Titelthema

Wenn tausend Menschen entscheiden

Bei Klimacamps wird der Forderung nach dem Kohleausstieg Nachdruck verliehen – und zugleich der ­Ausstieg aus patriarchalen Machtstrukturen geübt.von Ruth Krohn, erschienen in Ausgabe #61/2020
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© Thomas Pushmann

Klimacamps bestehen aus vier Säulen, die für einen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft wichtig sind: Bildung, Aktionen, Vernetzung und Alternativen. Gerade der letzte Punkt macht die Camps zu besonderen Orten: Wir üben uns in einem möglichst machtkritischen, solidarischen und ökologischen Umgang. Es gibt hier nicht die Aufteilung in die tolle politische Arbeit und die notwendige Sorgearbeit, sondern wir kümmern uns gemeinsam um das Essen wie auch um emotionale Arbeit. Trotzdem werden auch hier immer wieder gesellschaftliche Machtverhältnisse reproduziert. Deshalb ist es wichtig, uralte Machtmechanismen aufzudecken.

Bei dem Camp kommen mehrere Tausend Menschen für etwa zehn Tage in unmittelbarer Nähe eines Tagebaus oder eines Kraftwerks zusammen. Größtenteils sind sie sich noch nie zuvor begegnet. Vor jedem Camp bildet sich ein basisdemokratischer Vorbereitungskreis, der nach einer Campstruktur sucht, die die Menschen nicht überfordert und mit der sie die Informationen erhalten, die sie brauchen, um in allen Situationen handlungsfähig zu bleiben. Unser Anspruch ist, dass möglichst niemand ausgeschlossen wird und die Hierarchien so flach wie möglich bleiben. Das gelingt natürlich nicht immer. Zum Beispiel verfügt jedes Camp über eine barrierearme Infrastruktur, und dennoch ist es nicht allen Menschen möglich, im Zelt auf einer Wiese zu schlafen. 

Der Vorbereitungskreis kümmert sich um die Logistik, die Öffentlichkeitsarbeit sowie das inhaltliche Programm und schafft eine Basis dafür, dass der Informationsfluss unter den Teilnehmenden während des Camps gewährleistet ist. Zu Beginn des Camps löst er sich auf. Stattdessen werden Verantwortungsbereiche fest auf bestimmte Gruppen verteilt, damit nicht alles mit Allen entschieden werden muss. So gibt es etwa Menschen, die wissen, wie die Kompostklos gereinigt und entsorgt werden und die das Wissen an diejenigen weitergeben, welche die Klo-Schichten übernehmen. Die Betreuung vieler Bereiche ist so im Vorfeld geklärt, dass gewährleistet ist, dass genug Hände in der Küche helfen und für die Nachtwache und die Kinder gesorgt ist. Wer genau welche Schichten und Verantwortlichkeiten übernimmt, zeigt sich erst beim Camp.

Nachbarinnenschaften

Mit unvorhersehbaren Situationen wie einem Unwetter müssen wir spontan umgehen. Um in solchen Fällen mit tausend oder mehr Menschen Entscheidungen zu treffen, arbeiten wir mit sogenannten Nachbarinnenschaften: Diejenigen, die in der Nähe voneinander zelten, organisieren sich in einem Rat. Diese Räte bestimmen jeweils einen Menschen, der in den »Deligiertenrat«, kurz »Delirat«, geht und dort Vorschläge aus den Nachbarinnenräten einbringt. Im Delirat erfährt die abgesandte Person, was entschieden werden soll, und trägt das wieder zurück in ihren Nachbarinnenrat. Diese Rücksprache ist wesentlich. Die Delegierten können dann aus ihren Nachbarinnenschaften oft eine gute Einschätzung geben, wenn sie nach erneuter Diskussion mit ihrer Basis wieder zusammenkommen. Irgendwann kommt der Punkt, an dem alle sich in der Lage fühlen, die Entscheidung zu treffen – wenn es keine Einwände mehr gibt; die Entscheidung hat sich im Idealfall wie von selbst herausgebildet. Das A und O bei solchen Prozessen ist, dass die Menschen ein Interesse daran haben, eine gute Lösung zu finden, und nicht ihre Position durchsetzen wollen. Dabei unterstützen Widerstandsabfragen und das Auslagern komplexer Diskussionen in Kleingruppen.

Im Vorbereitungskreis erarbeiten wir meist ein Camp-ABC. Es enthält zum Beispiel Vorgaben, wo Alkohol konsumiert und wo fotografiert werden darf, und es werden Bitten formuliert, zum Beispiel dass alle – auch Männer – aus Solidarität ein T-Shirt tragen, da Frauenkörper in unserer Gesellschaft stark sexualisiert sind. An solchen Punkten entspannen sich immer wieder Kontroversen. Jemand mit einer anarchistisch geprägten Haltung sagte zum Beispiel, dass diese Vorschriften gegen seine politische Überzeugung sprächen. Solche Themen werden zunächst in den Nachbarinnenschaften verhandelt, und, wenn es dort keine Lösung gibt, in den Delirat getragen. Meistens sind mehrere Runden zwischen Nachbarinnenschaften und Delirat nötig, um für die Positionen zu sensibilisieren, Platz zu schaffen, damit Menschen ihr Verhalten reflektieren können und Zeit ist, die dahinterstehenden Bedürfnisse mit konkreten Lösungen zu verbinden. Manchmal sind es gar nicht alle am Camp Teilnehmenden, die ein Anliegen betrifft, sondern es sind nur vier Leute mit einer starken Meinung. Die setzen sich dann zusammen und suchen nach Wegen. Es ist erstaunlich, dass es weniger um organisatorische, sondern vor allem um soziale Themen geht: Wie leben wir hier miteinander im Camp, so dass es allen gut geht? Strategie-Besprechungen spielen dabei natürlich auch eine Rolle. Dafür gibt es ein inhaltliches Programm, Workshops am Morgen und am Nachmittag, abends Podiumsdiskussionen. 

Immer wieder gibt es aber auch Situationen, in denen der Informationsfluss stockt. Um das zu verhindern, gibt es den Morgenauftakt, eine Art Vollversammlung. Manchmal tragen die Nachbarinnenschaften nicht, weil sich die Menschen darin nicht vernetzen; dann erreichen wir sie in den Morgenrunden.

Wenn es herausfordernd wird

Die Widerstandsformen gegen den Kohleabbau führen bei den Klimacamps immer wieder zu Räumungen und Konfrontationen mit der Polizei. Deshalb setzt sich eine eigene Arbeitsgruppe aus allen sicherheitsrelevanten Bereichen zusammen und hält Rücksprache mit solidarischen Anwälten, berät über Widerstands- und Aktionsformen und schafft so eine Informationsbasis, auf der eine Vollversammlung oder ein Delirat einberufen werden kann. Wenn es um zeitkritische Situationen geht – zum Beispiel wenn das Camp innerhalb von vier Stunden geräumt werden soll – hat es sich bewährt, Entscheidungen in Teile zu gliedern, denn Zeit für zwei oder drei Schlaufen zwischen Delirat und Nachbarinnenschaften ist dann nicht gegeben. Außerdem gibt es den Notfallrat, eine Arbeitsgruppe, über die alle im Vorhinein Bescheid wissen und die in seltenen Situationen selbst entscheiden darf. Dieser Notfallrat zeigt auch eine Grenze auf, wo wir unserem basisdemokratischen Anspruch nicht gerecht werden. Bisher musste er aber nur einberufen werden, entschieden hat er noch nie.

Wir fragen uns in den Camps immer wieder, wo Menschen von Diskrimminierung betroffen sind. Ich denke, dass wir es manchmal nur für kurze Zeit schaffen, wirklich nach den Bedürfnissen zu handeln. Ich erlebe oft ein Spannungsfeld: Nimmt die Gruppe einen Rat von jemandem an, der schon viele Diskussionen geführt hat, oder geht sie selbst in einen Findungsprozess? Soll ich als erfahrene Person selbst einen Rat geben? Ich erlebe aber auch – und das ist aus meiner Sicht ein roter Faden in der Klimagerechtigkeitsbewegung –, dass Frauen sich gemeinsam etwa für ein Podium vorbereiten und sich gegenseitig stärken. Ebenso gibt es Menschen, die ihr Charisma reflektieren und etwa ihre Wortgewandtheit einbringen, ohne andere zu übergehen. 

Ein Modell auch für andere Bereiche

Klimacamps gibt es seit zehn Jahren. Sie sind für mich Kristallisationspunkte für Konfliktlinien in der Gesellschaft. Wenn wir mehr basisdemokratisch entscheiden wollen, brauchen wir dafür viel mehr Arbeits- und Lebenszeit. Menschen müssen lernen, kompromissbereit zu sein und sich selbst zurücknehmen zu können. Selbstverständlich bleibt es schwierig, mit achttausend Menschen bei einem Camp alle einzubeziehen. Zuhörarbeit ist gerade dann wichtig, wenn Menschen überfordert oder gestresst sind. Spazierengehen und Füreinander-da-Sein sind deshalb wesentliche Teile unserer Arbeit. Dass das Zusammenleben immer wieder gelingt, bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass basisdemokratische Entscheidungen auch in anderen Zusammenhängen möglich sind, zum Beispiel, um das Zusammenleben in einem Stadtteil zu organisieren. //


Ruth Krohn (31) macht Öffentlichkeitsarbeit fürs »Konzeptwerk Neue Ökonomie« sowie Pressearbeit für »Klimagerechtigkeit«. Sie ist begeistert von kollektiver Selbstorganisation für eine sozialökologische Transformation. www.klimacamp-leipzigerland.de

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