Bildung

Vom Leisten zum Sein

Wer sich Kompetenzen aneignet, um freies Lernen gut zu begleiten, lernt ­dabei vor allem viel über sich selbst.von Kira Petersen, erschienen in Ausgabe #56/2019
Photo
© Ramona Belkhir

Mit Leistung kenne ich mich aus. Ich komme aus dem, was in meinem neuen Kontext als »altes System« bezeichnet wird, und ich war gut im Leisten: Huma-nistisches Gymnasium, Einser-Abitur, Philosophie- und Politikstudium, später Promotion an der Elite-Universität Harvard, und dann Juniorprofessorin an einer Hochschule in den USA. Wirklich glücklich war ich nicht. Meine eigenen Bedürfnisse habe ich so wenig wahrgenommen und meine Grenzen so oft überschritten, dass meine Seele mir vor einigen Jahren schließlich ein sehr deutliches Stopp-Schild vorgehalten hat. Seitdem versuche ich herauszufinden, was das bedeuten kann: einfach sein zu dürfen, ohne etwas leisten zu müssen. Meine Suche hat mich über Umwege an freie Schulen geführt, in Gemeinschaft und zu einer ungewöhnlichen Ausbildung für alternative Pädagogik unter der Überschrift: »Lernen von innen.«
So kam es, dass ich diesen Sommer – zusammen mit zwölf anderen Pio­nierinnen – den ersten Jahrgang der »HerausBildung für Lernbegleiter_innen in freien Bildungszusammenhängen« abgeschlossen habe. Ins Leben gerufen wurde diese HerausBildung – das Wort »Ausbildung« passt nicht mehr zu der selbstverantworteten Art des Lernens, die hier ermöglicht wird – von Oswald Rabas, Rüdiger Bachmann und Eika Bindgen in der Zukunftswerkstatt Schloss Tempelhof. Oswald Rabas und Rüdiger Bachmann haben in den vergangenen 20 Jahren freie und aktive Kindergärten und Schulen gegründet, geleitet und Teams solcher Schulen gecoacht. Eika Bindgen leitet die Schule für freie Entfaltung in Tempelhof als geschäftsführendes Vorstandsmitglied. Alle drei erleben täglich, mit welchen Herausforderungen Menschen konfrontiert sind, die Kinder in ihrem selbstbestimmten Lernen begleiten wollen, selbst aber freies Lernen nicht kennengelernt haben.
Sie stellen Fragen wie diese: Wie können Erwachsene selbst so mit Liebe, Würde und Selbstgefühl genährt werden, dass sie dieses Nähren an die Kinder weitergeben können? Im leistungsorientierten Bildungssystem, aus dem ich komme, wird diese Frage nicht gestellt. Oswald Rabas begann das erste Modul in diesem Sinn mit einem Zitat von Romano Guardini: »Das erste Wirkende eines Erziehers ist sein Sein. Das zweite, was er tut. Und das dritte erst, was er sagt.« Es ist erstaunlich, was passiert, wenn wir diese Einsicht ernst nehmen!

Sich selbst wandeln
Während der zwei Jahre der HerausBildung geht es folgerichtig darum, die eigenen inneren Haltungen zu wandeln, denn »wenn wir uns mit neuer Erziehung auf grundsätzliche Weise auseinandersetzen, merken wir, dass es hier nicht nur um die Kinder geht, sondern darum, dass wir selbst darauf gefasst sein müssen, uns Veränderungen zu stellen, die – ob wir sie bewusst anstreben oder nicht – mit einer neuen Qualität des Umgangs mit Kindern Hand in Hand gehen«, schreibt Rebeca Wild, Begründerin der nicht-direktiven Erziehung. Das liest sich so leicht, hat aber tiefgreifende Konsequenzen, denn innere Haltungen transformieren sich nicht ohne intensive Prozesse und Erschütterungen. So war es zumindest bei mir.
Eine nicht-direktive Haltung im Umgang mit Kindern kann ich nur einnehmen, wenn ich mir bewusstmache, wie viele Wertungen, unbewusste Urteile und Ängste in mir selbst oft unbemerkt in alltäglichen Interaktionen mitschwingen. Mich diesen inneren Dämonen zu stellen, hat schmerzhafte Momente ausgelöst. So wurde ich beispielsweise in einer Aufstellung meiner inneren Anteile mit der Wut und Verzweiflung der »inneren Lebensfreudigen« konfrontiert, die in meinem bisherigen Leben neben der dominanten »inneren Müsserin« viel zu wenig Raum bekommen hat.
Julia Jobst, eine andere Teilnehmerin, beschreibt es so: »Das, was wir hier tun, ist etwas Essenzielles, denn jeder begleitet entweder seine Kinder, seinen Partner oder zumindest und auf jeden Fall sich selbst durchs Leben. In den zwei Jahren sind – ohne dass ich nach ihnen gesucht hätte – meine Glaubenssätze herausgekommen und haben mich mit sich konfrontiert. Und nun habe ich den Eindruck, dass etwas in mir rund geworden ist.«

Selbstbestimmung als Schlüsselqualifikation
Für Rüdiger Bachmann geht es um Selbstbestimmung – auch als Schlüsselqualifikation für die bevorstehenden ökologischen, gesellschaftlichen und spirituellen Transformationen. Noch vor zwei Jahren hätte ich mich ohne Frage als selbstbestimmt bezeichnet, als kritisch denkende Frau. Aber wenn ich genau hinsehe, dann hat sich die Leistungsprägung in mir mit inneren Kritikern, Zweiflern und Sklaven­treibern so festgesetzt, dass sie meine Begeisterung, meine Kraft und meine Lebendigkeit immer wieder gedämpft und meine Wirksamkeit behindert hat – sogar wenn ich Dinge getan habe, die ich selbst gewählt hatte.
Gesucht habe ich ein Bildungsumfeld, in dem junge Menschen mit Spaß und Begeisterung lernen können, ohne an Noten oder Lebenslauf zu denken. Jetzt bin ich davon überzeugt, dass es um noch mehr geht – nämlich darum, Kinder vor direktiven Eingriffen, Urteilen und Belohnungen so zu schützen, dass sie den Kontakt zu ihren tieferen Interessen und Bedürfnissen nicht verlieren und von innen heraus wirklich frei entscheiden können. Wenn Kinder und Jugendliche in diesem Sinn selbstbestimmt sind, sind sie nicht mehr durch äußere Anreize, durch Konsum oder Ersatzbefriedigungen manipulierbar. Und nur dann wird sich wirklich etwas ändern, nur dann können sie wirklich neue, nachhaltige und gemeinschaftliche Ansätze entwickeln. Unsere Aufgabe als Lernbegleitende ist es deshalb, die Fähigkeit der Kinder, sich selbst zu vertrauen, zu schützen. Und das können wir nur, indem auch wir zu vertrauen lernen.
Unsere Abschlusswoche war intensiv, feierlich, kreativ und voller Humor und Herzenswärme. Natürlich gab es keine Prüfungen und auch keine Zensuren. Stattdessen feierten wir den reichhaltigen individuellen Ausdruck in unseren persönlichen Rückblicken und Abschlussarbeiten. Eine Teilnehmerin hat Masken zu verschiedenen inneren Anteilen gebaut, eine andere hat ein Baumscheibenraster zu den Kompetenzen von Lernbegleitenden entwickelt, einer hat gesungen, und eine aus ihrem ersten Buch vorgelesen. Meine Abschlussarbeit war im Vergleich dazu doch wieder eher akademisch: Mit-Pionierin Julia Förster und ich haben ein Konzept für eine freie Hochschulreife entworfen, das persönliche Reife und Orientierung einschließt.

Freies Lernen muss weitergehen
Ich werde mich im Sinn dieses Konzepts weiter dafür einsetzen, dass Lernen als aktiver, selbstgesteuerter Prozess nicht nur an freien Schulen anerkannt wird, sondern auch darüber hinaus: durch ­einen Zugang zum Studium jenseits des Gefeilsches um Zehntelnoten im Abi-Schnitt, durch ­einen anerkannten Raum für die Jahre der Orientierung nach der Schule und durch Unterstützung für die freien Bildungs­alternativen, die sich junge Menschen schon jetzt selbstbestimmt erobern.
Die Zeit ist reif für neue Wege. Die HerausBildung wurde nach viel Übersetzungshilfe vom Neuen ins Alte durch die Agentur für Arbeit zertifiziert und hat damit eine kleine Bresche ins alte System geschlagen. Währenddessen zeigen selbstwirksame junge Menschen auf den Straßen und durch zukunftsweisende Ansätze (Überwindung von Tausch- und Verwertungslogik, selbstorganisierte Bildungspfade, neue Regenerations- und Kommunikationskultur, Fridays for Future, Extinction Rebellion), wie es aussehen kann, im und für das Wirken zu lernen und die Zukunft mitzugestalten: gleichwürdig, gemeinschaftlich und vernetzt, selbst- und weltverantwortlich, dezentral, soziokratisch, bunt, kreativ, spielerisch und lebensbejahend.


Kira Petersen (50) ist an der »Schule für Freie Entfaltung« in Schloss Tempelhof und im Projektbüro »potentiale entfalten« tätig. Sie spinnt mit anderen an neuen Ideen für Orientierungsjahre und freie Hochschulreife.

Vielfältige Erfahrungsräume
www.lernenvoninnen-dieakademie.de
www.potentialeentfalten.de
www.schloss-tempelhof.de/schule
www.freiebildungsalternativen.de
www.orientierungszeiten.info

weitere Artikel aus Ausgabe #56

Photo

Geht Commoning im Verein?

Das Commons-Institut ist kein Ort, sondern eher ein Netzwerk. Seine Mitglieder sprechen gern von einem »nomadischen Institut«. Es ist immer gerade dort, wo Menschen, die sich zugehörig fühlen, etwas tun: Sie treffen sich zum internen Austausch, organisieren Veranstaltungen,

Photo
von Jochen Schilk

Die Walnuss (Buchbesprechung)

In Oya 51, »Garten Erde«, zeigten mehrere interessante Beiträge, dass die Besinnung auf Waldgartensysteme – die früheste bekannte Form von Landwirtschaft! – Lösungen für eine enkeltaugliche Ernährungsweise bereithält. Das Titelbild und ein

Photo
Bildungvon Luisa Kleine

Lernen in Bewegung

Ich stehe inmitten eines riesigen Menschenmeers mit bunten Plakaten, auf denen Sätze stehen wie »Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr unsre Zukunft klaut!« oder »Dumbledore hätte das nicht zugelassen!«. Heute haben sich in Berlin 270 000 Menschen zum

Ausgabe #56
Hüten statt haben

Cover OYA-Ausgabe 56
Neuigkeiten aus der Redaktion