Titelthema

Kein Mensch ist illegal

Die Karawane der Flüchtlinge braucht ­Solidarität.von Farah Lenser, erschienen in Ausgabe #17/2012
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 Am 29. Januar dieses Jahres nahm sich der Iraner Mohammed R. das Leben. Er war einer von Tausenden Asylbewerbern, die in einem Flüchtlingslager in Deutschland auf die Anerkennung ihres Asylantrags warten. Der 29-Jährige war im Iran gefoltert worden und suchte nun Schutz in Deutschland. Seine Schwester, die in Köln lebt, durfte ihn nicht aufnehmen. Der Tod von Mohammed R. brachte das Fass zum Überlaufen: In dem überfüllten Würzburger Asylbewerberheim mit Hunderten von Flüchtlingen formierte sich Widerstand. Sie protestierten auf dem Marktplatz in Würzburg, einige nähten ihre Münder zu. Am 8. September brach ein Dutzend von ihnen zu einem langen Fußmarsch nach Berlin auf. Unter dem Motto »Kein Mensch ist illegal« gingen sie bis nach Berlin, wo sie am 13. Oktober mit 3000 Menschen zum Bundeskanzleramt zogen. Ihre zentralen Forderungen sind: Abschaffung der Residenzpflicht, die Flüchtlingen verbietet, ihren von den Behörden ausgesuchten Aufenthaltsort zu verlassen; Abschaffung der Lagerpflicht und des Arbeitsverbots; Zugang zu Bildung, insbesondere zu staatlichen Deutschkursen, damit Flüchtlinge sich entfalten und aktiv an der Gesellschaft teilhaben können.
Auf ihrem Weg nach Berlin wurde der Karawane von vielen Menschen, die zum Teil erstmals mit der konkreten Situation von Flüchtlingen konfrontiert waren, spontan Übernachtungsplätze und Spenden angeboten. Die politische Administration reagierte moderat: An der bayerischen Landesgrenze ließ man die Gruppe ziehen, obwohl sie dadurch die sogenannte Residenzpflicht verletzte. Auf ihrem Marsch durch Deutschland wurden sie sogar einige Male von der Polizei beschützt, wenn Gruppen von Rechtsradikalen Proteste organisierten. In Asylbewerberheimen, die sie auf der Strecke aufsuchten, schlossen sich Flüchtlinge ihnen an. In Potsdam begrüßte sie Oberbürgermeister Jann Jacobs (SPD).
Einen Tag nach der Demonstration vor dem Kanzleramt wurde die nigerianische Botschaft in Berlin Mitte von einigen Flüchtlingen und Aktivisten »besetzt«, da diese sich zusammen mit der Bundesregierung an umstrittenen Rückführungsprogrammen von Flüchtlingen beteiligt. Noch am selben Tag wurde die Botschaft geräumt. Die Beteiligten wurden festgenommen, aber nach Protesten Tage später wieder auf freien Fuß gesetzt. Alle sind wieder in das Zeltcamp nahe dem Oranienplatz zurückgekehrt, das bisher vom grünen Bürgermeister Kreuzbergs geduldet wird.

Fünfzig Millionen Flüchtlinge weltweit
Die Situation der in Deutschland weitab vom Stadtzentrum in überfüllten GUs (abgekürzt für Gemeinschaftsunterkünfte) untergebrachten Flüchtlinge war mir in diesem Ausmaß nicht bekannt. Dass ein Flüchtling aus dem Iran, an Leib und Seele durch Folter verletzt, monatelang kaserniert wird und nicht zu seiner Schwester ziehen darf, wer soll das begreifen?
In Bayern macht ein Innenminister Wahlkampf; er will über das Asylgesuch von Flüchtlingen aus Serbien und Mazedonien innerhalb von 48 Stunden entscheiden lassen und sie sofort wieder abschieben. Andere Innenminister wollen für diese Länder die Visumspflicht wiedereinführen. Sie unterstellen einen Zusammenhang des Anstiegs der Asylanträge mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Anhebung der Leistungen für Asylbewerber im Juli dieses Jahres. Flüchtlinge aus Serbien und Mazedonien sind zu 90 Prozent Sinti und Roma, die in ihren Herkunftsländern Diskriminierungen und Verfolgungen ausgesetzt sind. Christian Schwarz-Schilling, der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina von 2006 bis 2007, warf den zuständigen Behörden am 14. Oktober im Hessischen Rundfunk Ignoranz vor und forderte Respekt vor den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und vor den Bundesgesetzen, die nur ungenügend umgesetzt würden. Er erinnert an die Verfolgungen der Roma und Sinti im Nazideutschland: »Fast in jeder Familie sind Angehörige verschwunden. Es ist eine Schande, dass wir so schnell nach der Nazizeit vergessen. 700 000 Roma und Sinti sind in den Konzentrationslagern der Nazis ums Leben gekommen.«
Tom Koenigs, Vorsitzender des Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestags, kann die Diskussion über vermeintlich hohe Kosten nicht nachvollziehen. Verglichen mit der Anschaffung eines »Tiger«-Militärflugzeugs seien die Kosten für 5000 Romaflüchtlinge marginal. Wichtig sei Aufklärung über komplexe Zusammenhänge, die auch den Stammtisch erreiche. Auf dem Podium im Auswärtigen Amtes diskutierte er mit António Guterres, dem Hohen Flüchtlingskommissar des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) über internationale Solidarität. Weltweit gab es 2011 über 43 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, die meist wegen kriegerischer Auseinandersetzungen in angrenzende Nachbarländer flohen. Das UNHCR organisiert mit geringem Budget deren Lager. Angesichts der knappen Ressourcen muss Guterres oft »dramatische Entscheidungen« fällen.
In den Nachbarländern Syriens kommen derzeit viele Syrer bei Verwandten unter – in der BRD ist es dagegen nicht möglich, dass ein Syrer Familienangehörige aufnimmt. Das sind für Tom Koenigs unhaltbare Zustände. Die 300 Flüchtlinge pro Jahr, die Deutschland im Rahmen des Resettlementprogramms des UNHCR in den nächsten drei Jahren aufnehmen will, sind ein Tropfen auf den heißen Stein. »Die Lösung ist immer politisch, nicht humanitär«, bekräftigt António Guterres: »Wenn wir keine Lösungen finden, werden die Flüchtlinge selbst welche finden.«

Sehnsuchtsort Mittelmeer
Ein großer Teil der Flüchtlingsströme konzentriert sich im Mittelmeerraum, verbindet dieses Meer doch die drei Kontinente Afrika, Europa und Asien. Mit der Öffnung der innereuropäischen Grenzen wurde das Mittelmeer zur Grenzregion, wo die »Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen«, kurz Frontex, über Grenzverletzungen wacht. Viele Bootsflüchtlinge stranden auf der italie­nischen Insel Lampedusa, wenn sie nicht von Frontex abgedrängt werden oder mit ihren Booten schon vorher im Meer versinken. Allein im letzten Jahr sollen nach offiziellen Angaben des UNHCR 1100 Flüchtlinge aus Libyen ertrunken sein. Das Mittelmeer war immer der Ort meiner Sehnsüchte und Träume. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass es zum Massengrab von Flüchtlingen würde, die mit ihren Sehnsüchten und Träumen zum anderen Ufer aufbrechen. Ich kann nicht glauben, dass wir ruhig auf unserer Wohlstandsinsel hocken, während allein im Mittelmeer Tausende von Menschen ertrinken.
Die europäische Anna-Lindh-Stiftung repräsentiert ein Netzwerk der Zivilgesellschaften des Euromediterranen Raums. Sie zeichnet auch junge Journalistinnen und Journalisten aus, die zum Verständnis der Kulturen und Probleme in der Region beitragen. Dieses Jahr fand die Preisverleihung in Berlin statt. Sie war der Auftakt zu einer Veranstaltungsreihe des Deutschen Netzwerks der Stiftung unter dem Motto »Mittelmeer vor Ort – Migration und Flucht«. Eine der Preisträgerinnen, die italienische Journalistin Francesca Caferri, ist überzeugt, dass die große Weltgeschichte von den kleinen Geschichten der Menschen geprägt wird. Kennen wir diejenigen der Bootsflüchtlinge? Samia Yusuf Omar wurde 2008 als Athletin bei den Olympischen Spielen in Peking gefeiert. Stolz hatte sie für ihr Heimatland Somalia die Flagge getragen, für ein Land, das seit Jahrzehnten unter einem Bürgerkrieg leidet. Ihre Teilnahme hatte sie gegen den Widerstand muslimischer Kräfte in ihrer Heimat erkämpft. Sie wollte auch dieses Jahr an den Olympischen Spielen in London teilnehmen. Auf einem überfüllten Boot auf dem Mittelmeer wurde ihr lebloser Körper gefunden: Sie war verdurstet.
Wie können wir solche Geschichten ertragen? Als frischgebackene Friedensnobelpreisträger sollten wir EU-Bürger verstehen: Frieden in Europa ist nur mit Solidarität denkbar. Öffnen wir uns für die Geschichten und Schicksale der flüchtenden Menschen! Francesca Caferri erinnert an unsere eigene: »Viele Jahrhunderte sind Europäer in andere Länder ausgewandert, jetzt kommen eben andere zu uns!« Viele sind schon hier, nicht nur im Zeltcamp in Berlin. Heißen wir sie willkommen, wie es der Bürgermeister des kleinen italienischen Dorfs Riace (siehe Oya 4) tat, der 300 Flüchtlinge in die verlassenen Häuser seines entvölkerten Dorfs einziehen ließ und ihnen und seiner Heimat damit eine neue Zukunft gab! 


Farah Lenser (59) ist Sozialwissenschaftlerin und als freie Journalistin und Lektorin in Berlin tätig. www.open-forum.de, www.p-n-w.net


Selbsthilfe, Diskussion und gutes Beispiel
Das Flüchtlingscamp: www.refugeetentaction.net
Mittelmeer vor Ort: www.annalindhstiftung.blogspot.de
Das »Wunder von Riace«: http://vimeo.com/34677625

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