Titelthema

Spielen, staunen, erkennen

Schloss Freudenberg, das erste Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne, ist ein magischer Ort.von Jonas Hentschel, erschienen in Ausgabe #15/2012
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© Stefan Detemple

Sie sehen ein bisschen aus wie Bistrotische. Nur, dass die mal quadratischen, mal dreieckigen Tischplatten aus ziemlich dünnem Metall bestehen.
Nein, den Sand auf dem Boden haben nicht etwa die Reinigungskräfte vergessen. Etwas davon soll man nehmen und auf einen der Tische streuen. Nun mit einem der bereitliegenden Geigenbögen über die Tischkante streichen – ein Ton entsteht … und ein zuerst verwundernder, dann irgendwie hypnotischer Tanz beginnt auf dem Metall. Wie durch Magie ordnen sich die Sandkörner zu hochkomplexen, symmetrischen Mustern an, machen von ihren zufälligen Orten große Sätze, um Teil dieser Figur zu werden – all das durch das Streichen des Geigenbogens. Es ist ein Sog für die Sinne: den Bogen führen, den Ton hören, den Sand sich zu Formen ordnen sehen.
Das ist nur eine der 160 Stationen im »Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne« im Wiesbadener Schloss Freudenberg, das sich seit 1993 in ständigem Auf-, Erweiterungs- und Umbau befindet. Initiator Matthias Schenk bezeichnet sich noch immer als »Zirkusdirek­tor«, obwohl er nicht mehr mit Zelt und Wagen umherzieht. Mit seiner Frau Beatrice und den 70 Mitarbeitenden fragt er sich jeden Tag neu, wie er seine Besucherinnen und Besucher verwundern kann. Das Schloss ist Bühne für diverse Kunst- und Kulturveranstaltungen, Tagungen und Seminare wie die Feuerwerkstatt, in der das archaische Feuermachen erlernt werden kann, oder die Bienenseminare mit dem Schlossimker Robert Friedrich. Gemäß Joseph Beuys, der mit seinem Begriff der sozialen Plastik Prozesse zwischen Menschen und Orten als künstlerische Gestaltung beschreibt, bringen sich hier vielerlei Menschen mit ihren Fähigkeiten ein.
Freudenberg ist auf einer ganz handfesten Ebene mit dem Erbe von Beuys verbunden: Die Bienen wohnen im ersten Omnibus für Direkte Demokratie, der im Schlosspark seine letzte Heimat gefunden hat. Tagungen zu den Themen und Aktionen des heutigen Omnibus gehören – neben vielen anderen – zu den Veranstaltungen auf dem Schloss.
Man braucht Fantasie, um sich das Schloss so vorzustellen, wie es Anfang des letzten Jahrhunderts einmal aussah. Ein englischer Maler erfüllte sich hier, am Stadtrand von Wiesbaden, seinen Traum von der Villa im Grünen. Es hielt ihn aber nur kurz dort. Bereits in den 20er Jahren wurde in der Villa ein Kinderheim eingerichtet. 1933 dann, gleich zu Beginn der Hitlerdiktatur, begann die dunkelste Epoche. Die Nazis nutzten das Gebäude für das Rassenwahn–Projekt »Lebensborn«, dessen Ziel es war, durch geplante Züchtung von Kindern die »arische Herrenrasse« zu stärken. Kurz vor Kriegsende wurde das Schloss von der Wehrmacht genutzt, danach von den amerikanischen Besatzungskräften. Vielleicht lag es an dieser unguten Geschichte, dass nach dem Krieg niemand etwas Langfristiges mit dem Schloss anfangen wollte. Seit den 80er Jahren drohte wegen Leerstand, Verwahrlosung und Vandalismus ständig der Abriss des Gemäuers. Matthias und Beatrice Schenk waren 1993 schon seit einigen Jahren mit ihrem Erfahrungsfeld–Wanderzirkus umhergezogen, als die Stadt Wiesbaden ihnen Schloss Freudenberg als Gastspielort anbot. Der erste Eindruck an einem nebligen Tag: desolat. Bröckelnder Putz, vernagelte Fenster, morscher Dachstuhl, rundherum wucherndes Gebüsch. Doch als dann die Sonne auf die Wildrosen schien, erkannten sie es als den Ort, der ein Zuhause für ihre Tatkraft und Visionen werden könnte. Mit künstlerisch, handwerklich und pädagogisch versierten Menschen gründeten sie den »Verein für Natur und Kunst« mit dem Anliegen, das gesamte Schloss zu einem »­Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne« zu machen. Viele helfende Hände und Ideen sorgten und sorgen seither dafür, dass es mehr als ein Gastspiel ­geworden ist.

Die Welt fängt an zu singen
Die Idee eines »Erfahrungsfelds« geht auf den Tischler, Künstler und Päda­gogen Hugo Kükelhaus (1900–1984) zurück. Ihn trieb vor allem die Frage um, was der Verkümmerung der Sinne des Menschen angesichts der ständig geforderten rein intellektuellen Leistungen entgegengesetzt werden könne: »Wir sind seit Jahrhunderten darin geübt, die Erfahrung durch die Kenntnis zu ersetzen. Und leben in einer Ersatzwelt. In der nichts anderes ersetzt wird als das Leben selbst«, schrieb Kükelhaus.
Nicht zuletzt seine Liebe zum erlernten Tischlerhandwerk ließ den studierten Philosophen und Soziologen die Sache ganz praktisch angehen: Er wollte dem Menschen seine sinnliche und körperliche Erfahrungsfähigkeit wieder bewusstmachen. So baute er Balanciergeräte (Bewegung) und intuitive Musikinstrumente (Hören), ersann »Barfußwege« mit verschiedenen Untergründen wie Lehm, Kies und Rinde (Tasten). Viele weitere Geräte und Instrumente, die sich heute in Freudenberg finden, sind durch seine Herangehensweise inspiriert. In der »Partnerschaukel« sind zwei gegenüberliegende Schaukeln am selben Seil aufgehängt. Nur wenn beide Partner nachein­ander, jedoch mit ungefähr gleichem Einsatz, starten, bleiben sie nach einiger Anlaufzeit wirklich auch beide in Bewegung.
Geht man durch den Freudenberger Park, gelangt man an ein hohes, überdachtes Holzgerüst. Darin ist an einer weiteren Holzkonstruktion eine sehr lange Saite gespannt, unter der ein einladend gepflastertes Rund zum Verweilen einlädt.
Dort angekommen, erwarte ich etwas Spannendes, schließlich ist dies ein Erfahrungsfeld der Sinne. Zuerst aber passiert: nichts. Oder ist es die Erwartung, die einen übersehen bzw. überhören lässt, was hier ist? Als ich mich gerade zu den Kräuterspiralen weiter hinten umwende, höre ich es auf einmal: einen Ton? Nein, viele! Übereinander, nebeneinander. Leise zwar, doch äußerst vielschichtig. Obwohl klar ist, dass sie wohl von der Saite über mir erzeugt werden, ist die Quelle der Töne für mich nicht auszumachen. Die Musik kommt von überall. Und das zuerst fast Erschreckende: Sie ist nicht fremd vor dem Hintergrund der Naturgeräusche. Diese Musik ist nicht menschlich, sie wirkt wie eine Erweiterung der Natur, der Wälder, der Wiesen und des Windes. Und so ist es auch, denn auf dieser Windharfe klingt die Bewegung der Luft. »Die Vielgestaltigkeit der Umwelt ist Lebensbedingung«, so Hugo Kükelhaus.
Während einer Theaterausbildung in der Schweiz lernten die beiden heutigen Schlossherren Kükelhaus persönlich kennen. Der Altmeister überließ ihnen einige seiner Sinnesbegegnungsstationen für ihr mobiles Erfahrungsfeld und ist so ein Mitbegründer dessen, was heute in Wiesbaden auf dem Freudenberg vor sich geht. Weitere wichtige Ideengeber sind Friedrich Schiller und seine Briefe zur ästhetischen Erziehung, Joseph Beuys’ Idee der sozialen Plastik sowie Gedanken von Goethe und Rudolf Steiner zur Wahrnehmung und zur Pädagogik.

Nichts ist fertig
»Sanierung = Heilung durch Kunst«, schrieb Emil Hädler, Experte für Altbausanierung an der Fachhochschule Mainz, in seinem Konzept für die Renovierung von Schloss Freudenberg. Unter diesem Motto steht die fortwährende Renovierung der alten Villa, deren Abschluss überraschend konkret und augenzwinkernd für 2072 angekündigt wird. Zumindest bis dahin trägt die andauernde kreative Baustelle den Grundton zum Phänomen Freudenberg bei. Marode Substanz hier, notdürftig Geflicktes, kreativ Umgedeutetes oder komplett Erneuertes dort – eine eigene Erfahrungsstation, ausdrücklich gerne auch Museum für Bauschäden, wie Folgen des Hausschwammbefalls oder aufsteigender Feuchtigkeit.
Dem Begriff »fertig« steht Matthias Schenk ohnehin sehr skeptisch gegenüber: »Wenn ich sage: Hier sind wir, und dahinten ist das Ziel, das erreicht werden muss, und jetzt: let’s go, dann würge ich das Leben ein ganzes Stück ab. So läuft es meiner Erfahrung nach nicht oder, besser gesagt: So lebt das Leben nicht. Und dass es so nicht lebt, erfährt man wiederum in den Momenten, wo der Flow da ist, wo es lebt, nämlich im Spiel.«
Demgemäß sind auch allzu definitive Antworten nicht seine Art. Solche Antworten könnten ein Spiel beenden, womöglich ersticken. Fragen hingegen bergen immer Potenzial in sich, ein Spiel zu eröffnen oder entstehen zu lassen. »Wer mit einer Frage kommt, soll mit mindestens dreien wieder gehen«, ist daher auch ein Leitspruch der Freudenberger Philosophie.
Einem Riss in der Decke des Cafés ließ ein unbekannter Künstler oder eine unbekannte Künstlerin eine ganze Horde großer Gummi-Ameisen entströmen, statt zum Spachtel zu greifen. Wer aufmerksam hinschaut, findet überall solche kleinen Kunstwerke.
Das Café selber spricht den Geschmackssinn mit Kaffee, Kuchen und Bio-Snacks an. Anderswo im Schloss fordert eine Gastronomie die Sinne noch weitgehender heraus. Von der »Dunkelbar« sieht man in der Regel nichts weiter als den dicken Vorhang vor dem Eingang. Nach Anmeldung zum »Dinner in the Dark« wird dort ein vegetarisches Fünf-Gänge-Menü in absoluter Finsternis gereicht. Schon das Vortasten zum Sitzplatz wird, derart des Sehsinns beraubt, zu einer abenteuerlichen, zunächst durchaus etwas unangenehmen Angelegenheit. Im Lauf des Abends werden andere Sinne umso schärfer, so dass man schließlich auf Fragen wie »Was ist das denn, und wie kriege ich es auf die Gabel? Wie sieht die Bar nun eigentlich von innen aus?« tatsächlich nach und nach Antworten findet. Schmecken, ohne zu sehen, das ist wirklich etwas anderes, was nicht zuletzt durch die manchmal überraschend vielen Meinungen zu der Frage, was man da gerade gegessen hat, deutlich wird. Nach dem Essen erzählt Maria, die blinde Gastgeberin, wie ein Alltag ohne den Sehsinn gemeistert wird.
Die Orte im Schloss erfordern kundige Begleitung. Das Team, das täglich den Ansturm von Hunderten Besuchern meistert, ist über die Jahre gewachsen, fluktuiert aber auch. Wer geht, trägt den Geist des Orts weiter. Oft inspiriert durch Freudenberg, gibt es inzwischen über 60 Erfahrungsfelder im deutschsprachigen Raum.
Erstaunlich: Noch so viele Besucher verbreiten nicht das Gefühl eines Freizeitparks im Schloss. Wahrnehmung ist etwas Aktives, nichts Konsumierbares. Ein Schlüssel für das Verstehen des Erfahrungsfelds liege, hatte Matthias Schenk erklärt, im französischen Wort für kennen, connaître: con = mit und naître = geboren werden – zusammen mit dem, dem man begegnet, neu geboren werden, oder, nach Goethe, es »werdend betrachten«. Das abstrakte Zeichensystem der »Kenntnis« à la Wikipedia ablegen und sich vom Spiel erwischen lassen, das wirkliches Kennenlernen bewirkt.
Dennoch greift zu Hause der Wikipedia-Reflex. Im Internet suche ich eine Erklärung für die Sandmuster auf den Metalltischen. Aha, Chladnische Klangfigur, der Sand zeigt die Knotenpunkte stehender Wellen, die sich auf dem Metall ausbilden. Wieviel mehr ­haben mir doch die tanzenden Sandkörner gesagt. 

 

Jonas Hentschel (31) lebt nahe Wiesbaden. Er begann ein Studium der Anglistik, Germanistik und Literaturwissenschaft, wurde aber Glasmaler und Kunstglaser. Heute ist er auf der Suche nach Neuem. henjon2@web.de

Möchten Sie Ihre Sinne im Spiel neu erleben?
www.schloss-freudenberg.de
Literatur:
 • Hugo Kükelhaus und Rudolf zur Lippe: Ein Erfahrungsfeld zur Bewegung und Besinnung. Verlag Schloss Freudenberg, 2008

 • Walter Siegfried Hahn: Die Sinne erleben: Erfahrungsfelder zur Entfaltung der Sinne. Drachen Verlag, 2011
 • Otto Schärli: Begegnungen mit Hugo Kükelhaus. J. M. Mayer Verlag, 2001

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