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Pflege auf Augenhöhe ist möglich

Trotz ungünstiger Bedingungen für ambulante Pflege sucht das Berliner Unternehmen »Care4Me« nach ­einem menschlichen Weg.von Sebastian Gengenbach, erschienen in Ausgabe #56/2019
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© tina-merkau.de

Uta Kirchner begrüßt mich an der Tür und verschwindet nach kurzem Wortwechsel, um in aller Ruhe Kaffee für unser Gespräch zu kochen. Im Eingangsbereich steht ein großer Tisch, auf dem zahlreiche Flugblätter und Postkarten verschiedener Netzwerke und Organisationen liegen, die zu einem Bewusstseinswandel in der Pflege aufrufen: weniger Bürokratie und Profitorientierung, mehr Menschlichkeit und Qualität. Zu meiner Rechten öffnet sich ein großer, heller Raum. Runde Kissen und eine Kiste voller Spielzeug liegen auf dem Boden. Gerade war eine Gruppe von Kindern zu Besuch und hat den Meditationsraum statt mit der üblichen Ruhe mit Lachen und Spielerei gefüllt, erklärt mir Uta Kirchner, als sie mit dem Kaffee wiederkommt.
Ich bin mit der Geschäftsführerin von »Care4Me« verabredet. Sie scheint zu dieser Stunde die Einzige im Büro zu sein und ist gerade mit den letzten Zügen des Monatsabschlusses beschäftigt. Mit dem von ihr gegründeten, kleinen Unternehmen versucht sie, ambulante Pflege in der Hauptstadt zu etablieren, die den Mitwirkenden Freiheit und Flexibilität ermöglicht und den gepflegten Menschen individuelle Zuwendung.
Die Situation in der Pflegearbeit hierzulande ist bekanntlich schwierig. Die Verdienstmöglichkeiten bewegen sich trotz der körperlich aufreibenden Arbeit auf niedrigem Niveau; 2017 lag der durchschnittliche Bruttomonatslohn in der ambulanten Pflege bei 2546 Euro. Die ambulanten Pflegedienste sind dabei finanziell besonders mager versorgt: Hier wurde im Jahr 2017 im Schnitt 36 Prozent weniger gezahlt als in stationären Einrichtungen. Das wirkt sich selbstverständlich auf die Qualität der Arbeit aus. Dass viele ambulante Pflegedienste profitorientiert wirtschaften möchten, führe dazu, dass sie »die Arbeit so eng takten, dass die Mitarbeiter gehetzt werden«, erklärt Uta Kirchner. Dies werde durch die sogenannten Leistungskomplexe noch verstärkt. Unter Begriffen wie »große Körperpflege« werden dabei Pflegetätigkeiten zusammengefasst, für die in der Abrechnung mit den Pflegekassen feste Vergütungssätze festgelegt sind – unabhängig davon, wie viel Zeit für die Tätigkeiten tatsächlich benötigt wird. Also gilt: Wer schneller arbeitet, kann mehr verdienen. Dass jede Pflegebeziehung einzigartig ist und es nicht nur von der Effizienz der Pflegerinnen und Pfleger abhängt, wie viel Zeit eine Aufgabe in Anspruch nimmt, fällt unter den Tisch. »Sich von den Leistungskomplexen zu verabschieden, würde Jens Spahn nur einen Pinselstrich kosten«, meint Uta Kirchner, nicht ohne Frustration über den gesellschaftlichen und politischen Stellenwert von Pflege in der Stimme. »Es gibt keinen Leistungskomplex ›Spazieren im Grunewald‹, aber vielleicht ist so ein Spaziergang genau das, was ein Mensch zum Gesundbleiben braucht. In der Pflege geht es ja nicht nur darum, bestimmte körperliche Hilfeleistungen zu vollziehen, sondern auf Bedürfnisse einzugehen, die so divers sind wie die Menschen selbst.«

Vorbild aus den Niederlanden
Diesen Missständen Handlungen entgegenzusetzen, hat sich ­Care4Me zum Ziel gemacht. Inspiration für die dort praktizierte Art der Pflege kommt vom niederländischen Modell »Buurt­zorg«, das der Krankenpfleger Jos de Blok 2007 gegründet hat. Er wollte Menschlichkeit vor Bürokratie stellen: Statt Pflege immer wettbewerbsfähiger zu organisieren, fragte er sich, wie es möglich werden könnte, dass professionelle Pflegekräfte bedürftigen Menschen entspannt Zeit widmen können. Die Vor­aussetzung dafür bot eine Struktur kleiner, autark agierender Teams von Pflegekräften, die lediglich durch ein schlank organisiertes Büro und eine moderne Softwarelösung in der bürokratischen Abwicklung unterstützt werden. Sie rechnen keine abstrakten Pflegeeinheiten, sondern tatsächlich geleistete Arbeitsstunden ab. Das Ziel der Buurtzorg-Pflegerinnen und -Pfleger ist ausdrücklich, sich möglichst überflüssig zu machen, indem sie das private Netzwerk eines zu pflegenden Menschen einbeziehen: Gibt es Verwandte oder Nachbarinnen und Nachbarn, die Aufgaben wie das Anziehen oder Frühstückmachen gerne übernehmen? Sie fördern die Selbständigkeit ihrer Klientinnen und Klienten und gewinnen dadurch Zeit, die Aufgaben, die professionelles Pflegewissen voraussetzen, entspannt zu erledigen – und vor allem Zeit für Gespräche. Sorgearbeit verlangt danach, mit Zeit großzügig umzugeben, und genau das bewirkt Effizienz, wie eine Studie aus dem Jahr 2009 zeigt: Buurtzorg-Patientinnen und -Patienten wurden doppelt so schnell aus der Pflege entlassen wie diejenigen anderer Pflegedienste. Über die Jahre hinweg ist Buurtzorg enorm gewachsen: Ende 2018 waren hier über 10 000 Pflegekräfte in rund 900 Teams beschäftigt; sie pflegten gut 110 000 Menschen.
Bei Care4Me lassen sich einige der Charakteristika von ­Buurtzorg wiederfinden. Kirchner, die Gründerin, ist zwar Quereinsteigerin, bringt aber Erfahrung in der Pflege mit: »In meinem Studium der Erziehungswissenschaften war Pflege die einzige Möglichkeit, als alleinerziehende Mutter in Berlin meine Haushaltskasse aufzubessern. Ich habe in diesem Bereich ja sieben Jahre gearbeitet, um mein Studium zu finanzieren. Meine Tage waren bis auf halbe Stunden komplett verplant.« Nach einer Karriere in der Informationstechnik wollte sie etwas Neues aufbauen. »Ich habe mich gefragt, was ich gut kann, was mir Spaß macht, was mich trägt und was gebraucht wird. Mit ambulanter Pflege kannte ich mich aus.«
Sie war zuversichtlich, die Arbeit trotz der schwierigen politischen Situation sinnvoll gestalten zu können. »Es gibt innerhalb der geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen die Möglichkeit, anders zu arbeiten«, erklärt sie. »Das kann jeder Pflegedienst tun. Für mich ist Pflege­arbeit sehr lebendig und lebensbejahend. Ich kann auch gut damit umgehen, wenn jemand weint. Es ist wertvoll, dann dazubleiben, ein Taschentuch zu reichen und – wenn es sich richtig anfühlt – die Person in den Arm zu nehmen und zu versuchen, mit dem Wesen und der Seele dieses Menschen in Kontakt zu kommen.«

Selbständige Teams
Care4Me betreut derzeit knapp 70 Menschen, für die sich 20 Mitarbeiterinnen in einigen Berliner Stadtteilen einsetzen. Vier bis sieben Personen in einem Kiez sind jeweils für einen festen Kreis an Pflegebedürftigen zuständig. Diese kleinen Gruppen suchen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft eigenständig die Menschen, die ihre Dienste in Anspruch nehmen wollen, und organisieren die anfallende Arbeit untereinander selbständig. Sie entscheiden zum Beispiel, mit wem sie zusammen in einem Team agieren wollen, wie viel Zeit sie mit ihren Klientinnen und Klienten verbringen, wer wann welche Schichten übernimmt oder wie der Urlaub geplant wird. Dadurch ergibt sich viel Spielraum und Vereinbarkeit mit diversen Lebensentwürfen.
»Wenn Leute neu bei uns anfangen, erzählen wir nicht nur, wie es bei uns finanziell läuft, sondern wir organisieren auch ein Nachmittagstraining, um den Blick der Mitarbeitenden auf ihre Umgebung zu schärfen. Zum Beispiel schauen wir mit ihnen gemeinsam, wo die Arztpraxen, Kirchen­gemeinden und Supermärkte liegen, die für potenzielle Kundinnen und Kunden von Bedeutung sein dürften. Eigenständig zu überlegen, in welchem Viertel ich mir die Menschen suche, die meine Pflege in Anspruch nehmen wollen, ist wesentlich für selbstgesteuerte Arbeit. Wenn ich zum Beispiel jeden Tag mein Kind in den Kindergarten bringe, kann ich mich in seinem unmittelbaren Umfeld auf die Suche nach Pflege­bedürftigen machen. So arbeite ich dort, wohin mich meine Wege ohnehin führen. Durch das Nachmittagstraining werden die Menschen aufmerksamer dafür, was in ihrem Kiez passiert, und begreifen sich mehr als selbständige Gestalterinnen und Gestalter ihrer Arbeit.«
Care4Me ist ein Einzelunternehmen. Uta Kirchner trägt die finanzielle Verantwortung alleine. In der Anfangszeit war es für sie nicht einfach, sich von Gehaltsvorstellungen, die sie aus der freien Wirtschaft gewohnt war, zu verabschieden. Inzwischen hat sie sich jedoch an niedrige Honorare gewöhnt. Wichtig ist ihr, den Menschen, die Care4Me möglich machen, halbwegs solide Löhne zu zahlen.
Auch wenn Uta das Projekt leitet, ist im Selbstverständnis ­aller Beteiligten verankert, dass die einzelnen Teams in Bezug auf die Arbeitsabläufe selbstgesteuert handeln. Ein »Angestellten­gefühl« kommt deshalb kaum auf. »Das Schönste ist die Begeisterung, mit der die Leute dabei sind«, erzählt Uta Kirchner. »Was die bürokratische Arbeit und die Planung betrifft, sind wir sehr effizient. Selbstverständlich läuft nicht alles reibungslos ab, manchmal quietscht und knarzt es im Gebälk, etwa bei der Schichtplanung innerhalb der Teams. Aber das gehört dazu, wenn Menschen sich auf Augenhöhe miteinander abstimmen.«
So will auch die bei Care4Me geleistete Arbeit selbst gepflegt werden, zum Beispiel in monatlich stattfindenden Meditationsrunden, Fortbildungen und sogenannten »All-Hands«-Zusammentreffen aller Mitarbeitenden mit Diskussion und Reflexion. Auch über Fortbildungen wird gemeinsam entschieden. Transparenz im Finanziellen spielt für Care4Me eine entscheidende Rolle, betont Uta Kirchner: »Alle dürfen die Buchhaltung einsehen. Vieles entscheidet sich anhand der Zahlen – und das verstehen die Mitarbeiterinnen auch. Wenn wir merken, dass Dinge nicht funktionieren, setzen wir uns zusammen und schauen, wie wir es anders machen können. Versuch und Irrtum gehören dazu. So schaffen wir eine Laborsituation, in der wir schrittweise Lösun­gen finden.« Diese Art des Miteinanders soll in Uta Kirchners Wunschvorstellung noch intensiviert werden. »Ich wünsche mir, dass unser Umgang mit uns selbst als Organisation noch mehr den Charakter eines Spiels bekommt – dass wir aus den Themen, die uns aus den Zahlen heraus anspringen, spielerisch mit verschiedenen Methoden zu guten, neuen Entscheidungen finden. Ich möchte, dass alle Beteiligten unser Geschäft wirklich verstehen. Das gehört für mich zum Weg in eine Gemeinwohlökonomie, zu der ich kommen möchte, dazu.«

Angemessene Beziehungen
Was alle stärkt, sind die Erlebnisse mit Menschen, die durch die Zuwendung von Care4Me wieder Lebenslust entwickeln. Mich beeindruckt eine Geschichte über einen älteren Mann, der jahrelang seine unaufgeräumte Wohnung nicht verlassen hatte, weil er durch den Verlust seines Partners seelisch sehr mitgenommen war: »Eine Bezugspflegekraft dieses Herrn hat einen Hund, der wie ein kleines, weißes Wollknäuel aussieht. Der ältere Herr hatte bald einen Narren an dem Tier gefressen und führte es vor die Tür. Inzwischen sagt er: ›Der Hund und die Pflegerin kommen‹ – und nicht mehr andersherum.«
Intensive zwischenmenschliche Beziehungen zu führen, bedeutet auch, dass auf Grenzen geachtet werden muss, um Übergriffigkeit zu vermeiden. Gerade wenn Pflegende sich empathisch auf ihre Patientinnen und Patienten einlassen, könne es schnell passieren, so Kirchner, dass sie in einen zusammenfließenden Prozess hineingehen und sich persönliche Grenzen auflösen. Dann bestehe die Gefahr, dass zum Beispiel Ungelöstes mit dem eigenen »inneren Kind« auf das Gegenüber projiziert wird. Außer­dem muss auch für eine Pflegekraft irgendwann Feierabend sein. Wenn sie am Abend noch zig SMS mit Einkaufswünschen von einer Klientin bekommt, ist es Zeit, das Mobiltelefon auszuschalten und nicht mehr zu reagieren.
Uta Kirchner ist zuversichtlich, dass sich das starre System der deutschen Pflegelandschaft durch ein sich wandelndes Bewusstsein auflockern lassen kann. Ein ständiger Blick in die Niederlande zum Buurtzorg-Modell ergibt in ihren Augen wenig Sinn, da sich die Rahmenbedingungen in Politik und Mentalität unterscheiden. Dennoch zeigt die Buurtzorg-Erfolgsgeschichte, dass sich das Korsett, das derzeit die Möglichkeiten zur Pflege auf Augenhöhe einschnürt, von innen lockern lässt: In den Niederlanden hat sich Buurt­zorg inzwischen aus einer Nischeninitiative zum allgemeinen Vorbild entwickelt. Parallel zu Care4Me pflegt Uta Kirchner noch das Netzwerk »Pflege auf Augenhöhe«, das Hilfestellungen für potenzielle Nachahmerinnen und Nachahmer anbietet. Neugierige können sich hier informieren und von verschiedenen Initiativen inspirieren lassen. »Diejenigen, die uns suchen, finden uns, und es kommen die Richtigen«, meint Uta Kirchner und fügt hinzu, dass endlich gehandelt werden müsse, anstatt stets nur über Probleme zu reden.
Auch wenn ihr Pflegedienst immer noch in den Anfängen steht und gerade in der Berliner Pflegelandschaft leicht übersehen werden kann, stimmt er hoffnungsfroh.

 

Sebastian Gengenbach (24) hat gerade sein Bachelor-Studium in
Geografie abgeschlossen. Er beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen, alternativem Wirtschaften und kritischem Tourismus und ist in diesen Themenfeldern journalistisch aktiv. gengenbach@posteo.de


Nachahmen ausdrücklich erwünscht
www.care4me-berlin.de
www.pflege-auf-augenhoehe.de

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