Bildung

Selberlernmacher

von Sabine Steldinger, erschienen in Ausgabe #8/2011
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Wenn es um Selbstermächtigung geht, steht der Bildungsbereich an erster Stelle. Wer sich selbstbestimmt bilden und ausbilden will, findet heute erste Netzwerke und Initiativen, die das freie Lernen unterstützen.

Hin und wieder tun sich wissbegierige Leute zusammen, denen die Bildung in den üblichen Institutionen nicht zusagt, um ein »Bildungsnetzwerk« auf die Beine zu stellen. Im Rahmen von Bildungsprotesten nennen sie das dann »Alternativuni«, »Gegenuni«, »Multiversität«, »Keine Uni«, »Solidarisches Netzwerk Offene Bildung« (SNOB) oder einfach »autonome« oder selbstorganisierte Seminare. In solchen Projekten stellen sich die Lernenden ihren Lernplan selbstbestimmt zusammen, oder jemand bereitet eine Veranstaltung vor und lädt im Netzwerk dazu ein.
In diesem Sinn versteht sich auch das weltweite Bildungsnetzwerk der »Travelling School of Life« (etwa: reisende Lebensschule). Ihre Internetseite ist ein Werkzeug, um Ressourcen und Wissen miteinander zu teilen. So entstehen Brücken für eine alternative und ergänzende Bildung abseits gewöhnlicher Wege wie Ausbildung, Schule und Uni. Lernen findet hier nicht an einem bestimmten Ort statt, sondern auf Reisen von Ort zu Ort, wo sich Menschen treffen, die ein Lern­bedürfnis teilen, und wo die Lernenden Kost und Logis bekommen. Es versteht sich von selbst, dass solche Bildungsmodelle nicht auf finanziellen Gewinn ausgelegt sind, sondern auf einem möglichst niedrigen Budget-Niveau abgewickelt werden. Je nach Bedürfnis aller Beteiligten kann es dabei Modelle auf der Basis von Tauschen, Schenken oder Bezahlen geben.
Die meisten Menschen verstehen unter Bildung vor allem »Ausbildung« mit dem Ziel, dieses Wissen in der Arbeitswelt möglichst gewinnbringend verwerten zu könnem. Es gibt jedoch Wissensgebiete, die auf dem sogenannten Markt nicht oder kaum gefragt sind. So wird dieses Wissen für die Menschen unzugänglich, inhaltlich verkürzt oder unter einem kontraproduktiven Leistungsdruck vermittelt. Schlimmstenfalls geht es in den betreffenden Bereichen ganz verloren. Ein klassisches Beispiel hierfür ist das Verschwinden von alten Techniken und Erfahrungswissen in den Bereichen Handwerk, Heilkunst und Landwirtschaft. Wertvolle Welten menschlichen Wissens bleiben ungenutzt, wenn eine Ausbildung in erster Linie zu wirtschaftlichem Erfolg verhelfen soll.
Ein selbstbestimmt zusammengestellter, persönlicher Lehrplan kann ganz gewöhnlichen, aber auch sehr extravaganten Lernstoff beinhalten. Als junger Mensch möchte ich vielleicht lernen, wie ich andere mit rasanter Artistik begeistere. Später werde ich mir vielleicht eine ruhige Tätigkeit suchen, die mich genauso erfüllt. Vielleicht möchte ich lernen, wie man Bücher schreibt oder einen Verlag aufbaut.
Ein altes Sprichwort sagt: »Reisen bildet.« Denn beim Reisen begibt man sich in unbekannte Situationen, lernt Menschen kennen, entdeckt andere Lebensstile und neue Sichtweisen auf die Dinge. Reisen bedeutet im Zusammenhang der Travelling School of Life nicht Tourismus, sondern das langsame, respektvolle Einlassen auf die Umgebung. Um einen Einstieg in diese Art des Lernens – durch direkten Kontakt in einem ungewohnten Umfeld – zu erleichtern, ist es sinnvoll, der gegenseitigen Beratung viel Raum durch Internetkommunikation oder in lokalen Lernvernetzungstreffen zu geben.

Erste Schritte im selbstorganisierten Lern-Netzwerk
In Netzwerk der Travelling School of Life ist jede und jeder für sich selbst verantwortlich, findet aber bei den anderen im Netz Rat und Unterstützung. Die Rollen der Lernenden und Lehrenden wechseln flexibel hin und her – wie überall im Leben. Dabei wird vorausgesetzt, dass Menschen jeden Alters lernen wollen, weil es ihnen hilft, sich in der Welt zurechtzufinden und ihren Weg zu gehen. Es gilt, die Hindernisse zu beseitigen, die sich dabei auftun. Das funktioniert am besten in der Gemeinschaft mit anderen statt in der Vereinzelung.
In den Jahren 2007 und 2008 organisierte die Travelling School of Life den »Skill Sharing Summer« im Umland von Berlin. Dort ging es vor allem um handwerkliche Lernerfahrungen. Mit Recyc­lingmaterialien wurden Sonnenwärmenutzungsgeräte gebastelt, Lehmbau in einem alten Gutshaus erlernt, Gartenbau, Jurtenbau, und es gab auch einen Massageworkshop.
Trotz aller schönen Erfahrungen ließ sich aber nur ein kleiner Teil der vielen Ideen umsetzen. Das Projekt war auch nur auf einen kurzen Zeitraum und auf Berlin-Brandenburg begrenzt. Eine längerfristige und bundesweite Lernwerkstatt ist die Maulwurf-Gruppe. Sie erschließt sich praktisch und theoretisch den Umgang mit Erde und Samenkorn, es geht um Permakultur, Landwirtschaft, Gartenbau. Seit mittlerweile drei Jahren treffen sich nun die Mitglieder der Gruppe in unregelmäßigen Abständen, um gemeinsam kräftig zu werkeln. Es sind mehrheitlich Menschen zwischen zwanzig und vierzig Jahren, die Gärten im urbanen und ländlichen Raum pflegen. Die Teilnahme an den Treffen ist kostenlos. Für Essen, Material und die Referentinnen und Referenten werden Fördermittel aufgetrieben, und wo das Geld nicht ausreicht, wird jeweils solidarisch zusammengelegt.

Berufe lernen! 
Wenn man sich in Deutschlands Bildungslandschaft nach Möglichkeiten des selbstbestimmten Lernens umsieht, erkennt man die Oasen vor lauter Wüste kaum. Wo im Grundschulbereich und auch in der beruflichen Weiterbildung viel experimentiert wird, sieht es für junge Erwachsene, die sich spezialisieren wollen, eher trostlos aus. Es sind vielerorts Klagen über veraltete Berufsschulmethoden zu hören, über die Unterordnung unter verkrustete Betriebshierarchien, in die sich Auszubildende fügen müssen, und über unzureichende Bezahlung.
Wie kann ein frischer Wind diese Ausbildungen erreichen? Wie kann es gelingen, dass Menschen, die einen Beruf lernen, auch die Arbeitsabläufe mit neuen Augen kritisch betrachten, Konventionen hinterfragen und vieles neu gestalten können? Wie kann Lernen im Beruf als Selbsterfahrung erlebt werden? Arbeitsplätze sind auch in handwerklichen und sozialen Bereichen hart umkämpft. Eine selbstbestimmte Bildung ließe Raum, um sich unter den Auszubildenden eigenständig zu organisieren, statt aus dem Konkurrenzkampf frustriert und auf sich allein gestellt hervorzugehen.
Wer eigene Wege geht, kann dennoch einen Berufsabschluss machen. Man muss nicht zwingend eine Berufsschule besucht haben. Oft wird ein Antrag zur Prüfungszulassung benötigt, in dem nachzuweisen ist, dass man sich auf anderem Weg vergleichbares Wissen angeeignet hat, zum Beispiel durch eine mehrjährige Berufspraxis. Wichtig ist hierbei, dass die Informationen darüber, welche Kenntnisse und Fähigkeiten zur Prüfung erforderlich sind, leicht und kostenfrei zugänglich sind. Auch Schulabschlüsse lassen sich extern absolvieren. Es ist möglich, sich bei einer Behörde für die Hauptschulabschluss-, Mittlere-Reife- oder Abiturprüfung anzumelden, ohne zuvor auf einer Schule dafür gelernt zu haben.

Die Heilpraktikschule in Selbstverwaltung
Bildungsnetzwerke können Menschen zusammenbringen, wenn sie es schaffen, sich individuell zu organisieren. Für viele stellt die damit verbundene Selbstorganisation und Eigenverantwortung jedoch eine zu große Hemmschwelle dar. Glücklicherweise gibt es Projekte, die ein größeres Maß an Sicherheit, vorstrukturierten Inhalten und Regelmäßigkeit bieten, ohne dabei profitorientiert zu wirtschaften.
Die »Heilpraktikschule in Selbstverwaltung« in Berlin-Kreuzberg ist so ein Beispiel. Dort wird alles basisdemokratisch nach dem Konsensprinzip entschieden. Es gibt keine Schulleiterinnen oder Schulleiter. Die Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler entscheiden über ihr gemeinsames Vorhaben zusammen und formal gleichberechtigt. Es gibt nur eine einzige Büroangestellte, denn die Verwaltung der Schule wird zum größten Teil von den angehenden Heilkundigen selbst gestemmt – und das schon seit den frühen 80er Jahren. Damals war der Gründer einer der ersten Heilpraktikerschulen in Berlin mit der Kasse getürmt. Die Schülerinnen und Schüler übernahmen daraufhin die Verwaltung und schrieben im Konsens ihre eigenen Schulregeln nieder. Viele verschiedene Arbeitsgruppen übernehmen heute die anstehenden Aufgaben, und in seiner dreijährigen Ausbildung kann man sich jedes Jahr eine neue Arbeitsgruppe suchen. Gemeinsame Entscheidungen werden von einem monatlichen Schulplenum getroffen. Dadurch wird das Lernen eine persönliche Angelegenheit, die Atmosphäre ist offen, fröhlich – und schöpferisch chaotisch. Wie bei jeder Selbstverwaltung gibt es immer Reibungspunkte, lästige Hier­archien und verbesserungswürdige Abläufe. Und wie alle nicht profitorientierten Projekte braucht auch der »Verein zur Förderung der naturheilkundlichen Medizin« flüssiges Bares, um Kosten für Räume, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu decken. Wie viele Berliner Kollektivbetriebe aus dem Sektor der solidarischen Ökonomie ist auch die Schule Mitglied beim »RGW« (Rat der gegenseitigen Wirtschaftshilfe – Rat der Berliner Kollektivbetriebe), der der Schule in Finanzfragen mit viel Erfahrung zur Seite steht.
Die zukünftige Entwicklung scheint offen, sie könnte in zwei Richtungen gehen: Die eine Richtung wäre die größere Anpassung an den »Ausbildungsmarkt« mit Unternehmenssponsoring, niedrigen Löhnen und Schulgelderhöhung. Eine krisenfestere Richtung wäre die stärkere Einbindung in solidarische und nicht-kommerzielle Strukturen, die Kooperation mit Studentinnen und Studenten sowie Lernnetzwerken und anderen Orten selbstverwalteter Ausbildungen. Sinnvoll wäre eine Stiftung für selbstverwaltete Ausbildung, denn es gibt eine ganze Reihe weiterer Orte mit dem Anspruch auf selbstbestimmtes Lernen. Da wäre die »Schule für Erwachsenenbildung« (SFE) in Berlin, die Heilpraktikerschule »Alchemilla« in Hamburg (derzeit in einer Phase der Neuorientierung), die Kreuzberger »FilmArche« als erste selbstorganisierte Filmschule Europas, die »Insel für selbstbestimmtes Lernen« in Leipzig, und an vielen Orten gibt es Alternativ-Universitäten.
Heute steht eine wirtschaftliche Wende an. Wenn schrittweise anonyme Geldbeziehungen durch freiwillige Beiträge ersetzt werden, werden Orte, an denen Menschen spezielles Wissen und Fähigkeiten erlernen können, immer wichtiger. Wer baut unsere Häuser, baut unser Essen an, heilt uns? Der Großteil der nützlichen Basisversorgungsberufe in den Bereichen Ernährung, Soziales, Bauen und Handwerk sind derzeit äußerst schlecht bezahlt und drohen, in naher Zukunft eher weiter abgeschafft als sinnvoll erneuert zu werden.
Ein schönes Beispiel, wie es anders gehen kann, ist die von Rebeca und Mauricio Wild gegründete Pestalozzi-Schule in Ecua­dor, die in der Ausgabe 3 von Oya vorgestellt wurde. Dort führte die Gründung einer nachbarschaftlich organisierten Schule im ländlichen Raum zu einer Initiative für eine regionale Währung und zu einem Wirtschafts- und Gesundheitsnetzwerk, das die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versorgt. Die Schule wandelte sich im Lauf der Jahre zu dem Gemeinschaftswohnprojekt »Leon Dormido«, wo zusammen gewohnt, gewirtschaftet und gelernt wird.
Es ist an der Zeit, »Halbinseln« wie solche Schulen aufzubauen, in denen Menschen angstfrei lernen und Erfahrungen sammeln können. Es liegt an der Stärke und Kontinuität einer breiten Bewegung, ob kostbares Wissen erhalten bleibt und zur Entfaltung gesellschaftlicher Kreativität und Schönheit beitragen darf. 


Sabine Steldinger (27) nutzte die selbstverwaltete »Schule für Erwachsenenbildung« (SFE) zur Nichtschüler-Abiturprüfung und macht derzeit eine Ausbildung an der »Heilpraktikschule in Selbstverwaltung«.


Lust auf selbstbestimmtes Netzwerk-Lernen?
 Artikel »Berufsausbildung in Selbstverwaltung« aus der Zeitschrift »Contraste«: 
www.nadir.org/nadir/periodika/contraste/ausbildung_in_sv.htm
Selbstorganisierte Berufsausbildung: 
www.alchemilla.dewww.heilpraktikschule.dewww.filmarche.de
http://onlineinsel.wordpress.com
Literatur:
Friederike Habermann: Halbinseln gegen den Strom. Ulrike Helmer Verlag, 2009 

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