Titelthema

Wie kann ich das ­Aushaltenmüssen aushalten?

Wir reflektieren über Gemeinschaffen als eine Form ­gelebten Widerstands und stellen weitere Fragen.von Oya – Redaktion, erschienen in Ausgabe #56/2019
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Was wäre, wenn das Gehören aufhörte?

Wie kann ich mein Haus für gemeinschaftliche Aktivitäten öffnen, so dass es nicht allein Ort des Kleinfamilienlebens ist?

Ist es ein Hinderungsgrund für echtes Gemeinschaffen auf Augenhöhe, dass Rechtsformen wie Vereine oder Genossenschaften Hierarchien verlangen?

Woher nehme ich den Mut, etwas zu tun, das ich als richtig empfinde, das jedoch nach gegenwärtiger Rechtslage illegal ist?

Kann »geldleicht« zu leben auch in einer Hamburger Mietshauswohnung gelingen?

Wie schaffen wir es, Rituale so in unseren Alltag zu integrieren, dass sie Teil unserer Entscheidungsfindung und mehr als »nur« ein Anlass zum Feiern werden?

Sich grüßen, Pakete annehmen, zum Geburtstagskaffee aufkreuzen: Alltagsbeispiele nachbarschaftlicher Beziehungen. – Wie aber wird aus der Nachbarschaft wieder ein lebenswichtiges Beziehungsgefüge?

Wie kann ich nicht nur herausfinden, was ich selbst will, sondern auch, was ich im Dienst des Lebendigen in der Welt tun kann?

Kann ich in einer Landschaft zu Hause sein, die in riesige, blanke Stadien für Industrie­produktionen zerteilt worden ist? Wohin mit dem Schmerz bei ihrem Anblick?

Gemeinschaffen ist anstrengend. Wo immer Menschen gleichwürdig zusammenwirken, entstehen auch Meinungsverschiedenheiten und Konflikte. Es ist herausfordernd, sich selbst Regeln zu geben oder kollektiv Gebräuche und Traditionen zu entwickeln. Immer wieder selbstkritisch zu reflektieren, ob das Gemeinschaffen noch im lebendigen Fluss ist, kostet ebenfalls Kraft. Noch anstrengender ist es, ständig zwischen verschiedenen Welten hin und her wechseln zu müssen: wenn das Berufsleben kaum etwas mit Commoning zu tun hat, wenn ehrenamtliches Engagement durch Vereinsmeierei behindert wird, wenn das Finanzamt, die Stadtverwaltung, die Schule oder andere Institutionen mal wieder Schwierigkeiten machen.
Das Überlebenmüssen in der kapitalistischen Normalität kann so viel Energie verschlingen, dass es fast zu viel sein mag, abends auch noch zur Gründungsinitiative des örtlichen Repair-Cafés zu gehen. Womöglich habe ich zugesagt, dafür Knabberzeug zu organisieren. Zum Selberbacken war keine Zeit. Aber auf dem Weg liegt ja der Netto, dort gibt es inzwischen Biokekse, wie praktisch. Vor dem Regal beginnt das Kopfkino: Zu welchem unverantwortlichen Niedrigpreis wurden sie beim Hersteller bezogen? Trägt diese Bioware in irgendeiner Weise dazu bei, dass das Coca-Cola-Regal je aus dem Laden verschwinden wird? Wohl kaum …
Die Macht der Gewohnheiten, das ungebremste »Weiter so!« – allen Demonstrationen der Jugendlichen an den Freitagen zum Trotz – gilt es auszuhalten. Die Unvereinbarkeiten zwischen der fremdversorgten Warenwelt und dem selbstorganisierten Gemeinschaffen können Menschen in Verzweiflung stürzen. Wie gehen wir mit der tagtäglichen »Banalität des Bösen« der konsumistischen Warenwelt um? Wie mit der dadurch erzeugten strukturellen Gewalt? Wie mit ordnungspolitischen Rahmensetzungen, die Privateigentum verabsolutieren, Weltvernutzung befördern und Hierarchien stützen? Es kostet Kraft, dem Gefühl standzuhalten, nicht in diese Welt zu passen, und zu beschließen, sich auch nicht anpassen zu wollen. Manchmal bekommen das Aushaltenmüssen oder das Gefühl, dass es völlig in Ordnung ist, etwa mit einer ausgeräumten Landschaft zu trauern, ihren Platz. Aber wie oft bleiben diese Gefühle im Alltag ungesehen?
Die Geschichte der Allmenden, der Commons, des Gemeinschaffens, ist in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrtausenden immer auch eine Geschichte des Widerstands der »Gemeinen« (englisch: »Commoners«) gewesen, die sich der Einhegung ihrer Wiesen und Wälder entgegenstellten, Räte­republiken ausriefen oder Fabriken bestreikten. Heute lässt sich »Widerstand« schwieriger greifen, zu »freundlich« oder unfassbar komplex ist die uns im hiesigen Teil der Welt umgebende Lebenswirklichkeit. Dennoch findet Widerstand statt, und zwar nicht nur in den »großen« Bewegungen von Anti­globalisierungsprotest bis Zapatistenaufstand, sondern auch in vielen kleinen, auf den ersten Blick unscheinbaren Initiativen, wie wir sie auf den vorangegangenen Seiten vorgestellt haben. Gemeinschaffen als Wider­stand zu verstehen, als eine im Kern andere Praxis als jene der ständigen Übernutzung alles Lebendigen, ist ein ziemlich großer, innerer Schritt. Er setzt voraus, fühlen und formulieren zu können, was da »im Kern« anders ist.
Die Geschichte der Allmenden ist weit älter als die ihrer Einhegung. Sie hat lange vor der Entstehung nationalstaatlicher Machtstrukturen begonnen, und sie war und ist in vielen Teilen der Welt noch immer die Selbstverständlichkeit des Lebens selbst. Daher rührt ihre Überlebensfähigkeit, ihre Widerstandsfähigkeit. Sie ist weder ein altertümliches noch ein neumodisches Phänomen, sondern zeitlos. Sie reproduziert sich in jeder auf Gleichwürdigkeit beruhenden Beziehung – ob zu anderen Menschen, zu nicht-menschlichen Wesen oder zur Erde als Ganzer. Niemand hat sich Gemeinschaffen jemals als Ideologie »ausgedacht«. Muster des Commonings werden nicht er-funden, sondern ge-funden. Diese Unmittelbarkeit ist die »Macht der Commons«. Doch wie wird sie wirksam? Wie kann sie schließlich gesellschaftliche Strukturen, wie Rechtsformen, Arbeitsweisen oder Regierungs­formen, verändern? Die Artikel in dieser Ausgabe können das nicht beantworten. Aber sie regen dazu an, die kleinen Beispiele des Gemeinschaffens als Teil einer langen Traditionslinie zu betrachten, die nachweislich – trotz Jahrtausenden voller Krieg und Unterdrückung – nicht aus der Welt zu schaffen ist.
In einer Zeit, in der die menschengemachte Erdüberhitzung das Überleben unserer eigenen wie auch das vieler anderer Arten gefährdet – und zwar ernsthafter, als es die Prognosen vorsichtiger Fachleute nahelegen –, wird es zunehmend wichtiger, uns an diese Qualität der Gleichwürdigkeit zu erinnern. Die »Archive« unserer Geschichte mögen »zerstörte Städte, ausgedörrte Felder, schrumpfende Wälder und sterbende Flüsse« sein (Arundhati Roy) – doch in uns allen lebt auch die Erinnerung an eine andere Geschichte, an ein anderes Sein fort. Darauf gründet unsere Hoffnung – und Hoffnung ist etwas anderes als Optimismus.

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