Gesundheit

Systeme der ­Heilung

Beate Küppers sprach mit dem Ethnologen Florian Rubner über die Möglichkeiten ­einer Begegnung von traditioneller und ­moderner Heilkunde.von Beate Küppers, Florian Rubner, erschienen in Ausgabe #17/2012
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© privat

Florian, was verstehst du unter dem Begriff »Ethnomedizin«?

Die Ethnomedizin oder Medizinethnologie ist eine wissenschaftliche Methode, dem Heilwissen fremder Kulturen zu begegnen. Dabei geht es primär nicht um Heilmittel, die bei anderen Völkern angewendet werden, sondern vielmehr darum, andere Perspektiven ernstzunehmen und als bedeutsam anzuerkennen. Schließlich werden 80 Prozent der Weltbevölkerung bis heute durch verschiedenste Formen von traditioneller Medizin versorgt, die eng mit der Geschichte und Kultur der jeweiligen Region verbunden sind. Auch unsere eigene Medizin ist keine exakte Naturwissenschaft, sondern Teil eines kulturellen und sozialen Systems. Die Ethnomedizin untersucht, wie in verschiedenen Kulturen mit Gesundheit, Krankheit und Heilung umgegangen wird. Sie erstreckt sich aber eben auch auf die eigene Kultur. Wer in der Fremde hinter die Kulissen schaut, beginnt dies spätestens bei seiner Rückkehr auch in der eigenen Kultur und in ihrer Geschichte zu tun.

Also hat sich die Sichtweise von Gesundheit und Krankheit auch im Lauf unserer europäischen Geschichte verändert?

Ja, aus moderner, biomedizinischer Sicht beschreibt Gesundheit beispielsweise einen Zustand, in dem keine pathologischen Veränderungen nachgewiesen werden können. Der griechische Arzt Hippokrates dagegen, der ja als Vater der abendländischen Medizin gilt, verstand Gesundheit als Gleichgewicht von Körpersäften wie Blut, Schleim und Galle, Krankheit hingegen als eine Störung des Säftegleichgewichts durch Umweltfaktoren, Lebensweise und Ernährung. Paracelus sah den Menschen als einen Mikrokosmos und setzte diesen analog zum Makrokosmos. Er beschrieb Gesundheit als Wechselbeziehung zwischen Schöpfer und Schöpfung.
Erst im Zeitalter der Aufklärung wurde zwischen der Welt der Dinge und der Welt des Geistes unterschieden. Der Philosoph René Descartes verglich den Körper des Menschen mit einem Uhrwerk bzw. mit einer perfekten Maschine. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, wurden Krankheiten als Störungsprozesse gesehen.

Dieses Verständnis von Körper und Krankheit hat sich ja bis heute gehalten.

Durch die großen naturwissenschaftlichen Fortschritte um 1900 wurde es sogar möglich, diese Störungen zu klassifizieren. Krankheiten entstehen demnach durch Viren oder Bakterien, durch mechanische Überlastung oder durch Gifte. In der westlichen Medizin steht also das erkrankte Organ im Mittelpunkt. Bei der Betrachtung unterschiedlicher Medizinsysteme stellt sich die spannende Frage: In  welchem Verhältnis steht die Gesundheit zur Krankheit – eher als Gegensatz oder als Kontinuum bzw. als dynamisches Gleichgewicht?
Die Traditionelle Chinesische Medizin zum Beispiel hat ihre Wurzeln in den naturphilosophischen Vorstellungen des Daoismus. Dort wird das harmonische Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der natürlichen Welt betont. Der Mensch gilt als ein Miniatur-Universum. Ähnlich wie Flüsse das Land durchziehen, so verlaufen Energiebahnen, die Meridiane, über den Körper und versorgen ihn mit der Lebensenergie Qi. Über Akupunkturpunkte auf den Meridianen lassen sich die Energieflüsse beeinflussen und regulieren.

Die Akupunktur findet auch in der westlichen Schulmedizin mittlerweile Anwendung. Warum wird gerade diese Methode von den Krankenkassen anerkannt?

Bei der Untersuchung von Behandlungstechniken aus anderen Kulturen stellt sich das Problem, die Belange der besonderen Medizinrichtung zu berücksichtigen und gleichzeitig einen wiederholbaren Wirksamkeitsnachweis zu erstellen. Da die Akupunktur besonders in der Schmerztherapie viel Zulauf erfährt, finanzierten deutsche Krankenkassen einen Modellversuch. Dabei wurde belegt, dass durch die Akupunktur Botenstoffe im Rückenmark und im Gehirn freigesetzt werden, die schmerzstillend wirken. Auch die weltweit größte Studie zur Wirksamkeit der Akupunktur ergab, dass diese Technik Kopf-, Kreuz- und Knieschmerzen deutlich besser lindert als eine Standardtherapie. Dadurch wurde die Akupunktur bei Rückenproblemen und chronischen Gelenkschmerzen Teil der Kassenleistung.

Ist eine wirkliche Integration verschiedener medizinischer Sichtweisen und Kulturen überhaupt möglich?

Es ist sehr schwierig und langwierig, Heilmethoden in andere Kulturen zu importieren. Dafür müssen sie genau erforscht und an die jeweilige kulturelle Realität angepasst werden. In der Ethnomedizin geht es vielmehr um die Bereitschaft, fremde Ansätze zu verstehen und Akzeptanz für unterschiedliche Erklärungsmodelle und Therapien zu entwickeln. Erst dann können wir das eigene Modell reflektieren und einzelne Aspekte darin optimieren. Therapieverfahren, die uns vielleicht fremd sind, integrieren sehr viele Ebenen der Heilung. Es wird auf körperlicher Ebene geheilt, es wird auf sozialer Ebene etwas ins Gleichgewicht gebracht und auf psychischer Ebene etwas verändert. In der modernen psychosomatischen Medizin gibt es einen »bio-psycho-sozialen« Ansatz. Dabei steht der Mensch mit seiner Geschichte und seinem persönlichen Lebenszusammenhang im Mittelpunkt der Behandlung. Hier besteht die Möglichkeit für gemeinsame Schnittstellen und Ergänzungen.

Und umgekehrt? Wie gelingt es Heilkundigen aus anderen Kulturen, mit den Möglichkeiten und Grenzen der westlichen Medizin umzugehen?

Indigene Heilkundige können in der Regel sehr gut abschätzen, ob sie mit ihrer Medizin helfen können oder nicht. Es gibt kulturgebundene Krankheiten, wie zum Beispiel »mal de ojo« (Böser Blick), »susto« (Schrecken) oder »mal de viento« (Krankheit des Windes), die nicht mit der westlichen Medizin behandelt werden können.
In anderen Fällen rät der Heiler, sich schulmedizinisch behandeln zu lassen. Wenn allerdings im Dschungel oder in den Bergen die nächste Krankenstation nur mit einem längeren Fußmarsch, einem Boot oder Auto erreichbar ist, bleibt den Hilfesuchenden oft nichts anderes übrig, als die traditionelle Medizin in Anspruch zu nehmen. Die Wahlmöglichkeit zwischen verschiedenen Behandlungsmethoden, die wir als selbstverständlich nehmen, ist auch eine Form von Luxus.

Was sind die Ziele und Aktivitäten des Instituts für Ethnomedizin? Und was ist deine Aufgabe dabei?

Das Institut für Ethnomedizin ist ein wissenschaftlicher und als gemeinnützig anerkannter Verein. Ziel ist es, neue Wege für eine ganzheitliche Gesundheit und Heilung zu finden – sowohl in traditionellen Kulturen als auch in modernen Gesellschaften. Wir wollen einen Rahmen bieten, der einen unvoreingenommenen Dialog und eine Annäherung auf Augenhöhe ermöglicht. Dazu haben wir in den letzten Jahren einige internationale Konferenzen in München veranstaltet; wir bieten auch Seminare zum Thema Ethnomedizin an. Alle Teilnehmer und Referenten sind eingeladen, sich am Aufbau eines Netzwerks zum wissenschaftlichen Austausch und zur Förderung der interdisziplinären Zusammenarbeit zu beteiligen. Eine Fortbildung, die ich seit beinahe zehn Jahren leite, richtet sich an Studenten der Ethnologie, Medizin und anderer Fächer, die später in einen therapeutischen oder gesundheitsvorsorgenden Beruf münden. Insbesondere Medizinstudenten können sich dabei dem Thema nähern, ohne belächelt zu werden. Die Ethnomedizin beschäftigt sich ja nicht nur mit exotisch anmutenden Themen wie Schamanismus, sondern sie behandelt allgemein unterschiedliche Formen der Medizin.

Was sind die Inhalte dieser Studentenfortbildung, und welche Möglichkeiten eröffnet ein Abschluss den Teilnehmenden?

Wir möchten einen neuen Blickwinkel auf das Thema Gesundheit und Heilung eröffnen und eine Brücke zwischen dem westlichen und anderen Medizinsystemen schlagen.
Die Seminare haben drei Schwerpunkte: »Ethnomedizinische Grundlagen« bieten einen groben Überblick über verschiedene Konzepte des Menschseins. Je nach Menschen- und Weltbild variiert auch die Deutung von Wohl- und Missbefinden. Erst das Verstehen von fremdkulturellen Betrachtungsweisen verändert die Wahrnehmung und schärft den Blick für die Besonderheiten traditioneller Heilverfahren.
Im Element »Systeme der Heilung« geht es um Definitionen von Gesundheit, Krankheit und Heilung in bestimmten Traditionen. Dabei werden Möglichkeiten und Grenzen einer Integration von alternativen Ansätzen diskutiert. Auch die Klärung der eigenen Werte, aus denen sich die Beurteilung von Situationen oder Patienten herleitet, ist essenziell – ganz unabhängig von einer bestimmten Heilmethode.
In der sogenannten Heilerwerkstatt werden Spezialisten verschiedener Heiltraditionen eingeladen, die den Teilnehmern Einblicke in ihr Wissen, ihren kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund sowie ihre Arbeitsweise gewähren. Die Fortbildung soll jungen Menschen ermöglichen, den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern, um schon während des Studiums die Weichen für eine weitere berufliche Ausrichtung zu stellen. Auf einer soliden Basis von Wissen, Erfahrung und Selbstreflexion können sich therapeutische und beratende Kompetenzen optimal entfalten.

Was bereichert dich persönlich an dieser Arbeit am meisten?

Ich sehe mich als Brückenbauer zwischen den Kulturen. Ein mir wichtiges Anliegen ist die interkulturelle Kompetenz innerhalb der Gesundheitsversorgung. Beim Aufeinandertreffen unterschiedlicher Kulturen kann es besonders auch in diesem Bereich zu Missverständnissen kommen. Wir Mitteleuropäer haben zum Beispiel gelernt, den empfundenen Schmerz genau zu lokalisieren. Der Arzt kann daraufhin eine Diagnose stellen und eine Behandlung in die Wege leiten. Menschen mit Migrationshintergrund äußern ihren Schmerz in einer anderen Form. Wenn zum Beispiel ein türkischer Patient mitteilt, dass seine »Leber brennt« oder »im Magen ein Stein liegt« bedeutet das nicht unbedingt, dass er ein Leberproblem oder Verdauungsbeschwerden hat. Vielmehr symbolisieren Eingeweide in der Türkei in einem umfassenden Sinn Trauer, Schmerz und Krankheit und sind eher als Platzhalter dieser sorgenvollen Ereignisse anzusehen. Die »Sprache des Körpers« muss erst dechiffriert werden, um eine erfolgreiche Behandlung zu ermöglichen. Ich biete interkulturelle Coachings für Menschen aus Gesundheitsberufen an, um eigenkulturelles Verhalten bewusstzumachen und über unterschiedliche Denk- und Handlungsstile aufzuklären.
Die Erfahrung, dass verschiedene Sichtweisen auf die Welt nebeneinander existieren können, hat mich überhaupt zur Ethnomedizin geführt. Durch die Auseinandersetzung damit erschließen sich immer wieder neue Blickwinkel. Das fasziniert mich an meiner Arbeit bis heute.

Vielen Dank für das schöne Gespräch. 


Florian Rubner (39) ist Ethnologe MA und ­Interkultureller Coach. Er studierte Völkerkunde, Interkulturelle Kommunikation und Religionswissenschaften und arbeitet heute bei unterschiedlichen Projekten sowie als freier Trainer im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitsbereich.

Ethnomedizin im Netz
www.interkulturelle-kompetenz.net
www.ethnomed-fortbildung.de

www.studentenfortbildung.de

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