Titelthema

Das Haus am Zwergenstein

Vier junge Wendländer sanieren ein ­geschichtsträchtiges Haus – und suchen kreative Wege im Umgang mit dem Bauamt.von Lore Schätzlein, erschienen in Ausgabe #58/2020
Photo
© Rainer Erhard Fotografie

In einem Wald in der »Swinmark« am Rand des Wendlands, in einer stillen Umgebung, weit entfernt vom nächsten Dorf, liegt ein großer Stein – der Zwergenstein. Er verschließt das Tor zu den »Unner­erdschen«, die sich, von den Menschen verraten, vor langer Zeit zurückgezogen haben. So heißt es in einer unter den Kindern der Region noch verbreiteten Sage.
Weiter oben auf einer Anhöhe steht ein verwunschen wirkendes Anwesen: das Haus am Galleyberg. Mitten im Wald steht dieses aus Kalksteinen gemauerte Haus, umrankt von Hecken, Gestrüpp, kleinen und großen Bäumen sowie langsam verfallenden Schuppen. Ein Holzturm mit einem Windrad und einer Bohreinrichtung neben algenreichen Wasserbecken und einer Regenauffanggrube verrät, dass sich hier einmal Menschen auf kreati­ve Weise autark versorgt haben. Ein Blick ins Innere zeigt ein Tohuwabohu aus Möbeln, Schutt und Scherben. Nicht ein Fenster ist heil, und aus einer Ritze wächst ein Strauch ins Innere des Hauses. Die Wände sind in grellen Farben gehalten und mit Schriftzügen bemalt. – So haben wir das Haus bei einem Waldspaziergang im Herbst 2019 vorgefunden. Seitdem ist ein halbes Jahr vergangen, und inzwischen hat sich dort vieles verändert.
Alles begann mit der Idee meines 21-jährigen Sohns Kolja: »Dort könnten junge Leute leben, die das Haus in aller Ruhe renovieren, aufbauen und in ­einen lebenswerten Platz verwandeln. Dort könnte ein kreativer Ort entstehen für Menschen, die in aller Einfachheit leben wollen – mit Garten und in der Schönheit des Walds.« Immer wieder kehre ich seither an diesem Ort ein, als Beobachterin, als Begleiterin, als Sorgende.
Die vier Freunde Finian, Milo, Lumi und Kolja ziehen in den Wald. Zunächst steht ihnen ein Lastwagen als Wohnraum zur Verfügung. Dort wird gekocht, Pause gemacht und geschlafen. Sie räumen das Haus aus. Fein säuberlich wird Müll getrennt. Dort steht ein Haufen gelber Säcke, da Metall, und am größten wird der Berg aus Restmüll – mehr als eine Tonne werden sie später auf eigene Kosten entsorgt haben. Einzelne Möbel werden gesäubert und dürfen im Haus bleiben.

Selbstorganisiert und gut vernetzt
Im Wendland gut vernetzt, werden die Freunde mit Rat und Tat unterstützt. Tischlereien schenken doppelt verglaste Fenster, die provisorisch eingesetzt werden. In einem der vielen, nun leeren Räume entsteht ein Lager für die heraus­genommenen Fensterflügel – alle Scheibenreste sind entfernt, so dass sie langfristig neu verglast und wieder eingesetzt werden können. Am Dach wird ein Leck geflickt, damit die feuchte Ecke an einer Zimmerdecke wieder trocknen kann.
Eines Tages taucht ein Pilzsammler auf und nimmt dankbar die Einladung zum Kaffee in der herbstlichen Sonne an. Er erzählt von der Geschichte des Hauses und ist begeistert von der Wende, die der Ort erfährt. »Das Haus war in den 1930er Jahren ein Treffpunkt für Maler, Schriftsteller und Intellektuelle«, erzählt er. »Hier wurde philosophiert und über die Freiheit der Menschen, Vegetarismus und den Sinn von Selbstversorgung nachgedacht.« Von nun an wird er regelmäßig zu Besuch kommen, mal mit Datteln im Gepäck, mal mit dem Foto einer Ziege, die irgend­wann hier alleine gelebt hat, oder mit Gartenmöbeln im Fahrradanhänger.
Auch das Außengelände verändert sich nun, denn die Freunde arbeiten nach und nach die einstige Struktur des Geländes heraus. Beete und Wege werden sichtbar gemacht, steinerne Treppen freigelegt.
Immer wieder erscheint Besuch auf dem Gelände, denn es hat sich herumgesprochen: »Da sind junge Leute, die das Haus am Galleyberg wieder bewohnbar machen!« Alle Gäste sind sichtlich erfreut über das, was dort vorgeht. Am Nikolaustag kommt eine Gruppe von Männern mit Nikolausmützen und vom Alkoholgenuss enthemmt. Auch sie werden freundlich begrüßt und ziehen nach fröhlichem Beisammensein von dannen – eine Geldspende zurücklassend, womit sie ihre Anerkennung ausdrücken. Eines Tages aber kommen Besucher, denen nicht gefällt, was sie sehen. Kurze Zeit später erscheinen Polizisten mit gezückten Waffen. Wähnen sie in den jungen Leuten Gewaltbereite? Nach einem kurzen Gespräch sind sie wieder verschwunden, um am nächsten Tag erneut zu erscheinen. Diesmal mit einem Räumungsbefehl. Das Bauamt betrachtet das Haus als baufällig und möchte nach eigener Aussage Unfälle vermeiden.
Mittlerweile haben die Freunde den Besitzer des Hauses ausfindig gemacht. Es gibt ihn wirklich und immer noch: den Herrn Doktor Galley. Zwar ist es nicht mehr der, nach dem Berg und Haus benannt sind, doch sein direkter Erbe. Fritjof Galley, der in Süddeutschland lebt und schlicht keine neuen Mieter mehr gefunden hatte, kann den Räumungsbefehl aushebeln, da das Beleben und Pflegen des Geländes in seinem Inter­esse ist. Er ist unglücklich darüber, dass das Bauamt des Landkreises Lüchow-Dannenberg den Abriss des Hauses fordert. Nach Auskunft von lokalen Handwerkern sind die vom Bauamt aufgeführten Mängel mit geringem Aufwand zu beheben und rechtfertigen keine Deklaration als baufälliges Gebäude. In dem Platz steckt – nicht nur für die Familie Galley – viel ­Geschichte, die es zu erforschen gilt. Auch die jungen Menschen interessiert, auf welches Fundament sie ihre Pläne setzten.
Mittlerweile haben die Freunde repariert, was gefährlich sein könnte: Morsche Bodenbretter wurden ausgetauscht, die Außenveranda ist mit neu gemauerten Säulen abgestützt und eine Absperrung des Geländes mit Verbotsschildern angebracht. Jetzt wären die ästhetischen Arbeiten an der Reihe: Die Farbe für den Anstrich der Innenräume steht schon bereit. Doch dann erscheint das Bauamt und verkündet: »Sofortige Unterlassung aller Arbeiten am Haus! Betreten verboten!« Die hartnäckige Begründung: Das Haus solle wegen Baufälligkeit abgerissen werden. Weil es lange leer stand, sei die Legitimation zum Bewohnen verfallen. Falls der Besitzer nicht dafür sorge, würde der Landkreis den Abriss veranlassen.

Dranbleiben, trotz Gegenwind
Es gibt überall Tausende von unbewohnten Häusern, die aus irgendeinem Grund leerstehen. Warum übt die Behörde gerade in diesem Fall solchen Druck aus? Was versetzt die Verwaltung in Angst und Schrecken? Bei so viel alternativem Leben, das sich seit dem Beginn der Proteste gegen die Atommülltransporte und das geplante Endlager in Gorleben regt und zu einer Qualität der Region geworden ist, wurde doch schon vieles mit Wohlwollen zugelassen, was rechtliche Grauzonen streift.
Die Freunde überlegen erneut, was zu tun ist. Sie wollen den märchenhaften Platz nicht mehr verlassen. Die Haushütenden hatten sich emotional schon zu sehr mit dem Ort verbunden, um einfach gehen zu können. Sie richten sich draußen ein: Anfang Februar wird eine Außenküche installiert – mit einer Plane zwischen den Bäumen als Wetterschutz. Mit Spaten und Schaufeln schaffen sie eine ebene Fläche, um einen Holzboden aufzubauen, auf dem ein großes Zelt zum Schlafen stehen kann. Trotz ­Regen, Wind und sogar Sturm fühlen sie sich dort wohl. Zur Rettung des Hauses wird mit Rechtsanwälten und dem Besitzer telefoniert und viel nachgedacht. Könnte die Gründung eines Künstlervereins eine ­Lösung sein?
Mitte Februar kündigt sich erneut das Bauamt an. In Begleitung von zehn Polizisten erscheint eine Abordnung, um das Haus zu versiegeln. Eine Menge Leute sind da – jung und alt –, um ihre Solidarität für den Erhalt des Hauses auszudrücken. Seitdem steht das Haus wieder einsam im Wald. Versiegelt. Der Kampf um den Erhalt muss nun auf anderer Ebene weitergehen.
Mittlerweile sind viele Menschen interessiert daran, dass die Geschichte dieses Orts nicht durch Abriss beendet werden möge. Wissen wird zusammengetragen. Die für die 1920er Jahre ungewöhnliche Bauweise zeigt Bauhaus-Elemente und spielt mit geometrischen Grundformen. Das Haus Zwergenstein ist nicht nur ein verwunschenes Anwesen, sondern auch von bau- und kulturgeschichtlichem Interesse – und ließe sich somit als Manifestation der Lebensreform-Bewegung neu entdecken. Zudem diente es als Zufluchtsort für regimekritische Kulturschaffende zur Zeit des Nationalsozialismus.
Ideen gibt es viele! So könnte das Haus Zwergenstein ein neuer Treffpunkt für Künstlerinnen und Künstler mit Atelier und Ausstellungen oder auch der Sitz des Vereins »Solarfestival« werden. Denn wo sonst – ohne Anschluss an die öffentliche Strom- und Wasserversorgung – wäre ein Pilotprojekt für autarke Insellösungen mit erneuerbaren Energien passender? Vielleicht wird die Bürokratie ja doch noch der Kraft eines gemeinsam forterzählten Märchens weichen …


Lore Schätzlein (57) lebt seit 24 Jahren im Wendland. Sie gestaltet das kulturelle Leben der Region als Harfenspielerin und Chorleiterin für kleine und große Menschen mit.

weitere Artikel aus Ausgabe #58

Photo
von Manfred Schnee

Klimapsychologie

Der Facharzt für Psychosomatik und Psychotherapie Stefan Ruf bringt in seinem Buch »Klimapsychologie« anschaulich Erkenntnisse aus der Psychologie in die Klima­debatte, die dort bisher weitgehend gefehlt haben. Die Fragen, die Ruf dabei leiten, sind: Warum fällt es so

Photo
von Andrea Vetter

Was tun mit Altlasten?

Andrea Vetter  Ein Gebäude neu zu bauen, ist ja immer eine Spekulation auf die Zukunft: dass die Menschen in 25 Jahren einen ähnlichen Zuschnitt ihrer Wohnung haben wollen, dass bestimmte Kulturtechniken, um Gebäudeteile zu warten, in 50 Jahren noch bekannt sein werden,

Photo
von Anja Marwege

Ah, schön warm!

»Übereinandergestapelt wie ein Verteidigungsturm« seien die vier Räume des alten Hauses seines Freundes in Südfrankreich, erzählt der Münchener Ofenbauer Fritz Kruckemeyer. Der Grundriss jenes Hauses käme seinem Ideal nahe. »Sind die Räume auf

Ausgabe #58
Altlasten lieben lernen

Cover OYA-Ausgabe 58
Neuigkeiten aus der Redaktion