Titelthema

Kleines Glasperlenspiel

Saskia Kaffenberger lebt seit vielen Jahren mit einem gefundenen Armband.von Saskia Kaffenberger, erschienen in Ausgabe #53/2019
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Kleine Glasperlen, aufgereiht auf einer Gummischnur. Erst jetzt wird mir wieder bewusst, wie lange du mich schon begleitest. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich dich gefunden habe. Es war ein sommerlicher Tag und ich auf dem Nachhauseweg von der Schule. Da lagst du auf dem Gehsteig, mit kleinen, goldfarbenen Perlen. Zu der Zeit gab es überall große Sets solcher Armbänder zu kaufen, deswegen dachte ich nicht, dass dich jemand vermissen würde. Seitdem wohnst du an meinem Handgelenk. ⦁ Nach und nach löste sich die goldene Schicht, und darunter kamen erst einige weiße und dann in unregelmäßigen Abständen auch braune Perlen zu Tage. Ich beobachtete diese Entwicklung erstaunt und interessiert: die Braunen durchsichtig und in leicht unterschiedlichen Farbtönen, die Weißen aus opakem Glas. Braune und weiße Perlen in einen Topf gekippt und mit goldener Farbe bepinselt, wie die rot angemalten Rosen bei Alice. Das Wasser, mit dem alle kochen, hinter ihrer goldenen Maske. Es braucht kein Gold, um zu glänzen. Wabi-Sabi an meinem Handgelenk baumelnd. Beständig erinnerst du mich an diese fernöstlichen Ästhetik-Maximen: »Nichts bleibt, nichts ist abgeschlossen, nichts ist perfekt« und »Beschränke alles auf das Wesentliche, aber entferne nicht die Poesie«. Die Poesie wohnt in den Kratzern, die deine Oberflächenästhetik brechen, unter den aufplatzenden Blasen eines Lackmantels, in der Mauerritze, aus der ein Gänseblümchen sprießt, im Sandkörnchen, das im Getriebe knirscht. ⦁ Im letzten Jahr haben sich bei einer sechsmonatigen Wanderung die einzelnen Fäden des Gummis gelöst, bis er schließlich riss. Als ich es bemerkte, faltete ich dich in ein Stück Papier, wie in ein improvisiertes Samentütchen. So wandertest du mit mir weiter bis zum Ende des Sommers, als ich in meinem Jugendzimmer, in dem kleinen Schrank mit den vielen mit Perlen gefüllten Dosen und Tüten, noch eine Rolle Gummiband fand. Beim erneuten Auffädeln fühlte ich die Individualität jeder einzelnen Perle zwischen den Fingerspitzen. Aus dir ließe sich auch eine grobe Brailleschrift auf Stoff sticken. Die Perlen, die ich mir für frühere Projekte ausgesucht hatte, waren meist möglichst gleichförmig, um sie wie kleinste Legosteine aneinanderweben zu können. Anders bei diesen Perlen – jede eine andere Form, manche rund, manche zylindrisch, manche kugelig, manche schmal, manche schief, und alle nicht größer als ein Salbeisamen. Nun sind es schon sechs oder sieben Jahre, die du, mit kürzeren Unterbrechungen, an meinem Handgelenk wohnst. Was wir schon alles miteinander erlebt haben! ⦁ Es gibt so vieles, was ich dich fragen möchte: Erinnerst du dich an den Quarzsand, der du einst warst? Was würdest du den anderen Sandkörnern erzählen, wenn du, oder ihr?! – nach dem erneuten Auffädeln glaube ich, du bist tatsächlich viele –, wenn also ihr euch wieder an jenem Strand befinden würdet? Wer hat euch als Sand gesammelt? Wer hat euch zu Glas verarbeitet? Wer hat euch zur industriellen Reinkarnation als Glasperle verholfen? Wer hat euch in Gold getaucht? Wer hat euch verkauft? Und wer verloren? Wie weit seid ihr schon gereist? Wo genau kam euer Quarzsand her? Wo das Soda, die Pottasche und die anderen Stoffe aus der lebendigen Erde, aus denen ihr fabriziert wurdet? Enthaltet ihr ehemalige Milchflaschen, Reagenz-, Cocktail- oder Marmeladengläser? Und wirken sich diese Vorexistenzen auf euer Wesen aus? Fragen über Fragen, doch von euch ertönt nur ein ganz leises, raschelndes Klirren, wenn ich mein Handgelenk bewege oder in einer angespannten Situation mit euch Gummifadenspiele zwischen meinen Fingern spinne. In endlosen Schulstunden habe ich aus euch unterschiedliche Ring- und Armbandvariationen um meine Hände gewunden und mich durch euch zu Farbkombinationen für neue Projekte inspirieren lassen. In anderen Situationen habt ihr mich daran erinnert, dass das Auffädeln von Glasperlen zu kleinen, komplexen Gebilden in einer schwierigen Zeit ein wichtiger Anker für mich war. – War eure Antwort an mich vielleicht einfach dies: dass ihr mir gutgetan habt, als ich euch brauchte? ⦁ Jetzt liege ich auf dem Bauch in der Sonne, mein Kopf liegt auf meinen Händen, die Vögel zwitschern, der Duft von blühenden Pflaumen zieht an mir vorbei, und ihr drückt mir euer Punktmuster in den Arm und in meine Wange. Ich denke an all die Geschichten, die mich mit euch verbinden. Wie lange wir wohl noch gemeinsame Wege gehen werden?


Saskia Kaffenberger (24) interessiert, wie Netzwerke untereinander verbunden sind. Sie erforscht Lernräume zwischen der Wanderuni und dem Studium der visuellen Kommunikation in Kassel.

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