Gemeinschaft

Mitgefühl und Vertrauen in einer Gemeinschaft von Gemeinschaften

Beim »Green Phoenix«-Treffen ­teilen Abgesandte von Gemein­schaften aus aller Welt ihre Geschichten von Glück und Leid.von Stella Veciana, Ralf Hilgers, erschienen in Ausgabe #57/2020
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© Stella Veciana

Unter dem programmatischen Titel »Green Phoenix« treffen sich jedes Jahr Menschen von Gemeinschaften aus aller Welt – diesmal aus Kamerun, Kenia, Senegal, Südafrika, Palästina, Myanmar, Australien, Estland, Russland, Schweden, Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz, Spanien, Portugal, Griechenland und Italien –, um ihre persönlichen Lebensgeschichten zu teilen. Sie erzählen dabei ebenso von ihren Erfahrungen mit Krieg, Gewalt und Klimawandel oder wie sie ihr vielseitiges Wissen für die Gestaltung zukunfts­fähiger Lebensmodelle austauschen. Auf dem Weg des achtsamen Zuhörens entsteht bei Green Phoenix jedes Jahr wieder aus der Asche der Zerstörung ein »neugeborener Lichtvogel« der Hoffnung. Das Treffen wurde 2010 von der Schweizer Schweibenalp-Gemeinschaft ins Leben gerufen und versteht sich seither als »eine Plattform, um den bevorstehenden und obligatorischen ›Systemwechsel‹ zu einer neuen und gesunden Kultur auf allen Ebenen und in allen Bereichen des menschlichen Lebens zu unterstützen«. Aus der Veranstaltung heraus sind jedes Jahr solidarische Arbeitsgruppen und Kooperationsprojekte entstanden. So wurde etwa 2015 das Projekt »RefuGEN« mit einem festen Team von Gemeinschaftsmitgliedern gegründet, das die Ankunft von syrischen Flüchtlingen auf Lesbos erleichterte.
Anders als in den vorangehenden Jahren fand die Konferenz 2019 nicht in der Schweiz, sondern in der Heilhaus-Gemeinschaft in Kassel statt. Deren Vision ist es, »die Einheit von Geburt, Leben und Tod in die Welt zu bringen«. Die gastfreundliche und großzügige Haltung der Gemeinschaft zeigte sich schon bei der Anmeldung, als sie uns Teilnehmenden ein besonderes Angebot machte: Statt für Unterkunft und Essen zu bezahlen, konnten wir einen gleichwertigen Gutschein für ein Heilhaus-Mitglied erstellen, der es diesem ermöglichen würde, im Austausch einige Tage lang in unserer jeweiligen Herkunfts-Gemeinschaft zu wohnen. So gut wie alle Teilnehmenden des Kongresses nahmen diese schöne Möglichkeit wahr. Das Heilhaus hat gut 800 Mitglieder, davon bewohnen 130 eine gemeinschaftliche Siedlung im Kasseler Stadtviertel Rothenditmold.
An einem goldenen Oktobertag spazierten wir in einer kleinen Gruppe erstmals rund um die Wohngebäude, deren verschiedene leuchtende Farben uns auffielen. Rot, Orange, Gelb, Grün und Blau sollen den inneren Energiezentren (Chakren) des menschlichen Körpers entsprechen. In jedem Gebäude überraschten uns liebevoll arrangierte Blumengestecke. Sie werden wöchentlich gewechselt und sollen beim Betrachten das jeweilige Energiezentrum aktivieren.

Trotz alledem
In dem Gemeinschaftsvertreter Philip aus Kenia jedoch weckten die Gestecke zweispältige Gefühle, da sie ihn an die kenianische Exportblumen-Branche erinnerten. »Die industrielle Rosenproduktion setzt nicht nur viele Pestizide ein, sondern verbraucht auch enorm viel Wasser«, erklärte Philip. Er beklagte, dass sich in seiner Heimat die Folgen der Erdüberhitzung bereits deutlich zeigen. 2019 litt das Land nach einer monatelangen Dürre auch noch an Überschwemmungen; es folgten die Zerstörung der Ernte, Nahrungsmittelknappheit und Hungersnot. »Durch die Feuchtigkeit verfault das mit giftigen Chemikalien konservierte Getreide oder wird von dem krebserzeugenden Pilzgift ­Aflatoxin verseucht.« Kenia zählt zu den Ländern mit dem höchsten Vergiftungsrisiko. »Hinzu kommt, dass das von Monsanto in Kenia vertriebene Saatgut eine mehrmalige Aussaat verhindert«, kritisierte Philip. Um dieser Entwicklung etwas entgegenzusetzen, ist er dabei, eine Samenbank für traditionelles Saatgut einzurichten, »allen Schwierigkeiten des Samenmonopols zum Trotz«.
Ein mitfühlendes und zugleich angespanntes Schweigen erfüllte den Raum. In uns wurde das Gefühl einer erdrückenden Ohnmacht gegenüber der gegenwärtigen, aber auch der von ihm angesprochenen »historischen Ungerechtigkeit« wach. Einige Anwesende fühlten sich emotional überfordert oder waren über die Konsequenzen des westlichen Konsums schockiert, andere sprachen von der Notwendigkeit, mehr Süd-Süd-Kooperationen zu schaffen bzw. mehr Hilfe bei der Gestaltung neuer Lebensstile anzubieten.
Die Auseinandersetzung des Heilhauses mit der Blumenproblematik ließ auch nicht lange auf sich warten. Nur wenige Tage nach dem Treffen erfuhren wir, dass die Blumen im Heilhaus aus fairer europäischer Produktion bezogen werden.
Weitere Berichte aus Afrika zeigten das ganze Ausmaß des fortwährenden strukturellen Kolonialismus: »In nördlichen Regionen, wie Sahel, ist die Regenzeit nur noch halb so lang wie in den 1950er Jahren«, berichtete der senegalesische Gemeinschaftsvertreter Ousmane. »Durch eine verantwortungslose Agrarpolitik, die den traditionellen Anbau verdrängt, werden immer mehr Waldreserven für industrielle Reis- und Tomatenfelder gerodet. Diese brauchen gewaltige Mengen an Pestiziden, die schließlich das Wasser der Flüsse vergiften.« Zum Mangel an trinkbarem Wasser kämen die schwindenden Fischreserven und die geschädigten Meeresökosysteme hinzu. Letztere würden unter anderem durch illegalen Raubbau verursacht, »zum Beispiel von Fischern aus China und Russland, die riesige Staubsauger oder Dynamit verwenden, um ihren Fang zu maximieren. Sie lassen alte Netze im Meer zurück, wodurch große Mengen an Fischen unnötigerweise sterben.« Die Konsequenzen für die Menschen seien letztlich zunehmende Armut, Landflucht und Auswanderung. Der Senegalese schließt seine Schilderung mit der Feststellung: »Der Kolonialismus ist heute aktiver denn je. Es gibt mehr ›Kolonisatoren‹, und die sind immer lebenszerstörender und brutaler geworden. Die Strukturreformen in Afrika, die durch Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds IWF verhängt werden, verschlimmern nur die Situation. Weil es dem IWF nicht rentabel erscheint, wird beispielsweise nicht mehr in Schulen oder in das Gesundheitssystem investiert. Für junge Länder wie das unsere ist diese Politik kriminell!«
Solche Berichte machten den Kreis der Zuhörenden zutiefst betroffen. Traurigkeit kam auf, aber auch der Wille, Verantwortung zu übernehmen, persönlich und gemeinschaftlich. Auf entsprechende Angebote antwortete Ousmane: »Wir wollen kein Geld, und wir wollen auch nicht auswandern. Was wir brauchen, ist Wissensaustausch, vor allem Fachwissen und Hilfe für lokale Projekte. Die italienische Gemeinschaft Damanhur hat uns durch eine Schulung in der Verarbeitung und Konservierung von Lebens­mitteln unterstützt, und die spanische Gemeinschaft Los Portales mit einer Fortbildung in der Herstellung von Ziegenkäse.« Durch eine weitere Initiative konnten 13 Klassenräume für je 50 Schulkinder gebaut werden. Das Wichtigste sei indes, »das Paradigma zu ändern und ein Bewusstsein für Alternativen zu schaffen, wie sie in Ökodörfern gelebt werden«.

Verbindende Gemeinschaftserfahrung
Unsere bewegendste Erfahrung in diesen gemeinsamen Prozessen ereignete sich im Gemeinschaftshaus, dem sogenannten Haus der Mitte. Dort kamen die Heilhaus-Gemeinschaft und die Green-Phoenix-Gemeinschaft zusammen, um an einem »Heilkreis« teilzunehmen. Die Gründerin des Heilhauses, Ursa Paul, erklärt auf der Projekt-Homepage: »Gemeinschaft ist eine Haltung der Verbundenheit mit anderen Menschen und mit dem Leben selbst. Die Fähigkeit, die Welt auch mit den Augen des Anderen zu sehen, ist die Voraussetzung für die Entwicklung von Mitgefühl und Vertrauen – den Grundlagen von Gemeinschaftsbildung.« Beim Heilkreis lud sie die Anwesenden dazu ein, mit ihrem persönlichen Heilungswunsch für sich oder die Welt in die Mitte zu treten. Aufgeregt folgten wir beide der Einladung mit unserem Wunsch nach Frieden für Katalonien, unserer neuen Wahlheimat. Im Verlauf der Sitzung spürten wir den Schmerz der Gewalt und des zähen Kampfs immer deutlicher in unseren Körpern. »Du musst den Schmerz nicht alleine tragen, alle anderen tragen ihn mit«, sagte Ursa und führte Ralf zu einem senegalesischen Teilnehmer und einer deutschen Teilnehmerin, die bereit waren, den Schmerz zu teilen. Während Ralf im Kreis weiterging, richtete sich sein gebeugter Rücken wieder auf. Diese spontane Heilung wurde von allen Anwesenden staunend wahrgenommen. Zum Schluss des Heilungsprozesses lagen wir beide uns glücklich in den Armen und erhielten den Segen vom ganzen Kreis.
Plötzlich klopfte es laut an einer Tür. Der senegalesische Teilnehmer hatte sich im Garten die Ferse gebrochen und suchte verzweifelt nach Hilfe. Ein offenbares Sinnbild erschien vor unserem kollektiven geistigen Auge: »Ein Verwundeter aus Afrika klopft an unsere Tür.« Es war, als ob durch ihn der kollektive innere Schmerz des Heilkreises sichtbar würde. Und die Tür öffnete sich: für die notwendige medizinische Versorgung, die Operation, die verlängerte Unterkunft im Heilhaus, den neu gebuchten Rückflug in den Senegal. Indem alle eine Spende gaben, konnten die Kosten gedeckt und der Schmerz des Mannes ganz pragmatisch durch die Teilnehmenden und das Heilhaus mitgetragen werden.

Live ist es noch viel intensiver
Wir können hier nicht alle geteilten Geschichten wiedergeben, und auch eine spezielle Qualität lässt sich durch einen Text kaum vermitteln: Was das Treffen der »Gemeinschaft der Gemeinschaften« so beson­ders macht, ist, dass die Geschichten von Angesicht zu Angesicht geteilt werden; dass sie zusammen durchlitten und getragen werden, um dann gestärkt neue Wege zu finden. Durch diese Erfahrung des gemeinsamen Bezeugens der Wunden der Geschichte(n) können wir, jenseits von Schuld- und Opfer­zuweisungen, ganz deutlich spüren, wie sich ein kollektives, mitfühlendes Heilungsbewusstsein entfaltet – in uns selbst, in unseren Gemeinschaften und in der Welt.
 

Stella Veciana (53) macht derzeit ein Sabbatical, nachdem sie viele Jahre als Dozentin an der Fakultät für Nachhaltigkeit der Leuphana Universität in Lüneburg zur Schnittstelle zwischen Gemeinschaft und nachhaltiger Entwicklung gelehrt und geforscht hat.
 
Ralf Hilgers (63) ist Facilitator für Gemeinschaftsbildungsprozesse nach Scott Peck sowie Forumsleiter nach ZEGG. Wie Stella Veciana engagiert er sich für das Ökodorfnetzwerk und hat jahrelange Erfahrung mit Gemeinschaftsleben. 

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