Bildung

Den Weg der Freiheit gehen

Wer Homeschooling wagt, stellt sich den eigenen Ängsten.von Uriela Seivers, erschienen in Ausgabe #12/2012
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Es ist nicht leicht, den Umgang mit der eigenen Angst zu beschreiben. Sie kriecht wie Nebel aus den Ritzen und lähmt meine Kraft, das zu tun, was mir wichtig ist.
Es war Winter, und der Schnee machte die Straßen unpassierbar. Jeden Morgen klingelte der Wecker um kurz nach fünf. Das Programm lief an: Frühstück machen, Sandra wecken, anziehen, frühstücken, das Kind aus dem Haus in die dunkle Nacht treiben, dafür sorgen, dass es pünktlich um halb sieben bei der Bushaltestelle ankommt, immer in Eile und immer im Stress. Doch das Kind wollte nicht wach werden, es hat sich gewehrt, es hat vor Müdigkeit geweint und wollte sich nicht anziehen, nicht in die kalte, dunkle Nacht hinaus.
Wenn Sandra dann gegen drei nachmittags aus der Schule kam, war sie müde und erschöpft, aber dann erholte sie sich, wurde wieder fröhlich – und ich beruhigt. Schon um sechs Uhr gab es Abendbrot, damit Sandra früh schlafen gehen konnte. Aber um diese Zeit wurde sie erst richtig kreativ, hatte so viele Ideen und wollte nicht ins Bett. So ging es bis weit nach neun Uhr.

Muss ich oder will ich?
Wenn ich mir selber zuhörte, wie ich ständig mit meinem Kind geredet habe, hörte ich »du musst … wir müssen …« Und Sandra fragte zurück: »Musst du, oder willst du?« Oh, ich treibe mein Kind im Hamsterrad. Aber es muss doch … alle müssen … das wird so bleiben … man muss sich damit abfinden … es ist nicht zu ändern …
Einmal hatte Sandra schon am Abend gesagt, dass sie am nächsten Tag nicht in die Schule will, dass sie Kopfschmerzen und Bauchschmerzen hat. Ja, ja so ist das eben. Ich erinnere mich an ihre Sätze aus dieser Zeit, wie sie sagte, sie wolle nie wieder zur Schule: »Wenn die Lehrer mit mir schimpfen, dann fühle ich mich so klein wie einen Millimeter, und die sind so groß wie die ganze Welt. Ich will selber bestimmen – wieso zwingt ihr mich? Ihr könnt mich doch einfach zu Hause lassen. Ich geh doch nur wegen meinen Freundinnen hin, aber ich kann gar nicht mit denen spielen. Gerade wenn wir so richtig schön angefangen haben, klingelt es schon wieder.«
Da kam die Angst, ich wusste, die Illusion, dass mein Kind in der Schule gut aufgehoben sei und es irgendwie gut werden würde, war zerplatzt. Ich kam Sandra mit fadenscheinigen Argumenten, mit Standardsätzen, die ich selber als Kind jeden Tag gehört hatte, wie ein Tonbandgerät, das auf Wiederholung eingestellt war. Ich wusste: Wollte ich wahrhaftig leben, würde ich mich vor einer Entscheidung nicht drücken können.
Aber die Angst vor der Übermacht der Lehrer, der Institution Schule, vor der Härte des Gesetzes hinderte mich, zu mir selbst zu stehen und zu sagen: »Ich bin, was ich bin, und ich werde mich nicht beugen«.
Und dann kam eine neue Angst: ­Ins­trumentalisiere ich mein Kind für ein Ideal? Kann ich Sandra jenseits von Schule bieten, was sie braucht?
Zwei Wochen lang bin ich in der Wohnung herumgetigert, bis mir plötzlich klar wurde: Mein Kind geht nicht mehr zur Schule. Doch nun wuchs die Angst erst recht vor all dem gefährlich Neuen. Dennoch wusste ich, dorthin trägt mich mein Herz, und niemand kann mir auf diesem Weg wirklich helfen. Die Verantwortung für diese Entscheidung und ihre Folgen trage ich selbst.
Ich habe mich dem Leben anvertraut, so wie es sich entfalten will, nehme meine Tochter jetzt an die Hand, nur um sie an der nächsten Wegbiegung loszulassen. Damit sie ihre Flügel entfalten kann, damit sie ihren Kopf nicht beugen muss. Damit sie sagen kann: »Ich will«. Ich meldete Sandra von der Schule ab.
Drei Wochen lang haben wir vorsichtshalber kaum das Haus verlassen, Sandra wollte lange wach bleiben, lange schlafen, nicht in die Kälte raus, sie wollte Cassetten hören, basteln, ausruhen, allein sein, selbst bestimmen. Sie wurde blass, unsere Struktur löste sich auf, ich schlich besorgt durch die Wohnung. Merken die Nachbarn etwas? Wird denunziert? Steht die Polizei vor der Tür? Droht der Sorgerechtsentzug? Ich hatte keine Kraft, dem Kind Struktur zu geben, habe nach innerer Klarheit gerungen.
Ich überlegte, Sandra in Österreich anzumelden. Eine plausible Geschichte zu erfinden. Muss ich sie zum Lügen anhalten? Oder sollten wir auswandern?
Nein, wir leben hier, in Deutschland.

Ausweg Österreich
Langsam habe ich mich in Bewegung gesetzt, das Telefon genommen und einen Schritt nach dem anderen getan. Oma ist bereit, das Kind bei sich in Wien anzumelden. Ich las das österreichische Schulgesetz und den Lehrplan. Welche Geschichte für eine Schulabmeldung klingt plausibel, und kann ich mit ihr leben? Ich entwickelte Ideen und verwarf sie wieder. Freunde gaben mir Rückhalt. Tief durchatmen.
Vom Schulamt in Wien hörten wir, dass unser Kind erst zum Schuljahreswechsel zum Heimunterricht angemeldet werden kann. Aber die Dinge sind jetzt in Bewegung, der Frühling ist erwacht, die Angst tritt in den Hintergrund. Sandra blühte auf, war wieder fröhlich und energiegeladen.
Zwei Wochen später, ich putzte gerade die Wohnung, ruft das Schulamt an: »Ihr Kind geht seit mehr als zwei Monaten nicht mehr zur Schule. Sie wissen, dass das verboten ist … Wenn Ihr Kind morgen früh nicht in der Grundschule erscheint, wird es von der Polizei zur Schule gebracht.« Wieder springt mich die Angst an, ich habe jetzt keine Geschichte, und die Wahrheit darf ich nicht sagen. Ich rede mich raus, bitte um Aufschub – und bekomme eine Chance, am nächsten Morgen den Schulrat anzurufen. Lege den Hörer auf und stehe unter Schock.
Ich telefoniere mit dem Schulrat. Erst rast mein Herz, aber dann ist die Angst fort. Das Phantom verschwindet, ich spreche mit einem Menschen und weiß wieder, was ich zu sagen und zu tun habe. Mir gelingt es sogar, den Spieß umzudrehen und den Schulrat in Erklärungsnot zu bringen, nachdem er mir erzählen wollte, dass ich, abgesehen vom gesetzlichen Verbot, als »Mutti« ja gar nicht qualifiziert wäre, mein Kind zu unterrichten.

Wahrhaftig sein
Jetzt, zwei Jahre später, ist es für uns normal, dass Sandra nicht zur Schule geht. Am Ende des Schuljahrs legte sie in Österreich ihre erste Prüfung ab und bestand sie mit Bravour. Meine Ängste schwinden, ich stelle mich ihnen und lasse mir von Befürchtungen wegen ihres Lernens nicht mehr die Wirklichkeit verzerren.
Sandra gedeiht prächtig, sie wächst wie ein Baum ganz aus sich selbst heraus. Ich muss nichts dazu tun. Solange der Baum seinen Platz hat, genügend Wasser, Nährstoffe und Sonnenlicht, ist alles gut.
Und ich habe verstanden, dass ich ein freier Mensch bin und dass ich ausreichend bin. Ich kann es an meiner Tochter sehen.
Der ganze Prozess war eine Befreiung hin zur Selbstermächtigung, die mir hilft, wahrhaftiger zu sein. Beziehungssprache hat die Funktionsbefehle abgelöst. Es ist, als wäre ein Wahn von mir abgefallen. Ich muss nicht alles können, wissen und leisten, um ein vollwertiger Mensch zu sein. Es reicht, ich zu sein.
Meine Tochter kann lesen und rechnen, und mit dem Schreiben geht es jetzt richtig los. Sie ist interessiert, neugierig, offen, kreativ, lebendig, weiß erstaunlich viel und lebt mit der Vielfalt der Menschen. Was will man mehr von einem Kind erwarten? Das Leben ist voller Wunder und Geschenke – es schenkt das Glück der Freiheit. Ich habe gelernt, zu vertrauen. 

Uriela Seivers (43) ist Montessori-Lernbegleiterin und Familientherapeutin und war früher als Jazzsängerin in den USA unterwegs. Heute arbeitet sie als freiberufliche Pädagogin.


Lektüre für Homeschooler
• Jan Hunt: Das Freilerner-Buch. Anahita, 2010 

• Liv Haym: Schulflucht. Autobiografischer Roman. Drachen Verlag, 2011 
• Ulrich Klemm, Bertrand Stern: Vom Glück des Nichtstuns. Muße statt Pädagogik. tologo, 2010 
• Stefanie Mohsennia: Schulfrei. Anahita, 2010 
• Alan Thomas: Bildung zu Hause. Eine sinnvolle Alternative. tologo Verlag, 2007 

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