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Nicht über unsere Köpfe (Buchbesprechung)

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Der promovierte Mathematiker und Physiker Erich Visotschnig betreibt seit 1979 Forschungen aus systemanalytischer Sicht über machtfreie Strukturen. Aus dieser Arbeit heraus entwickelte er die Entscheidungs­findungs-Methode des Systemischen Konsensierens (SK), dessen politische ­Umsetzung er in seinem Buch »Nicht über unsere Köpfe« skizziert.
Viele Menschen fragen sich derzeit, ob die Demokratie am Ende ist. Aus der Sicht des Autors ist sie das keineswegs, sie arbeite nur mit den falschen Mitteln. Visotschnig geht von hohen ethischen Werten aus: »Die Achtung vor einem Menschen erfordert Achtung vor seiner Entscheidungsfreiheit.« In seinem Buch stellt er ein alternatives System für kollektive Entscheidungsprozesse vor. Das dem Systemischen Konsensieren zugrundeliegende Prinzip bedeutet im Kern: Entscheidungen sollen die bestmögliche Erfüllung der Bedürfnisse der Beteiligten unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit ermöglichen. Es gilt daher jener Vorschlag als angenommen, der in der gesamten Gruppe die geringste Ablehnung erzeugt. Die Praxis zeigt, dass dieses Vorgehen das Konfliktpotenzial minimiert und eine möglichst reibungslose Umsetzung unterstützt.
Der Autor schlägt nun vor, ein öffentliches Konsensierungssystem für politische Entscheide einzurichten. Die gesamte Bevölkerung wäre teilnahmeberechtigt, alle Individuen hätten gleiches Stimmgewicht. Bestenfalls entstehe dabei »eine neue demokratische Kultur, in der nicht länger Großkonzerne und kapitalstarke Interessensgruppen das Sagen haben, sondern Bürgerinnen und Bürger.« Zu den Vorzügen seiner Methode zählt: Jeder Mensch kann sein Entscheidungsrecht ohne bürokratische Hürden ausüben. Er kann dieses Recht persönlich in Anspruch nehmen oder an eine Person seines Vertrauens delegieren. Wenn er sein Recht nicht in Anspruch nimmt, geht seine Stimme automatisch an den von ihm gewählten Abgeordneten über. Heute stehen die technischen Mittel für eine solche unmittelbare Beteiligung der Bevölkerung zur Verfügung. Weil es die Vielfalt dieser Welt abbildet, ist das Systemische Konsensieren vermutlich ein geeignetes demokratisches Verfahren. Die kollektive Intelligenz der Bevölkerung kann dabei zum Tragen kommen, und es werden nachhaltige Entscheidungen getroffen, hinter denen alle stehen können.
Trotz einiger Bedenken, ob das Prinzip tatsächlich auch im großen Maßstab praktisch umsetzbar ist, denke ich, dass die Zeit für diesen wertvollen Ansatz reif ist. Der im Buch eingeschlagene, eher theoretische Ansatz einer Argumentationssammlung von Hypothesen und Antworten erscheint mir allerdings etwas schmal. Wir sollten noch weiter denken. Ja, wir brauchen mehr Mitbestimmung – aber auch mehr soziale und emotionale Kompetenz! Es gibt eine Reihe von Methoden, wie gewaltfreie Kommunikation, »Deep Democracy« oder Soziokratie, die eine partizipative Gesellschaftsgestaltung unterstützen. Das Systemische Konsensieren ist lediglich eine davon.
Alles steht und fällt mit der gemeinsamen Vision und politischen Willensbildung vieler Menschen für eine demokratische Erneuerung. Da ist es gut, auf systemisch durchdachte Methoden zugreifen zu können. Danke, dass Visotschnig schon so weit visioniert hat und zum Weiterdenken anregt!


Nicht über unsere Köpfe
Wie ein neues Wahlsystem die Demokratie retten kann.
Erich Visotschnig
oekom, 2018, 196 Seiten
ISBN 978-3962380212
20,00 Euro
www.nicht-ueber-unsere-koepfe.eu

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