Titelthema

Verfechterin der Vielfalt

Claus Biegert portraitiert Christine von Weizsäcker.von Claus Biegert, erschienen in Ausgabe #10/2011
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Sie hat etwas von einer Privatdetektivin. Auch etwas von einer Expeditionsleiterin. Warum fallen mir bei Christine von Weizsäcker diese beiden Rollen als erste ein? Weil die Biologin und Mutter von fünf Kindern das Kombinieren liebt und mit Scharfsinn agiert, daheim am Schreibtisch im Schwarzwald und draußen in der Welt. Und weil sie dort draußen, wo es häufig feindlich zugeht, die globale Bewegung für den Erhalt der biologischen Vielfalt mit anführt. Indigene Kämpfer aller Erdteile – oft das erste Mal aus den heimischen Regenwäldern und Bergregionen in den Kongresszentren von Montreal, Cartagena, Genf oder Nairobi – suchen Christines Expertise, um sich gegen die Einschüchterungen von Saatgut-Konzernen und deren Lobbyisten zu wappnen. Denn wenn es unübersichtlich und ­kompliziert wird im Regelwerk der Gesetze, Verträge und Konventionen, dann seziert sie die Textflut und beschreibt das Ganze mit Geschichten, reich an griffigen Analogien. Und wenn die Kleinbauern, Stammesdelegierten und Umweltschützer die Fallstricke der Verhandlungstexte erkannt und das Spiel der Profiteure durchschaut haben, dann ist sie zufrieden, dann weiß sie, dass die ermüdenden Flüge durch die Zeitzonen sich gelohnt haben.

Als ich sie 1987, ein Jahr nach dem GAU in Tschernobyl, fragte, ob sie Lust hätte, an einer Weltkonferenz mitzuwirken, einer globalen Anhörung über die Auswirkungen von Nukleartechnologie auf Mensch und Natur, da blickte sie mich prüfend durch ihre runden Brillengläser an, wiegte dabei ihre neugeborene Tochter Maria in den Armen und sagte dann, langsam und besonnen: »Das klingt, als sei es kaum machbar, und darum mache ich mit!« Ich hatte damit für mehrere Jahre eine Mitstreiterin zur Seite, die dem »World Uranium Hearing« bis zum September 1992 nahezu uneingeschränkt Kraft, Ideen und Zeit zur Verfügung stellte. Wenn sie bei etwas mitmacht, dann ist sie ganz dabei, dann ist sie vorn dran oder im Hintergrund, von wo auch immer sie am besten wirken kann.
In der Alten Universität von Salzburg, auf dem Podium des »World Uranium Hearing«, sprach sie von Fehlern, und dass Fehler nichts Ehrenrühriges seien, ehrenrührig sei vielmehr unser Anspruch, fehlerfrei zu sein. »So vielen Innovationen fehlt die Test­strecke der Bewährung«, erklärt sie. »Wir haben keine Ahnung von den Auswirkungen, also müssen wir rechtzeitig und vorsorglich nach möglichen Risiken Ausschau halten!« Sie zählt auf, was sie neben Atomenergie und Gentechnik noch alles auf die Barrikaden treibt: »Nanotechnologie und synthetische Biologie, aber auch Klimamanipulation im Ausmaß von Geo-Engineering.« Immer sucht sie nach Begriffen, die die Probleme auf den Punkt bringen; einige, die es noch nicht gab, hat sie selbst erschaffen: »Fehlerfreundlichkeit« zum Beispiel. »Eine Technologie, die keine Fehler duldet, ist menschenfeindlich!«, sagt sie. Ein Satz für unsere Welt, in der Hybris und hybrid nicht nur in der Wortwurzel nebeneinander liegen.
Christine von Weizsäcker hat sich als Aktivistin keine geringen Gegner ausgesucht. Der Saatgut-Monopolist Monsanto übt derzeit den stärksten Druck aus, um sich durch juristische Zangen nicht den profitablen Weltmarkt versauen zu lassen. Monsanto erfand das Terminator-Gen, das Saatgut fortpflanzungsunfähig macht und die Bauern zwingt, jedes Jahr neue Saat einzukaufen. »Aber wer sagt denn, dass das Terminator-Gen, abgesehen vom kriminellen Kern der Idee, nicht doch über Pollen verwandte Wildarten schädigt?«, fragt sie besorgt. »Immer wird davon ausgegangen, dass keine Fehler passieren.« Dabei geht es nie ohne Fehler: Sie markieren die Etappen der Evolution, sie lassen uns klüger werden. »Fehler auszuschließen ist überheblich und unanständig«, sagt sie und erzählt, wie sie als Studentin die Semesterferien in Tansania verbrachte. Ihr Vater arbeitete dort als Tuberkulose-Arzt, und von den einheimischen Korbflechterinnen auf dem Markt lernte sie, dass es wichtig sei, in die Muster der Körbe immer einen Fehler einzuflechten, um an die Fehlerhaftigkeit von uns Menschen zu erinnern.
Zeit für den Nachmittagstee. Eine extra Tee-Theke gibt es in der großzügig geschnittenen Küche des neuen Passiv-Hauses in Emmendingen, in dem drei Generationen zusammen wohnen und kochen können. Es waren schon vier: Bis zu ihrem Tode lebten Christines Eltern ebenfalls mit unter dem großen Solardach. Ihr Mann Ernst gießt langsam die Kanne Shincha Shimoyama auf, einen japanischen Grüntee. Momente wie diese werden zelebriert. Ernst-Ulrich von Weizsäcker, der Umweltpolitiker und emeritierte Universitätsprofessor, ist gerade aus China zurückgekommen, wo er mit Ökonomen und Ökologen Gespräche über die Möglichkeiten einer nachhaltigen Wirtschaft führte.

Eine Geschichtenerzählerin
Christine von Weizsäcker ist eine bescheidene Frau, aber nicht wenn es um die Bedrohung der Vielfalt unseres Lebens geht. Da reicht ihr Netz des Widerstands um den Globus; seit über 35 Jahren webt sie daran. Begeistert erzählt sie von den fernen Menschen, mit denen sie eine enge Freundschaft verbindet. Ihre Rede ist ein Fluss mit starker Strömung. Sie koppelt Paragrafen-Texte aus den UN-Konventionen mit Geschichten und Parabeln und verwandelt damit komplizierte Zusammenhänge in weitererzählbare Warnungen. Denn diese Warnungen müssen reisetauglich sein, müssen um die Welt gehen und Bäuerinnen in den Anden erreichen und in Äthiopien, überall dort, wo Menschen über Tausende von Jahren vielfältige Arten gezüchtet haben und jetzt in den Fokus von Saatgutkonzernen und Pharmaindustrie geraten – und in Bedrängnis.
Diese ganz besondere Begabung, Abstraktes in bildhaften Worten konkret werden zu lassen, hat Christine von Weizsäcker einen festen Platz auf jenen Konferenzen verschafft, wo am Wortlaut der Vereinbarungen zum Schutz der biologischen Vielfalt gefeilt wird. »Im Know-how indigener Kulturen und lokaler Gemeinschaften wittern die Konzerne im Wettlauf um Patente ihren Profit. Bio-Piraterie ist das moderne Kavaliersdelikt der Bio-Technologie« sagt sie. Seit dem Weltgipfel in Rio 1992 ist es üblich, dass ECOSOC (der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen) relevante Nicht-Regierungs­organisationen, sogenannte NGOs, zur Mitsprache zulässt; so können die Betroffenen und eben Aktivistinnen wie Christine von Weizsäcker mitarbeiten, wenn Beschluss-Empfehlungen für die Regierungen ausgearbeitet werden.
Wie ist es, wenn die Manager und Lobbyisten der Konzerne in den Kongresszentren ihren Weg kreuzen? »Man grüßt sich. Aber diese Herren können sich nicht vorstellen, dass eine Frau mit Familie über Jahrzehnte dem wissenschaftlichen Diskurs folgt und sich einmischt, und das alles ehrenamtlich. Sie rätseln, wer mich bezahlt. Die ehrliche Empörung eines Erdbürgers übersteigt ihre Vorstellungskraft.«

Gegenwind auf Augenhöhe
Christine und ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen der internationalen Gruppierung »Ecoropa« sind keine Protestler ohne Gegenmodell – solche könnte man abschütteln und aussperren. Hier kommt der Gegenwind auf Augenhöhe, das zwingt zur Akzeptanz. »Ich sitze oft nächtelang in den Gremien, die international rechtlich bindende Umweltabkommen erarbeiten. Mittlerweile wissen wir, wo es sich lohnt, Energie hineinzustecken, und wo es vertane Liebesmüh wäre. Die Schwachen brauchen Rechtschutz, darum engagiere ich mich.«
Es ist ihr wichtig, in der Bürgerschaft aufkommende Gefühle der Schwäche zu tilgen. »Verbraucher votieren mit ihrem Konsumverhalten für Ökologie und Gerechtigkeit.« Ihre Kritik an den Medien: »Unabhängige Information ist nicht mehr gewährleistet. Die müssen wir wieder einfordern!« Ebenso: »Berater, die von der Politik eingesetzt werden, müssen unabhängige Fachleute sein, sind aber oft Interessensvertreter. Wir dürfen das nicht sang- und klanglos hinnehmen. Demokratie verlangt Zwischenrufe.«
Sind ihre Antriebskräfte allein Sorge und Zorn? Sie schüttelt den Kopf: »Die Lust am Sinnvollen hat großes Gewicht!« Höre ich da Ivan Illich heraus, den großen Gesellschaftskritiker? »Ja, der Ivan«, sagt sie, etwas Verklärung ist zu hören, »er war ein wertvoller Gesprächspartner. Er konnte voll und ganz als Partner fürs Nachdenken und Arbeiten zur Verfügung stehen. Er hat dann sein Ego, das sonst sehr stark war, völlig zurück gestellt.« Seit den 70er Jahren war die Familie eng mit ihm befreundet. Während er die »Schattenarbeit« definierte, die Menschen, meist Müttern, unbezahlte Zeit aufbrummt, schuf Christine die Definition der lustbetonten »Eigenarbeit« aus eigenem Antrieb - in Abgrenzung von ungeliebter Reproduktionsarbeit oder der gesellschaftlich gewürdigten Erwerbsarbeit.
Zwei Enkel kuscheln sich inzwischen an sie, während sie erzählt, und ihr Blick geht plötzlich in die Ferne. Welche Bilder schieben sich in ihren Kopf? »Cartagena«, sagt sie. »Man vergisst die Stadt nie, durch die man in den frühen Morgenstunden nach einer von Erfolg gekrönten Verhandlungsnacht gegangen ist.« In der kolumbianischen Stadt Cartagena und in Montreal wurden im Januar 2000 die Schlussverhandlungen des Protokolls über biologische Sicherheit abgeschlossen. »Das Kyoto-Protokoll zum Klimaschutz kennt jeder«, bedauert sie, »aber keiner das Cartagena-Protokoll, immerhin das erste internationale Gesetzeswerk, das der Gentechnik Grenzen setzt!«
Ihr Mann gesellt sich zu uns, wünscht ihre Meinung zu einem Text. Ernst-Ulrich von Weizsäcker muss nicht weit gehen, um Kontakt zur Graswurzelszene aufzunehmen. Sie wiederum schätzt es, aus erster Hand zu erfahren, wie man in Regierungs- und Industriekreisen denkt. Von 1998 bis 2005 war er im Bundestag und leitetet die Enquête-Kommission zur Globalisierung. »Wir ergänzen uns hervorragend«, sagt sie. Er setzt noch eins drauf: »Wenn ich wohin komme, wo ich noch nicht war, dann probiere ich es mit: Ich bin der Mann von Christine von Weizsäcker, das hilft meistens.«
»Die Agrarlobby!« Der Klang, den sie dem Sammelbegriff beigibt, verrät, dass sie von einer Gruppe spricht, deren Vorgehen sie durchschaut hat. Jetzt ist sie die Detektivin. Es geht um den Fall Agrosprit. Klingt gut, und was gut klingt, muss durchleuchtet werden. »Ist das nicht ein wunderbarer und raffinierter Weg«, sagt die Detektivin, »um die Akzeptanz für Gentechnik zu steigern? Hier wird ja nichts gegessen, sondern nur an die Autos verfüttert.« Bei diesem Thema hängt sie sich besonders rein, denn hier agiert der Gegner im grünen Gewand. Sie fürchtet, dass die Sprit-Monokulturen sich schädlich auf die Biodiversität auswirken.
Ich spreche den Skandal des WWF an: Wird es dem Ruf der Umweltorganisationen schaden, dass die wohl größte und von Adel verzierte, gemeinnützige Organisation Geld von Monsanto angenommen hat? »Das Geld zerbricht bei vielen BINGOs die Glaubwürdigkeit«, lautet ihr Kommentar. BINGOs? »Das sind die Big NGOs, die großen Nicht-Regierungsorganisationen«, sagt sie und fügt mit einem befreienden Seufzer an, wie froh sie sei, eine kleine und arme Organisation zu leiten, wie Ecoropa es seit seiner Gründung 1976 ist: »Klein, arm, kritisch und unbestechlich!«

Unbeugsame Älteste
In ein paar Jahren wird sie siebzig. Wie sie gestikulierend erzählt, mit ihrer Schale Tee (später am Abend wird es Rotwein aus Apulien sein), ist sie nicht nur Expeditionsleiterin und Detektivin, sie ist vor allem eine Gestalterin. Es gibt Menschen, die werden früh alt, weil sie schon früh anfangen, nicht mehr teilzunehmen. Und dann gibt es die anderen, denen graue Haare und viele Jahre nicht gravierend in die Vita und die Aura eingreifen, weil sie einfach nicht aufhören, sich einzumischen. Das Alter ist dann ein Kapital an Erfahrung und Respekt und damit ein gewinnbringendes Gewicht, wenn es ums Gestalten geht.
Das haben die indigenen Aktivisten gleich gemerkt: Hier ist eine Älteste, die sich nicht beugt, die werden wir ansprechen. »Alten Frauen traut man zu, dass sie keine persönlichen Interessen durch­powern, das gilt sogar für die islamische Welt. Ich habe keine Macht, und das gibt mir Durchschlagskraft«, sagt sie, und: »Ich bin die Oma von Emmendingen. Omas und Opas kennen die Auf-und-Abs politischer Bewegungen und wissen, dass politische Siege immer wieder aufs Neue erfochten werden müssen.«
Die Schatten werden lang. Wir stehen inzwischen an einem Südfenster im zweiten Stock. Die Klettertomaten sind über den Fenstersims hinausgewachsen; zwölf Sorten mindestens zieht Christine jedes Jahr. Sie beugt sich raus und zupft ein paar Achseltriebe ab. Glücklich sieht sie aus. Ob mit Kopfhörern im Konferenzsaal, beim Verfassen internationaler Rechtsempfehlungen, mit den Enkelkindern daheim oder im Garten mit den Händen in der Erde – diese Frau verkörpert Eigenarbeit. 


Claus Biegert (63) ist Autor und Aktivist. Unter dem Eindruck der Bedrohung indigener Völker durch den Uranabbau gründete er den Nuclear-Free Future Award. www.nuclear-free.com 

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