Titelthema

Durch Wohnen Gemeinwerte schaffen

Oya-Redakteur Dieter Halbach sprach mit Angelika Drescher, David Scheller und Federico Tomasone über ihre Erfahrungen beim Versuch, Wohnräume zu gemeinschaftlichen Räumen werden zu lassen.von Dieter Halbach, David Scheller, Federico Tomasone, Angelika Drescher, erschienen in Ausgabe #20/2013
Photo

Dieter Halbach Wir sitzen im Projektraum von M29, einem neuen gemeinschaftlichen Wohnprojekt im Berliner Kiez Prenzlauer Berg, und mit dabei ist die Spreefeld–Genossenschaft, die am Spreeufer neue kreative Räume entstehen lässt. Bei aller Verschiedenheit habt ihr eines gemeinsam: Ihr möchtet über den Tellerrand eurer Wohnprojekte hinaus wirken. M29 formuliert es so: »Das Haus soll nicht nur ein Ort von schönerem, gemeinschaftlichen Wohnen sein.« Wie könnt ihr dieses »Mehr«, das ihr sein wollt, beschreiben?

David Scheller Schon mit Beginn des Planungsprozesses war uns klar, dass wir mit M29 nicht nur Privaträume schaffen wollen, um zusammen zu wohnen und so eine geschlossene Einheit zu bilden, die sich der Welt drumherum entzieht. Wir wollten mit unserem Projekt der Stadt einen Raum abtrotzen, den wir anderen für nicht-kommerzielle Nutzungen zur Verfügung stellen – einen Freiraum für Dialog und Begegnung, den wir gemeinsam über unsere Mieten finanzieren und der ohne Bezahlung für lokale, kulturelle und politische Initiativen offensteht.

DH Ein weiterer Beitrag zur Wohnraumdebatte gerade hier im boomenden Prenzelberg scheinen mir eure sensationell günstigen Mieten zu sein.

DS Ja, es ist für uns auch ein politisches Zeichen, wenn unsere Baukosten bei der Hälfte des bisher als machbar Behaupteten liegen. Das liegt daran, dass wir als Kollektivhaus, das dauerhaft dem Markt entzogen ist, keinen Mehrwert, sondern nur einen Gebrauchswert produzieren müssen. Da kann man andere Prämissen setzen: Wir haben bewusst auf Luxus verzichtet, haben kleine Privaträume und dafür große Gemeinschaftsräume.

Angelika Drescher Wir sind dabei, mit der Spreefeld-Genossenschat drei große Gebäude am Ufer der Spree zu bauen, in denen etwa 150 Menschen wohnen, arbeiten und kulturkreativ tätig sein werden. Das Spannende am gemeinschaftlichen Wohnen für uns ist, dass man gemeinsam genutzten Raum nicht zusätzlich zur eigenen Wohnung quasi als Luxusgut noch oben drauf setzt, sondern dass jeder durch anteilige Finanzierung Wohnraumqualitäten schafft, die allein nie machbar wären. Je mehr Menschen sich einen Gemeinschaftsraum teilen, desto größer kann dieser sein. Während im Prozess der Zusammenfindung unserer Wohngemeinschaft das Vertrauen untereinander weiter gewachsen ist, konnte der geplante private Rückzugsraum zugunsten eines möglichst großen Gemeinschaftsraums etwas schrumpfen. Die Größe der Spree-WG entspringt dieser »Formel«, so dass wir jetzt mit 20 Personen einen gemeinsamen Nutzungsvertrag für 800 Quadratmeter über zwei Etagen innerhalb der Spreefeld-Genossenschaft haben. Wir leisten uns einen großen Gemeinschaftsraum, Terrassen und einen großzügigen Flur. Das Verhältnis ist für jeden Teilnehmer 43 Prozent gemeinschaftlicher Raum und 57 Prozent Privatraum. Ich zahle beispielsweise Miete für 65 Quadratmeter, benutze davon mit meinen beiden Kindern 48 für unsere privaten Zimmer, aber insgesamt bewohnen wir 200 Quadratmeter innerhalb der Wohngemeinschaft, und dazu kommen die projektübergreifenden Gemeinschaftsnutzungen. Das ist doch ein erstaunlicher Effekt!

DH Neben den ökonomischen Vorteilen steht die Herausforderung, in solchen Projekten auch im Leben eine Balance zwischen deinen persönlichen und gemeinschaftlichen Bedürfnissen zu finden. Wie ist das bei M29 organisiert?
Federico Tomasone Unsere Gemeinschaftsräume sind die Küchen. Es gibt also keine Kochgelegenheiten in den einzelnen Zimmern. Eine große vegetarische Nichtraucherküche ist das Zentrum der Gemeinschaft. Außerdem gibt es eine Raucher- und eine Fleischesserküche für die besonderen Bedürfnisse. Dorthin kann man sich auch mal mit Besuchern zurückziehen.

DH Kommt ihr gut mit dieser kollektiven Struktur zurecht, oder hat die Wirklichkeit auch schon mal an den Idealen gekratzt.

FT Momentan genießen wir noch die Euphorie der ersten Zeit. Wir sind ja erst ein paar Monate hier und haben noch so viel zu tun.

DS Viel von dem, was wir uns theoretisch überlegt haben, funktio­niert. Ich bin immer wieder überrascht, dass wir wirklich so gut zusammen wohnen können, wo wir doch vorher nur geplant haben.

DH In der Spreefeld-Genossenschaft habt ihr den gemeinsamen Planungsprozess als Trainingsort für Gemeinschaftsbildung verstanden. Angelika, du selbst bist in einer Person sowohl private Bewohnerin als auch professionelle Planerin, Trainerin und Vorstand. Wie hast du diesen Prozess erlebt?

AD Als »Trainerin« müsste ich ja »vorturnen« können, das hab ich bisher nicht versucht. Aber ich bringe prozesssteuernd meine Erfahrungen aus anderen Projekten und Zusammenhängen ein. Wir haben ein sehr verschachteltes Modell. Das fängt an mit Privatzimmern, Familienbereich in herkömmlicher Wohnung oder im WG-Zusammenhang. Projektübergreifend gibt es genossenschaftliche Gemeinschaftsräume für unterschiedliche Nutzergruppen, dann schafft die Genossenschaft im Sockelgeschoß urbane Infrastruktur, die eine Verbindung zum Kiez herstellen und Angebote für Nicht-Genossenschaftler schaffen wird. Schließlich haben wir auf dem direkt an die Spree grenzenden Grundstück Außenräume, die in unterschiedlicher Abstufung der Öffentlichkeit gewidmet sind, also auch Gemeingut werden, das die ganze Stadt nutzt – den Uferweg und den Zugang zur Spree.
Seit Beginn des Planungsprozesses arbeiten wir daran, dass zukünftige Bewohner diese Außenräume grundsätzlich offenhalten. Das ist nur möglich, wenn unter der Bewohnerschaft ein entsprechendes Verständnis vorhanden ist, und es braucht Strukturen, die unabhängig von Einzelpersonen Dauerhaftigkeit gewährleisten. Um offen zu sein für Neues, schaffen wir sogenannte Optionsräume in den Erdgeschoßen. Sie werden nicht fertiggebaut, nicht gestaltet und nicht beplant und fungieren auch als Schnittstellen zur Öffentlichkeit. Zur Zeit entsteht als Idee einer ersten Nutzung gerade ein Konzept für ein Genossenschaftscafé.

DH War denn der starke gemeinschaftliche Charakter des Wohnens von Anfang an Konsens?

AD Schon, aber die Intensität hat sich erst im Lauf der Zeit so entwickelt. Wir sind jetzt eine Gruppe von rund 60 Personen. Anfangs haben zehn Menschen als Grundstückskäufer-Kerngruppe die Projektgrundlagen entwickelt und die wesentlichen Ziele in einem »Regelwerk« festgehalten, bevor sich dann die Gruppe in eine Genossenschaft umgewandelt hat, um sehr schnell wachsen zu können. Damit hat sich auch der Entscheiderkreis vergrößert. Bei uns gilt das Prinzip: ein Mitglied, eine Stimme – eine kleine ­Demokratie. Wir üben, und jeder kann sich einbringen. Je näher der Einzugs­termin rückt, desto aktiver werden die Leute.

DH Ihr bezeichnet diese öffentlich zugängigen Optionsräume und die Außenräume auch als »an der Grenze zum Experiment«. Worin besteht denn das Wagnis? Wie schützt ihr euch vor den sogenannten Trittbrettfahrern, die sich solche Räume nicht verantwortlich aneignen, sondern sie nur benutzen wollen? Wie entsteht eine Beziehungskultur zwischen euch und den Menschen, die dem öffentlichen Raum ein Gesicht gibt?

FT Wir haben letzte Woche dafür ein positives Beispiel erlebt: Eine externe Gruppe hatte die M29-Räume genutzt, und wir haben die Leute gefragt, ob sie beim Ausbau mithelfen wollen. Sie kamen für zwei Tage und haben hier gearbeitet – einfach für eine Gestaltung dieses Projektraums, ohne dafür etwas bekommen zu wollen. Der Raum gehört eben auch ihnen, obwohl er kein Eigentum ist. Dieses Gefühl entsteht durch ein gemeinsames Ziel.

DH Bevor jemand zu M29 stößt – lernt ihr euch vorher kennen, wählt ihr die Leute aus?

DS Das erste und wichtigste ist eben die Kommunikation. Die erste Grenze, die den Zugang regelt, besteht darin, mit uns ins Gespräch zu kommen. Es gibt auch Ausschlusskriterien, zum Beispiel wenn eine Gruppe von ihrem Grundkonsens her nicht passt oder den Raum kommerziell nutzen möchte. Meistens aber erleben wir Dankbarkeit dafür, dass es den Raum überhaupt gibt. So entsteht ein sehr sensibler Umgang mit ihm. Noch haben wir die organisatorischen Fäden in der Hand, aber wir wollen sie vermehrt an einen Nutzerkreis abgeben, der sich entsprechend einbringen möchte.

DH Ist es ab einer bestimmten Größe eines Kollektivs, also hier des eher heterogenen Nutzerkreises, nicht auch notwendig, dass es verantwortliche Personen wie einen oder einige Hüter des Raums gibt?

AD Wäre das dann so eine Art Hausmeister?

DH Das vielleicht gerade nicht. Es erfordert meiner Erfahrung nach eine bestimmte menschliche Qualität, nicht zu einem »Hausmeister« zu werden, der mit Hausschlüsseln rasselt und versucht, dem Ort seinen Stempel aufzudrücken, sondern als Kommunikator und Koordinator der Gemeinschaft und dem Ort zu dienen.

AD So ein Platzhüter kann schnell zu einem kleinen König werden. Was macht man dann als Gemeinschaft?

DH Während der König dominiert und der Hausmeister verwaltet, ist es die Aufgabe eines Hüters, den Ort für andere zu öffnen. Wenn er das nicht im Sinn der Gemeinschaft tut, wird sich die Gemeinschaft jemand anderen suchen.

DS Wir haben uns ganz klar gegen feste, dauerhaft zuständige Personen entschieden und ein Rotationsprinzip eingeführt. Die organisatorische Basis bildet auch hier das Konsensprinzip, das wir aus unserem ganzen Planungsprozess übernommen haben. Bei festen Rollen kann sich Macht konzentrieren, schlimmstenfalls kommt eine Art Blockwartstimmung auf.

AD In den Freiflächen am Spreeufer haben wir mit einem Hütermodell schon sehr positive Erfahrungen machen können. Anstatt einen Zaun dort zu ziehen – es ist ja ein Privatgrundstück, und wir haften auch, wenn dort etwas passiert – sind fünf Pächter, die unentgeltlich bestimmte Flächen nutzen dürfen, dort am Ufer präsent. Für sie gilt als Regel, dass sie den Ort für alle nutzbar und zugänglich halten, selbstverantwortlich handeln und sich mit den anderen Pächtern absprechen. Einer macht eine Sauna, einer hat eine Jurte stehen und bietet dort einen Begegnungsraum an, es gibt eine offene Gartenlaube. Inzwischen hat sich ein Guerilla-Gärtner aus der Umgebung dazugesellt. Sein Motto ist: »Die Punks brauchen doch auch etwas zu essen!« So gehen eine Menge Leute durch diesen Raum. Es entwickelt sich eine Eigendynamik dadurch, dass die Pächter Verantwortung übernehmen. Meiner Erfahrung nach funktioniert es nur dann, wenn sie auch weitestgehend frei entscheiden können, was sie dort machen wollen. Es ist wie eine langsame Einübung, die volle Verantwortung für sein Tun zu übernehmen.

DH So ist auch, was vorher öffentlicher Raum war, für die Spaziergänger zu einem gemeinschaftlichen Raum geworden. Sie können sich in Beziehung zu jemandem setzen, der dort etwas gestaltet hat.

AD Ja, es ist toll, zu erleben, dass der Streifen, den wir offen lassen, nicht vermüllt. Es verbreitet sich dort eine neue Haltung zu diesem Raum. Normalerweise verwaltet ja die Stadt einen Park und setzt die Regeln fest. Wenn ich aber als Bürgerin mir einen Park aneigne, bin ich für den Park mitverantwortlich. So etwas üben wir nur nie, weil die Stadt uns das abnimmt.

DH Bei der M29 gibt es auch eine Art Hütermodell, was das kollektive Eigentum betrifft. Ihr seid ein Projekt des Mietshäuser Syndikats, das mittlerweile bundesweit fast hundert Häuser in Selbstverwaltung umfasst. Dabei übernimmt das Syndikat eine Wächterfunktion, indem es als zweiter Miteigentümer eures Hauses eine Reprivatisierung auch auf lange Sicht unmöglich macht. Erlebt ihr das eher als Kontrolle oder als Unterstützung?

DS Das Mietshäuser Syndikat ist ein gemeinsamer Verein aller Häuser und ihrer Unterstützer mit dem Ziel der Neutralisierung des Hauseigentums. Als Wächter tritt der Verein nur auf, wenn es um den möglichen Verkauf eines Hauses geht. Da hat das Syndikat ein Vetorecht als Miteigentümer in der Satzung unserer GmbH. Diese Sicherheit finde ich sehr entspannend. Eine Einmischung in unsere internen Angelegenheiten findet aber nicht statt. Es gibt Regionalberatungen, die bei der Planung der Finanzierung und Aneignung des Hauses behilflich sind. So haben wir, wie viele Häuser des Syndikats, unser Haus durch Direktkredite aus einem breiten Netzwerk aus Unterstützern ohne einzelne große Kredit­geber finanzieren können. Eine Regel für alle Projekte ist auch die gegenseitige Unterstützung durch Einzahlung in einen Solidarfonds für neue Projekte. Die Autonomie der Häuser steht aber über allem.

DH Am Anfang habe ich nach euren Ansprüchen gefragt, die über das Wohnen hinausgehen. Jetzt frage ich zum Abschluss: Was ist für euch das Schöne am gemeinsamen Wohnen?

AD Die große Vielfalt, dass ich etwas mitnutzen kann, das ich aus eigener Kraft allein nicht ins Leben rufen könnte. Es ist schön, zu erleben, wie ich und andere Beteiligte konkreter begreifen, welches Potenzial in gemeinschaftlichen Strukturen liegt.

FT Für mich ist es das Schönste, zu zeigen, dass das Gegenteil von Individualismus stimmiger ist. Du hast immer Kontakte zu anderen Menschen. Man kann so auch viel mehr in der Gesellschaft bewirken, ist nicht mehr so verloren.

DS Es ist die Erfahrung, dass eine Solidargemeinschaft funktionieren kann. Und dass wir ein Statement in der Stadt setzen können.

AD Am Spreeufer haben wir die »Stunde der Wahrheit« noch vor uns: Als Relikt aus der Projekthistorie gibt es in unserer Satzung die Regelung, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt jeder Genosse seine Wohnung auch kaufen kann. Ich habe da aber angesichts der guten Entwicklung des Gemeinschaftsgeists deswegen keine Angst.

DS Da bin ich doch sehr froh, dass bei uns Reprivatisierungsoptio­nen klar ausgeschlossen sind. Mit dem Syndikat haben wir so von vornherein solcherlei potenzielle Spannungen vermieden.

DH Spätestens zur Stunde der Wahrheit – ob mit oder ohne Eigentum – sollten wir uns wiedersehen, denn das interessiert mich und viele Leser natürlich sehr. Viel Erfolg für eure Projekte, und vielen Dank für das gemeinschaftliche Forschen in diesem Gespräch. •


Angelika Drescher (44) ist Architektin und Prozessbegleiterin im Planungsbüro »Zusammenarbeiter« und zudem Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Sie ist Vorstandsmitglied der ­Spreefeld-Genossenschaft.
www.zusammenarbeiter.de
www.spreefeldberlin.de

David Scheller (33) ist ein Soziologe, Musiker und Mitbegründer des Hausprojekts M29. Derzeit arbeitet er an einem Forschungsprojekt zu Recht-auf-Stadt-Initiativen in Berlin und New York City, mit dem er 2012 promoviert.
http://davidscheller.cultdoc.uni-giessen.de/gcsc

Federico Tomasone (29) ist Politologe, studierte in Padua und Berlin und lebt heute im Hausprojekt M29.
www.hausprojekt-m29.org

 

weitere Artikel aus Ausgabe #20

Photo
Regional- & Stadtentwicklungvon Kosha Anja Joubert

Ein guter Weg für Afrika

Im Senegal plant die Regierung, 14 000 Dörfer durch die Umwandlung in Ökodörfer zukunfts­fähig zu machen.

Photo
Gemeingütervon Alex Capistran

Die Lust an der Last

Konstruktionspläne findet man lizenzfrei im Internet, das Wissen über ihren Bau wird großzügig weiterge­geben, die Ausgangsmaterialien stehen in der Stadt ­herum, und wenn sie fertig sind, werden sie gemeinschaftlich genutzt: Solche Lastenfahrräder werden zu echten Commons.

Photo
Gemeingütervon Johanna Treblin

Kollektive Freiheit

Die Kooperative Cecosesola in ­Venezuela sieht sich am Anfang einer langen Transformation.

Ausgabe #20
Commoning

Cover OYA-Ausgabe 20
Neuigkeiten aus der Redaktion