Gemeinschaft

Spiel der Kunst

Künstlerisch das Leben und Gemeinschaft formen.von Werner Ratering, erschienen in Ausgabe #9/2011
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Ja, genau (Vorspiel)
Eigentlich hätte alles so bleiben können, wie es war. Als bildender Künstler in einem Wasserschloss lebend, in der »Beletage«, mit riesigem Atelier und eigener Galerie, ziemlich frei und selbstbestimmt, existenziell unabhängig, mit entspannten, zum Teil freundschaftlichen, zumindest gut nachbarschaftlichen Beziehungen zu den anderen Mitbewohnern, eigenem Garten … wäre da nicht diese innere Stimme gewesen, diese Sehn-Suche nach dem »Wahren, Schönen, Guten«, nach einer lebbaren Utopie – dem Feuer der Avantgarde.
Parallel zur eigenen künstlerischen Arbeit wurde mir der Dialog-Prozess nach David Bohm zur inneren Heimat und ermöglichte zumindest soziale Meditation in Wochenendworkshops – leider nur »außer Haus«. Die innere Stimme forderte aber Integration in den Alltag. Dafür gab es allerdings kaum Resonanz im Umfeld, weder beruflich noch privat, auch Liebesbeziehungen scheiterten an diesem Anspruch. So wurde ich über dreißig Jahre hinweg Reisender in Sachen Gemeinschaftssuche – mit zunehmenden Vereinsamungstendenzen. Bis ich vor vier Jahren den Community-Building-Prozess nach Scott Peck kennenlernte und nun zum ersten Mal ein Gefühl für die wirklich tragenden Voraussetzungen menschlichen Miteinanders bekam. Hier lernte ich auch meine Liebste kennen, und wir beschlossen, am Bodensee einen Neuanfang zu wagen. Eine Begegnung mit Joanna Macy und ihrem Bild des Shambhala-Kriegers waren letzter Anstoß, meine dreißigjährige Existenzform aufzukündigen.
Nachdem ich den Umzug in anderthalb Jahren bewältigt hatte, gab es eine unfreiwillige Zwischenstation im Konstanzer Klinikum. Eine Notoperation mit der späteren Diagnose: bösartiger Tumor. Das gab und gibt meinem Leben von heute auf morgen eine neue Dringlichkeit: »Was wollen das Leben und die Kunst jetzt von mir?«
In dieser bewegten Zeit erfuhr ich von einer »Ökodorf-Süd-Initiative«, die sich im Raum München formiert hatte. Und auf einmal stand eine Vision im Raum: Schloss Tempelhof in Crailsheim als potenzieller Ort der Verwirklichung einer großen Gemeinschaft. Es war Zeit für den Sprung ins tiefste Wasser der Utopie, und es war eben nicht der liebliche, freundliche Bodensee geworden, sondern die karge Hohenlohe.

So isses (Theorie)
Wer den unvergleichlichen Film »Rhythm Is It« mit dem Choreografen Royston Maldoom gesehen hat, wird sich vielleicht an das Interview mit Sir Simon Rattle erinnern, in dem er sinngemäß sagt, dass es ohne Wertung keine Kunst gebe. Ein Kernsatz, der auch für Gemeinschaft gilt?
Was ich in den vielen Gemeinschaften meiner Reisejahre an Kunst zu sehen bekam, verursachte mir ein ziemliches Unbehagen. Der vielzitierte Ausspruch von Joseph Beuys »Jeder Mensch ein Künstler« wird leider oft nicht als mögliches Potenzial verstanden, sondern als gegeben und ­damit auch zum Freibrief für Dilettantismus, Igno­ranz und geschmäcklerische Beliebigkeit. Das sind natürlich schwierige, harte Wörter, und deshalb möchte ich auch im Folgenden versuchen, diesen Spannungs­bogen von Anspruch und Anspruchslosigkeit zu skizzieren und vielleicht aufzulösen.
Wer den Comunity-Building-Prozess kennengelernt hat, dem ist das Bild der vier Phasen vertraut, in denen es darum geht, von der Pseudo-Gemeinschaft über die Chaosphase in den Zustand der Leere zu kommen, aus dem heraus sich dann echte Gemeinschaft offenbart. Hier sehe ich die Gemeinsamkeit zur Kunst. Denn nur in der Authentizität des Ausdrucks (ob des einzelnen oder der Gemeinschaft) entsteht diese lebendige Qualität, diese neue, formgebende Sichtweise aus künstlerischer Setzungskraft. Ohne Wertung keine Kunst! Also geht es um den Bedeutungsgehalt, den wir den Dingen geben können, aber nicht aus dem Machen heraus, sondern als Potenzial. Und das hat wie alles in unserem Leben mit Lernen zu tun. Und wie der immer noch aktuelle Klassiker von Erich Fromm »Die Kunst des Liebens« zeigt, ist das ein lebenslanger Prozess und gilt natürlich auch für die »Kunst des Kündens«. Das muss mit Können nicht zwangsläufig zu tun haben, denn dann wären die meisten Handwerker gute Künstler. Dem ist aber nicht so, denn meistens wird das Gewollte unmittelbar zum Hindernis. Dieses Grundparadox echter Kunst, die Absichtslosigkeit im Tun, lässt sich nur in Resonanz mit Lebendigkeit erlösen. Diese komprimierten Aussagen ein wenig ins Leben zu bringen, will ich nun anhand konkreter Beispiele versuchen.

Oh ja (Praxis)
Die biografische Erfahrung, dass der Reichtum meiner inneren Welt selten deckungsgleich mit dem gesprochenen Wort war, ließ mich schon als Kind zu nonverbalen Ausdrucksmitteln greifen. So war es naheliegend, mit der Rolle des Facilitators innerhalb des Dialog-Prozesses zu experimentieren, nonverbale, künstlerische Übungen einzuführen, etwa das gemeinsame Malen eines Bildes oder Modellieren mit Wachsfiguren – als kleiner Avatar, stellvertretend »für sich selbst in diesem Moment«. Es war interessant, zu beobachten, wie schnell und unaufmerksam die Beteiligten bei dieser Übung wurden. Ganz selten, dass die vorher geübten Kommunikationsempfehlungen des Dialog-Prozesses noch Präsenz hatten, zu sehr genossen die Teilnehmenden die spielerische Freude und Selbstvergessenheit auf der einen Seite oder konnten das Ganze nicht wirklich »ernst« nehmen. Dieser äußerst sensible Zustand von konzentrierter Wachheit, Geschehenlassen, Angstfreiheit und ganz Dabei-Sein, der Voraussetzung für das Erleben von tieferen Schichten ist, wurde fast nie erreicht.
Und doch schlummerte aus meiner Sicht in diesen »einfachen« Geschehnissen ein Potenzial, wie ich es in diesem Jahr zu Ostern erstmalig auch erleben durfte. Zu meinem Ankommen in der neuen Gemeinschaft »Tempelhof« gehörte das sogenannte Osteratelier 2011, eine von mir angebotene Zukunftswerkstatt zum Thema »Kunst und Gemeinschaft«. Unter dem Stichwort »Soziale Skulptur« sollte die Arbeit an der Kunst-Form im Zusammenklang mit der Lebens-Form stehen. Was bedeutet es für den eigenen, künstlerischen Prozess, wenn ich mich in Beziehung zu anderen Menschen und auch zu den vorgefunden Qualitäten (Genius Loci) des Ortes setze?
Wie wirken sich die Kernfähigkeiten dialogischen Handelns (sprich von Herzen, radikaler Respekt, Offenheit, Verlangsamung etc.) in Verbindung mit den Leit­linien von Community Building (bleib in der Gegenwart, höre auf deine innere Stimme, geh ein Risiko ein, übernimm Verantwortung für den Prozess) im künstlerischen Prozess also aus? Um es vorweg zu sagen: Für mich war dieses Osteratelier beglückend und eine Offenbarung. In dem Maß, wie sich Menschen auf das »Spiel der Kunst« als »soziale Meditation« einlassen, wird das Glück des Seins erfahrbar – das durfte ich in diesen poetischen, formenden Ostertagen erfahren. Beim Experimentieren mit den in den Raum gestellten lebensgroßen Avataren aus Holz und Bindfäden entstand eine neue Leichtigkeit, ein spielerischer Umgang mit dem Sein.
Damit das gelingt, brauchen wir die Bereitschaft zum »Give me five«, will heißen, sich nicht nur einer oder gar der ersten Idee zu verschreiben, sondern aus (mindestens!) fünf verschiedenen Quellen Inspiration zu erfahren: Was will das kompromisslose Kind in uns, was für Lösungen bietet die animalische Energie an, wie fühlt sich der weibliche Anteil gestaltgebend ein, was sagt die analytische Raumenergie des Männlichen? Was geschieht, wenn wir »durch« uns zeichnen lassen, wenn wir uns also dem Größeren öffnen? Und schon verliert der erste (oft einzige) Lösungsansatz an Farbe, vor allem, er muss nicht mehr krampfhaft festgehalten werden. Es wird eine Art Magnetismus in der Gruppe spürbar, wo jeder mit seiner Individualität in einem größeren Ganzen schwingt. Der Fremde wird nicht mehr nur geduldet, das Markante, die Einzigartigkeit des Gegenübers bereichert das Sein und wird unser.
Es geht auch um das Erlernen von Genauigkeit in der künstlerischen Geste, einer »Logik« der Materialgerechtigkeit folgend, wissend, dass gute Kunst ein enormes Spannungspotenzial hat. Hier versinnbildlicht durch eine hängende Skulptur an einem Bindfaden: zu locker gespannt, hängt sie durch; zu stramm gespannt, reißt der ­Faden, und alle müssen zum Korrigieren einspringen – auch ein Verweis auf diesen fragilen und in Gemeinschaft besonders häufig erlebbaren Balanceakt zwischen zu viel und zu wenig.

Möglichkeitsräume (Finissage)
Überhaupt das Vertrauen! In mein Potenzial als kreatives Wesen, in den anderen als Bereicherung für das Gesamtgeschehen, in die Gruppenintelligenz, in das Universum, dass alles da ist, was es für eine Lösung braucht. Dass es kein »billiges« Material gibt, sondern nur die Anmut und Schönheit der Dinge an ihrem »richtigen« Platz. Und dass es zu spüren ist. Für alle.
Langsam löst sich die anfängliche Ergebnisorientiertheit und Zielfixiertheit des Seminars, auch bei mir, wo ich mich doch über jede homöopathische, künstlerische Dosis freue und um jedes gute Foto ringe!
Ein morgendlicher Austausch von Träumen findet auf überraschende Art und Weise Lösungsansätze für nachmittägliche Gestaltungsfragen. Manche Häuser müssen über und durch das Dach betreten werden, wenn sich das Geheimnis erschließen soll.
Sicher ist nur die Eindeutigkeit des Glücksgefühls, wenn ich das Wesen des Gegenübers »aufblitzen« sehe und sich das Schöne, Wahre und Gute des Lebendigen unmittelbar zeigt, etwas, das ich in ­dieser Intensität aus meinem individuellem Schaffen nicht kenne.
Und in diesem Moment fühlt sich alles so neu an; da braucht es keine Erklärungen oder Verweise auf Kunstgeschichte oder Epigonentum. Auf einmal zeigt sich die soziale Skulptur als manifestierte Liebesenergie. Das sind die Sekunden der Ewigkeit, für die es sich lohnt … das ist alles! Ein schönes Ende – wenn es nicht ein Anfang wäre …  
 

Werner Ratering (57), freier Künstler seit 1982, Lehraufträge am Fachbereich Sozialwesen in ­Bielefeld für Steinbildhauerei und Plastisches Gestalten, Ausstellungen im In- und Ausland.


Gelegenheiten zum Nachempfinden
www.dialogprojekt.de
www.schloss-tempelhof.de
www.werner-ratering.de

Literatur:
Petra Mecklenburg: Coming Together – Ein neues Wir. ­Wolkentor-Verlag, 2009

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