ergibt, ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.«
Dass Grün die Farbe der Hoffnung ist, kann ich manchmal geradezu körperlich spüren – in Momenten höchster Potenzialität, wie jetzt im Vorfrühling: wenn Intensität und Dauer des Sonnenscheins zunehmen, aber die Bäume und Sträucher noch kahl sind; wenn die ersten Schneeglöckchen und Krokusse sich entblättern – noch nicht aber die hellgrünen, durchscheinenden Buchenblättchen und die sattgelben Forsythienblüten; wenn alles schier zum Bersten angespannt und in Erwartung der kommenden Warmzeit hüpft und hoppt und hofft und mit einer durch nichts einzuhegenden Unbedingtheit das Licht der Sonne, das Licht der Welt erblicken will – nein: wird! Ist das Hoffen in solchen Momenten, in denen mir noch die lange, dunkle Nacht des Winters in den Knochen steckt, stärker? Oder ist Hoffen unabhängig von den äußeren Bedingungen? Ist es schlichtweg immer da, wie eine sprudelnde Quelle oder ein Seelenvogel, der leise und unablässig sein wortloses Lied zwitschert – als tiefe Gewissheit, dass das Leben lebt, und dass es gut so ist?
Ich bereite dem Frieden den Boden,
lüfte die Decken. Ich mache mich weit,
lade etwas ein, warte im Dazwischen.
Ich höre den Ängsten zu und räume
die Dinge beiseite, die gerade zu viel sind.
Ich erzähle von damals und morgen, flicke die Löcher.
Webe mich in eine große Geschichte ein,
ich verliebe mich täglich
in den Boden unter mir.
→ matriarchal; → eingebettet
Jetzt. Ich verlasse mich auf meine Körpersinne. Die Geschichten der uralten Erde trage ich in meinen Zellen.
Tun, Denken und Wahrnehmen ereignen sich gleichzeitig.
Die Improvisation wächst auf dem Boden → eingebetteter Präsenz mit den Grenzen von Freiheit (→ frei), → verbunden mit allen Tönen, die im Raum klingen. Sie macht Unmögliches möglich und öffnet meine
Wahrnehmung in die Weite des Augenblicks.
→ pflegen
In der Anthropologie wird zwischen »kalten« (dynamische Gleichgewichte und Traditionen bewahrenden) und »heißen« (durch permanenten Innovations- und Wachstumsdruck getriebenen) Kulturen unterschieden.
Eine Aufgabe in unserer chronisch überhitzten europatriarchalischen Zivilisation ist es, abkühlende Elemente zu kultivieren und bewusst mit wärmeren Elementen zu verbinden.
→ lassen; → óya
»They tried to bury us, but they didn’t know we were seeds«, so steht es seit einem guten Jahrzehnt auf Protestbannern von Mexiko City bis Lützerath:
Sie versuchten, uns zu begraben, wussten aber nicht, dass wir Samenkörner sind. Eine radikale gesellschaftliche Transformation kann entstehen, wenn wir viele Samen in die Erde stecken, Keimlinge wässern, vor Zerstörung bewahren und dann vertrauensvoll und geduldig warten.
→ lassen; → widerstehen
Kartoffelschalen, Kaffeesatz und welke Kohlblätter? – Na klar! Aber was ist mit Betonruinen, imperialistischem Denken und Roboter hunden?
Kann ich das Bestehende in all seinen abstoßenden und erschreckenden Ausprägungen wahrnehmen, anerkennen und damit einverstanden sein, ohne es deshalb zu billigen? Kann ich mich liebevoll an seiner Zersetzung beteiligen, so dass daraus Nähr boden für neue lebendige Formen werden kann?
→ postaktivistisch
Der Theateraktivist Dominik Werner schenkte uns das Wort
»Lassenskraft«, als sich Oya zum ersten Mal tiefgreifend wandelte (Oya 40).
Der Begriff beschreibt die Kraft, etwas loszulassen, etwas bleibenzulassen, etwas (so) sein zu lassen – also die konzentrierte Anstrengung, die vonnöten ist, damit Menschen, Dinge oder Zustände sich → frei und → verbunden entfalten können.
Lassenskraft heißt dabei nicht, achtlos oder vernachlässigend zu sein. Wenn es keine Balance zwischen Gestaltungskraft und Lassenskraft gibt, dann läuft eine Gesellschaft heiß (→ kalt).
Horchen, zuhören.
→ lassen
Das lateinische Wort mater bedeutet »Mutter«, das griechische arché heißt »Anfang« (im Gegensatz zu arche, »Herrschaft« → anarchisch) – es bezeichnet also die schlichte Tatsache, dass alle Menschen geboren wurden. Matriarchale Strukturen stellen die Bedürfnisse der Gebärenden, der erst vor wenigen Jahren Gebo renen und derjenigen, die sich um diese kümmern (→ fürsorgen), in den Mittelpunkt. Im Gegensatz zu patriarchalen Strukturen geht es dabei nicht um die Herrschaft eines Geschlechts über ein anderes, sondern um ein gleichwürdiges Miteinander aller Geschlechter in ihrer ganzen Vielfalt (Oya 61 und 62).
→ Holle; → schenken
Wir Menschen sind eine Säugetierart. Neben menschlichen gibt es noch viele andere Leute: Tiere, Pflanzen, Pilze, Steine, Wellen, Wolken, Sonnenstrahlen … Wir leben → durch einander und durcheinander auf und in unserer Planetin. Wir Tiere atmen ein, was die Pflanzen (→ Brennnessel) ausatmen (→ essbar sein).
Weiterlesen: David Abram, Im Bann der sinnlichen Natur, thinkOya, 2012.
Das unter der Erde liegende Myzel, das die für uns sichtbaren Fruchtkörper buchstäblich aus dem Waldboden schießen lässt, ist der eigentliche Pilz.
Dieses Pilzgeflecht besteht aus vielen fadenförmigen Zellen, die Informationen und Nährstoffe weitergeben (→ pflegen). Ohne Myzel würde kein Wald auskommen, genauso wie eine Gesellschaft ohne das – aus den Perspektiven von Markt und Staat – oft unsichtbare → Gemeinschaffen kollabieren würde.
Es trägt uns, ist überall unter unseren Füßen.
→ widerstehen
In der Sprache der Kesh, die in Ursula K. Le Guins (1929–2018) Roman »Immer nach Hause« einst in ferner Zukunft
in einem Tal in Nordkalifornien ein umfassend gutes Leben – mit einer Balance aus → kalten und heißen Kulturelementen – geführt haben werden, bedeutet óya »Wohlsein«, »Anmut«, »mühelos« und »wohlig«.
In ihrer Sprache ist es das Wort, das unserem Begriff »Gesundheit« am nächsten kommt.
→ frei; → verbunden
Stopfen. pflanzen. trösten. verzeihen. putzen. binden. wischen.
füttern. sammeln. stricken. fegen. reparieren. schleifen. warten. jäten. rechen. halten. zuhören. aufräumen. nähen. schrubben. schälen. rühren. streicheln – und alles nochmal von vorn:
→ fürsorgen
Eine bestimmte Lebensquelle nutzen zu können, bedingt, diese zu → pflegen, deshalb: »pflegnutzen« – in dieser Reihenfolge.
→ vielmittig
Der Philosoph Báyò Akómoláfé beschreibt mit »Postaktivismus« → verbundenes In-der-Welt-Sein (Oya 66 und 67). Nicht nur Menschen handeln, sondern alles handelt immerzu und fordert –wiederum zum Handeln heraus: dieses T-Shirt aus Bangladesch, diese Kartoffel vom Acker nebenan, diese Website … Als Kurzform von »Kompost-Akti vismus« erinnert das Postaktivistische daran, dass wir → durch einander leben und es höchste Zeit ist, menschliche Überlegenheits gefühle zu → kompostieren.
»There is a crack in everything, that is where the light gets in« (Leonard Cohen). Durch alles ziehen sich Risse. So kommt das Licht hinein.
In den Rissen, die im Asphalt klaffen, wachsen steinzersetzende Moose und Flechten; in den gesellschaftlichen Rissen bilden sich widerständige (→ widerstehen), → gemeinschaffende Momente und Nischen.
Die Risse lassen → hoffen.
»Wir alle werden in eine Ökonomie der Gabe hineingeboren, werden von denen, die für uns sorgen, am Leben erhalten. Wir sind eine mütterlich → fürsorgende Spezies.« Mütterlichkeit ist eine Eigenschaft, die nicht an ein Geschlecht gebunden ist.
Weiterlesen: Genevieve Vaughan, For-Giving, Ulrike Helmer Verlag, 2008.
→ matriarchal
→ dranbleiben; → Risse
Eine Frau, die mehr als achtzig Jahre zählt, lässt den Faden geschmeidig, fast beiläufig – »wie von selbst« – durch ihre Finger gleiten, während sie durchweg mit ihrem Enkel spricht, Anweisungen in die Küche ruft oder anderen Tätigkeiten nachgeht.
Im Wechsel von Anspannung und Lockerlassen, von Loslassen und Wiederaufnehmen, von Durcheinander und Ordnung vollführen ihre Hände einen Tanz – nicht auf der Bühne, sondern am Herdfeuer. Gut möglich, dass es keines Augenlichts bedarf, um das zu tun, was sie verinnerlicht hat. Erzählt das Garn in ihren Händen doch in vielen dutzend Figuren die Geschichten ihres Lebens, ihres Weltmittelpunkts. Die Fadenfiguren bilden Gewebe, eine Sprache aus unzähligen, wiederkehrenden Mustern. Denken und Tun verbinden sich, weben die Welt ins Dasein, hier und jetzt. Fadenspiele zählen zu den ältesten Spielen, es gibt sie fast überall.
→ tätig sein
»Subsistenz« (von lateinisch subsistentia, »durch sich selbst«, »selbsterhaltend«) heißt, die Grundlagen des Lebens → gemeinsam zu schaffen (→ gemeinschaffen) und → pflegnutzend zu erhalten.
Es bedeutet nicht, autark oder völlig unabhängig zu leben, denn nichts und niemand existiert durch sich allein, sondern alle existieren nur → durch einander.
Subsistent → tätig sein ist das Gegenteil von Lohnarbeit (→ schenken).
Tätig sein heißt nicht notwendigerweise, für Lohn zu arbeiten.
Tätig sein bedeutet, sich dem hier und jetzt Notwendigen zu zuwenden. Die Kunst ist, zu → unterscheiden, was das jeweils ist.
→ fürsorgen; → pflegen
Ein Muster des Commoning heißt »im Vertrauensraum transparent sein«. Im »Konzeptwerk Neue Ökonomie«, einem Kollektivbetrieb, fanden regelmäßige Runden statt, in denen alle offen von ihrem Kontostand und ihrem Verhältnis zu Geld sprachen. Das dauerte manchmal mehrere Stunden, und oft flossen Tränen (→ verzweifeln). Diese Runden halfen den Kollektivmitgliedern, eine gute Lohnhöhe zu finden, die allen stimmig erschien.
Weiterlesen: Silke Helfrich u. a., Commoning. Auftakt einer Mustersprache, 33 Karten; commons.blog.
Haken schlagen wie der Hase, Schnittstellen hüten, Spielräume kreativ ausschöpfen, Regeln unterlaufen, Konventionen unterwandern, Verkleidungen an- und ablegen, temporäre Auswege finden;
ernsthaft, leidenschaftlich, zugewandt, ausgefuchst → spielen; das, was noch nicht ist, vorauslieben; Sinnhaftes von Unsinnigem → unterscheiden;
durch den Regen Bögen sehen.
Es kommt darauf an, welche Gedanken Gedanken denken.
Es kommt darauf an, welche Wissensformen Wissen → wissen. Es kommt darauf an, welche Beziehungen Beziehungen knüpfen.
Es kommt darauf an, welche Welten Welten hervorbringen.
Es kommt darauf an, welche Erzählungen Erzählungen → erzählen.
Weiterlesen: Donna Haraway, Unruhig bleiben, Campus, 2018.
→ trickreich sein; → halbdurchlässig
All die schönen Namen und Nomen in Ehren – aber das, was die Welt zusammenhält und gestaltet, das sind nicht so sehr die Dinge, Sachen und Leute, sondern vor allem die Beziehungen, Tätigkeiten und Prozesse zwischen ihnen.
Das Eigentliche ist ein Tätigkeitswort, kein Substantiv. Wie wäre es, überwiegend lebensdienlich und kleingeschrieben
→ tätig zu sein?
Der Bussard dreht ab, kreischend, kreisend.
Eine Zecke steckt in meiner Kopfhaut. Wenn ich mit dem Bussard segle,
Dann muss ich auch mit der Zecke saugen.
Ach, Hügel meines Tals, was seid ihr kompliziert!
Aus: Ursula K. Le Guin, Immer nach Hause, Carcosa Verlag, Herbst 2023.
→ eingebettet; → frei
»Destruktive Kultur verlernen«, wie die Körperpsychotherapeutin Ilan Stephanie es nennt, bedeutet, ausgediente Muster im → eigenen Denken und Handeln zu erkennen und zu transformieren. Das ist oft schwieriger, als es klingt (→ dranbleiben).
Bedingungslos akzeptieren, dass wir aufeinander angewiesen sind.
Das hat nichts mit Blut zu tun, sondern mit verbindlichen Entscheidungen jenseits patriarchaler Strukturen. Verwandtschaft ist zwischen Menschen, aber auch zwischen Menschen und Nicht-Menschen möglich.
→ durch einander; → verbunden
Ich dachte, wir wären schon weiter. Erdüberhitzung. Massenaussterben. Krieg.
Jahrzehntelange Versuche, es anders zu machen. Scheitern. Fühlen. Weinen.
→ dranbleiben; → hoffen
Eine gewachsene Stadt, ein Körper, eine Landschaft haben keine alleinige Mitte. Mehrere Mitten – Dorfplätze, Organe, Täler – geben lebendigen Organismen eine Struktur, ermöglichen Selbst organisation (→ anarchisch). Viele miteinander verbundene Kreise machen großflächiges → Gemeinschaffen möglich. Anders als beim Nationalstaat, wo sich Macht in einem Zentrum konzen triert, ist in polyzentrischen Systemen – etwa einer Rätestruktur, wie sie in der autonomen nord- und ostsyrischen Region Rojava praktiziert wird – Macht vielmittig verteilt.
Weiterlesen: Elinor Ostrom, Jenseits von Markt und Staat, Reclam, 2022.
→ zyklisch
Wir leben im Kapitalismus. Manchmal wirkt seine Macht unausweichlich – ebenso wie einst das Gottesgnadentum der Könige. Aber Menschen können sich jeder menschlichen Macht widersetzen und können diese verändern. Widerstand und Wandel beginnen oft in der Kunst und sehr oft in dieser Kunst – der Wortkunst.
Aus: Ursula K. Le Guin, Dankesrede. National Book Awards, New York, 2014. ursulakleguin.com
Meine Oma wusste alles über das Einkochen von Marmelade aus → heimischem Obst. In der Schule habe ich gelernt, stillzusitzen und Noten ernstzunehmen. Später habe ich versucht, verinnerlichte Bewertungsmuster wieder zu → verlernen. Es gibt viele verschiedene Formen von Wissen. Genauso wichtig, wie etwas zu wissen, ist es, das Nichtwissen zuzulassen.
Das Verb »sich etwas oder jemandem zueignen« bedeutet etwas völlig anderes, als sich etwas »zu eigen« zu machen oder gar »anzueignen«. Die Welt als eine Ansammlung von Objekten zu betrachten, die bloß dazu da sind, damit miteinander konkurrierende Menschen sich diese unter den Nagel reißen können, degradiert die Welt zur Ware und macht unser Leben – wie gegenwärtig zu beobachten ist – zu einer öden und freudlosen Angelegenheit. Um die Welt hingegen als Organismus aus lauter lebendigen Subjekten erkennen zu können, bedarf es einer Umkehr des Richtungspfeils unseres Sprach- und Eigentumsverständnisses: Aus Aneignung wird Zueignung! Wenn ich mich etwa einer Stadt oder Landschaft zueigne und mich darin als Mitspielende anstatt als Konsumierende erfahre, ist es dann nicht so, dass ich mich in ihre Prozesse hineinbegebe, ohne eine trennscharfe Grenze zwischen »mir« und der Umgebung ziehen zu können? Nicht »ich eigne mir etwas an«, sondern »ich eigne mich etwas zu«. Diese sprachliche Übung wirkt tief ins Tun hinein: Sich Menschen, Tätigkeiten, Orten, ja, der Welt als Gesamtheit zuzueignen, statt sie beherrschen zu wollen und ihr letztlich abhanden zu kommen – das schafft
Verbindung und eröffnet Wege aus der abgetrennten, vereinzelten Existenz ins verbundene (Tätig-)Sein. Die Geste der Zueignung schafft die Voraussetzung für eine Qualität, die wir in Oya erforschen: das »Commonische«. Wie kann ich dieses Zugeeignetsein ausdrücken? Zunächst könnte ich meine Beziehung zur mich unmittelbar umgebenden Landschaft betrachten – zu dem, was ich mit meinen Sinnen und im alltäglichen Geschehen erfassen kann, ganz in der Haltung einer Welt der vielen Mitten. »Mit der Natur in einer Allmende verbunden zu sein […] heißt, eine lebende Landschaft zu sein«, schreibt der Philosoph und Biologe Andreas Weber in seinem Buch »Sein und Teilen«. Das Nachdenken über »Landschaft« führt gewohnheitsmäßig schnell zum Begriff der »Heimat«. Diese als etwas Statisches, als ein Substantiv, darzustellen, das wir ein für allemal »haben« könnten, ist jedoch ein fatales Missverständnis der Moderne. Auch hier ist die Verbform angemessener und menschheitsgeschichtlich zutreffender – es geht nicht ums »Heimat-Haben«, sondern darum, sich an konkreten Orten »zu beheimaten«. Daraus folgen konkrete Fragen: Wie genau werden Menschen im Hier und Jetzt – an ihren jeweiligen Weltmittelpunkten – heimisch, wie eignen sie sich Orten zu, wie werden sie diesen vielleicht sogar »eingeboren«?
Spätestens der eigene Tod hebt die vermeintliche Grenze zwischen dem eigenen Sein und dem, was uns umgibt, auf. Ein Ethnologe, der die Lebensweisen der australischen Aboriginals erforschte, sagte einmal zu dem englischen Schriftsteller Bruce Chatwin, dass wir gewiss sein könnten, mit dem Tod selbst wieder zu Boden, zu Land und vielleicht sogar zu den ihm innewohnenden Ahnleuten zu werden: »Viele Menschen werden im Nachhinein Land und am Ende Ahnen.« Chatwin schrieb in seinem Roman »Traumpfade« weiter: »Die Aboriginals glauben, dass ein unbesungenes Land ein totes Land ist: Denn wenn die Lieder vergessen sind, wird das Land selbst sterben. Zu dulden, dass so etwas geschah, war das schlimmste aller denkbaren Verbrechen.«
Wenn ich mich etwas oder jemandem zueigne, mich hingebe, ohne deshalb meine Individualität zu verlieren, drücke ich damit auch die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen allem Lebendigen – ob Menschen, Flüssen, Felsen, Bäumen oder Kühen – aus. Und wer weiß, vielleicht kann eine solche sich zueignende Geste auch gegenüber Löffeln, Fahrkartenautomaten und auszufüllenden Formularen gelingen.
Gebären, leben, sterben, → kompostieren, gebären – Lebendigkeit ereignet sich in Zyklen.
→ Eingebettet zu leben bedeutet auch, Teil von Kreisläufen zu sein: Träumen – Planen – Handeln – Feiern, Jahreszeiten, Mondphasen, Menstruationszyklen, Tag und Nacht. Diese Rhythmen verbinden menschliche und andere Leute miteinander, mit dem Leben und mit der Tiefe der Zeit.
→ anfangen