Buchtipps

Kogi (Buchbesprechung)

von Ute Scheub, erschienen in Ausgabe #57/2020
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José Gabriel ist ein Mama, ein Priester-Schamane der indigenen Kogi aus Kolumbien, den ich persönlich kennenlernen durfte. Er saß in Berlin vor einem Gebäude und lächelte ein versonnenes Mona-Lisa-Lächeln. Es hat mich sehr berührt und gefreut, ihn als Hauptperson des Buchs »Kogi« wiederzutreffen, das der junge Friedens- und Konfliktforscher Lucas Buchholz schrieb.
Die Kogi in der Sierra Nevada de Santa Marta sind eines der wenigen indigenen Völker, die heute noch fast genauso leben wie vor tausend Jahren. Sie hüten ihr Territorium, weil sie überzeugt sind, dass die Sierra mit ihren vielfältigen Klimazonen auf kleinstem Raum das »Herz der Welt« ist. Sie sehen sich als die »älteren Brüder« und uns als »jüngere Brüder«, die vergessen haben, dass die Erde eine lebendige Mutter ist, der man nicht die Eingeweide in Form von fossilen Brennstoffen und Metallen herausreißt. Obwohl sie die Klimaforschung nicht kennen, sind sie über den Zustand der Natur sehr besorgt. Deshalb wendet sich Mama José -Gabriel inzwischen an die Öffentlichkeit, reist nach Europa und redet öffentlich.
Die Kogi glauben, der größte Fehler unserer westlichen Kultur sei, dass wir Leben-diges nicht mehr von Nicht-Lebendigem unterscheiden können – und deshalb die Natur töten und tote Dinge produzieren. Für sie ist alles lebendig – die Landschaft, die Berge, das Wasser, die Steine und die Gedanken. Ihre Kultur ist staunenswert gewaltfrei und egalitär. Abends treffen sich Frauen und Männer in getrennten Gemeinschaftshäusern und sprechen aus, was sie denken. Alles darf geäußert werden, nichts wird moralisch verurteilt. In ihrer Kultur geht es darum, möglichst gute Gedanken zu haben – denn diese gehen der Wirklichkeit voran.
Das Buch ist nunmehr das dritte, das ich über die Kogi lese – und das beste, reflektierteste und beeindruckendste. Lucas Buchholz schrieb es nach mehrmonatigem Aufenthalt nieder mit großem Geschick, für die komplett andere Weltsicht der Kogi Worte zu finden. Ausführlich lässt er ihre Weisheitshüter zu Wort kommen. Meine einzige Kritik: Die Weisheitshüterinnen, Sakas genannt, und die Frauen überhaupt kommen zu kurz. Alle traditionellen Gesellschaften, die gewaltfrei leben, sind geschlechteregalitär, wohl auch die Kogis. Die mitgereiste Freundin des Autors verkehrte im Frauenhaus, doch weder sie noch die Kogifrauen sprache Spanisch, sodass hier eine Lücke bleibt.
Mama José Gabriel wünscht sich, dass das Buch weite Verbreitung finden und eine Schule oder Akademie entstehen möge, um das enorme ökologische Wissen der Kogi weiterzugegeben. Wenn das geschehe, sagt der Mama, könnten Menschen »noch 80 000 Jahre« friedlich auf der Erde leben. Und er zeigt sich optimistisch: In fünfzig Jahren würden ältere und jüngere Brüder zusammen »das Wasser hüten«.


Kogi
Wie ein Naturvolk unsere 
moderne Welt inspiriert.
Lucas Buchholz
Neue Erde, 2019, 270 Seiten
ISBN 978-3890607610
22,00 Euro

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