Titelthema

Nehmen will gelernt sein

Schenkökonomie als Spielwiese für ein neues Paradigma.von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #15/2012
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Umna Schüll betreibt seit 2002 eine Praxis für Gestalttherapie, und sie experimentiert mit Ökonomie. »Mir war unser Wirtschaftssystem immer fremd«, erzählt sie. »Für wieviel Geld ich meine Arbeit verkaufe, das ist beliebig – und machtabhängig«. Vor einigen Jahren stieß sie auf wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Schenkökonomie. Dabei wurde ihr klar, dass ihre Frage nach dem Sinn von Geld berechtigt ist. Schenkökonomie bezeichnet eine Wirtschaftsform, die in diversen indigenen Kulturen bis heute selbstverständlich ist: In nachbarschaftlichen Zusammenhängen werden die Dinge, die zum Leben wichtig sind, allen zugänglich gemacht. Geld spielt höchstens eine Nebenrolle. Die Philosophin Heide Göttner-Abendroth und Anthropologinnen wie Veronika Bennholdt-Thomsen haben solche Wirtschaftsweisen in traditionellen Kulturen von China, den pazifischen Inseln und Neuseeland über Südafrika bis Mexiko erforscht. Es sei kolonialistisch, diese kreativen arbeitsteiligen Gesellschaften, die ihre eigenen Spielregeln entwickelt haben, für rückständig zu halten, argumentieren diese Forscherinnen. Die vielen »Abers«, die der Begriff Schenkökonomie sofort hervorruft, wären typisch für das westliche Denken, das nur global verordnete Standardlösungen nach dem Motto: »Wenn alles nur vom freiwilligen Geben abhängt, wäre ich abhängig von meiner Umgebung« gelten lässt. Welch Rückfall in die Steinzeit, das Ende von Freiheit, Fortschritt, Kultur ...

Vertrauen, Freiheit und Subsistenz
Umna Schüll hatte verstanden, dass es nicht um ein Patentrezept geht. Sie wollte mit Schenkökonomie experimentieren, spielen. Anfang 2011 waren es nur sechs Frauen, die sich trafen. Alle brachten schöne Dinge mit, die sie nicht mehr brauchten, und stellten sie auf einen Gabentisch. »Das gab uns ein Gefühl von unwahrscheinlichem Reichtum«, erzählt Umna. »Nach ein paar Treffen gab es aber in unseren Haushalten nichts Überflüssiges mehr. So haben wir angefangen, Dinge mitzubringen, die uns etwas bedeuteten. Irgendwann wollte dann niemand mehr etwas nehmen. Dieses Gefühl, dass Bedürfnisse gestillt waren, auch das war Reichtum.«
Aus dem spielerischen Anfang wurde mehr. Die Frauen luden sich gegenseitig zu ihren jeweilig professionellen Angeboten wie Keramikkurs, Tiefenentspannung mit Monochord, Beratung, Massagen etc. ein. »Das geht an die eigene Identität. Wieviel Raum will ich dem Schenken in meiner Ökonomie geben? Wieviel Vertrauen kann ich entwickeln, wenn ich meine Arbeitszeit verschenke? Ist meine Existenz dann noch gesichert, oder kann ich einsehen, dass sie durch sich selbst gesichert ist?«. Für Umna und ihre Mitstreiterinnen zeigt sich, dass Geben einfacher ist als Nehmen. Bin ich es wert, etwas zu bekommen? Noch mehr Mut wird gefordert, wenn es darum geht, Nein zu sagen, weil ich gerade nicht geben kann. Aus diesem Mut entsteht Vertrauen. Die »Schenkökos«, wie sie sich nennen, helfen einander beim Umzug, renovieren, bauen gemeinsam eine Küche ab und wieder auf. Solche Nachbarschaftshilfe bekommt eine andere Dimension, wenn sich niemand fragt, wer dabei nun wem etwas schuldig ist. Die Gruppe wächst und beginnt mit öffentlichen Aktionen: Im Rathaus der Stadt Wickede steht seit dem internationalen Frauentag im März eine öffentliche Schenkbox: Alle Bürgerinnen und Bürger können hier geben und nehmen. Anfang Juni gab es einen Kräutertag. »Wir wollten schauen, was vor der Haustür wächst, ohne dass Menschen etwas ansäen.« Während Umna ein Kräuterpesto mischt, wird ihr klar, dass genau hier die Schenkökonomie beginnt: in der Fülle der Natur. »Wenn ich die Natur als Teil meiner Schenk­ökonomie-Gemeinschaft begreife, muss ich sie als gleichberechtigte Partnerin anerkennen. Das ist herausfordernd«, sinniert sie.
Ein Schenkökonomie-Experiment ist eine Übung im Dekolonisieren des Denkens, das wird mir im Gespräch mit Umna erneut deutlich. Im Sommer und Herbst werden die Schenkökos, inspiriert von www.mundraub.org, nach freien Obst- und Beeren-Sammelstellen suchen. Was sie daraus einkochen, wird sicherlich in ihrem wachsenden Kreis reißenden Absatz finden, und vielleicht sind auch die Männer für so etwas wie Apfelernte zu begeistern. Es ist nicht verwunderlich, dass die Schenkökos als Frauen-Projekt beginnen: Auch in den indigenen Kulturen, die ihre Vorbilder sind, bilden die Großmütter den Mittelpunkt der Gesellschaft. Sie achten darauf, dass alle genug haben, die Natur eingeschlossen. So einfach ist die Spielregel für eine gute Ökonomie.  


Zum Netzwerk für Geben und Nehmen
www.schenkökonomie.de

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