Gemeinschaft

Ost begegnet West

Ein Beispiel für kollektive Traumaarbeit.von Ina Krause, erschienen in Ausgabe #56/2019
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© Frank Scherer

Gut 400 Menschen stehen sich gegenüber, getrennt durch eine symbolische Mauer. Was hier im großen Raum beim »Celebrate Life«-Festival im August 2019 Gestalt annimmt, ist aktuell im ganzen Land spürbar: 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Spaltung zwischen Ost und West noch immer deutlich wahrnehmbar. Angeheizt durch die Wahlerfolge der AfD in den neuen Bundesländern, wird im politischen Raum aufgeregt nach den Ursachen gesucht. Viele materielle Unterschiede werden benannt, doch werden dabei die tieferen Schichten der unterschiedlichen Lebenserfahrungen oft kaum berührt; die emotionale Wucht der Polarisierung wird so nicht verständlich.
Anders ist es auf dem von dem sozial engagierten Visionär Thomas Hübl initiierten Festival, bei dem versucht wird, die Erfahrungen und Verletzungen hinter der Spaltung zu betrachten. Mit einer großen Ost-West-Aufstellung wird ein Prozess des sogenannten Global Social Witnessing (»globale soziale Zeugenschaft«) umgesetzt. Diese Bewusstseinspraxis widmet sich der Integration von kollektiven Traumatisierungen und dem daraus entstehenden Gefühl der Getrenntheit. Im Fokus steht – neben den realen Unterschieden auf wirtschaftlicher, sozialer und politischer Ebene – die gefühlte Spaltung, die sich in Vorurteilen und Einstellungen zueinander ausdrückt. Man denke etwa an die Titulierung der Westdeutschen als »Besser-Wessis« oder die Bezeichnung der östlichen Bundesländer als »Dunkel-Deutschland«.
Wie kann diese erlebte Getrenntheit – die zumeist dem ­jeweils anderen Landesteil vorgeworfen wird – individuell und kollektiv so fühlbar gemacht werden, dass sie zu einer Integration der jeweils eigenen Anteile führt und eine Verantwortungsübernahme möglich macht? Es war das Anliegen des Ost-West-Dialogs auf dem Celebrate-Life-Festival, zunächst einmal in der Gesamtgruppe eine größere Bewusstheit über diese sonst weitgehend unbewusste Dynamik zu ermöglichen. Denn die »Abbildungen« im Bewusstsein der Gesellschaft(en) im Westen und im Osten darüber, was im Prozess der Wiedervereinigung Deutschlands geschah und was die heutige Lebensrealität ist, stimmen oft nicht überein.
Um diese unterschiedlichen Geschichten in einen Dialog treten zu lassen, wurde die Methode einer systemischen Aufstellung gewählt. Die Großgruppe teilte sich in die aus dem Osten Stammenden und diejenigen mit einer West-Biografie auf. Jeweils zwanzig Menschen aus jeder Gruppe, die den Impuls spürten, Sprecherinnen und Sprecher für ihr Herkunftskollektiv zu sein, saßen sich mit etwas Raum dazwischen frontal gegenüber. Hinter der Riege der zwanzig Sprechenden saßen alle anderen aus dem jeweiligen Teil Deutschlands. Sie waren aufgerufen, tief zuzuhören und achtsam ihre eigene körperliche, mentale und emotionale Resonanz zum Geschehen zu beobachten. Dadurch bildeten sie einen Bewusstseinsraum, der den Prozess trug. Zwischen den beiden Gruppen wurde im Verlauf der Sitzung eine symbolische Mauer aus Ziegelsteinen ausgelegt.
Die Stellvertreterinnen und Stellvertreter beider Seiten begannen dann, in kurzen persönlichen Sätzen auszudrücken, was in ihnen vorging und was gesagt werden wollte – ganz im Sinn des »Collective Voicing«, einer Methode aus der Theaterarbeit, bei der eine individuelle Stimme spricht und dabei auch das Kollektive transportiert. Zwischen den einzelnen Aussagen wurde Raum zum Nachspüren gelassen. Dies sind einige der Punkte, die thematisiert wurden:
→  Während des symbolischen Mauerbaus ging eine Welle von Schmerz und Weinen durch den Raum.
→  Von einigen wurde der Mauerbau auch als Erleichterung erlebt, als Schutz vor der Überflutung aus dem Westen, als Schutzraum für die Suche nach einer eigenen Utopie.
→  Mit der Bürgerbewegung im Osten war bei vielen Menschen auch die Hoffnung auf etwas ganz Neues, auf ein neues politisches System verbunden, das weder der Kapitalismus der BRD noch der Sozialismus der DDR sein sollte.
→  Es existiert eine tiefe Enttäuschung über das System des Westens, das doch die Freiheit bringen sollte, aber viele »Versprechen« nicht eingehalten hat.
→  Die »Wiedervereinigung« verlief auf eine Art und Weise, die eher eine Übernahme des Ostens durch das System des Westens war.
→  Von einem Mann, der früher mit einer Maschinenpistole an der deutsch-deutschen Grenze stand, wurde Wut geäußert, dass Menschen von den Systemen gegeneinander als Feinde aufgestellt werden.
→  In den Vorurteilen (und auch im Selbstbild) wird den Menschen im Osten eine Verlierer-Mentalität zugeschrieben, den Menschen im Westen eine Gewinner-Mentalität.
→  Trauer über den Verlust von vielen guten gemeinschaftlichen Errungenschaften im Osten wurde ausgedrückt.
→  Das Misstrauen ist bei vielen Menschen aus dem Osten noch immer tief eingegraben: Kann man wirklich frei sprechen? Die Angst vor der »Staatssicherheit« und davor, abgehört zu werden, ist noch lebendig.
Vieles davon war bekannt, manches aber auch überraschend für die jeweils andere Seite. Entscheidend bei dieser Art von Arbeit ist jedoch die innere Wirkung, die durch eine direkte emotionale Begegnung und nicht durch den Austausch von Fakten entsteht. Durch die Aufstellung kamen zuvor unbewusste Dynamiken in den Bewusstseinsraum der Gesamtgruppe des Festivals. Traumatisierungen erhielten eine Stimme. Der Prozess begann vorsichtig, um sich dann zusehends zu verdichten und zu intensivieren. Das war sehr berührend und weckte Hoffnung. Es eröffnete sich die Chance für einen gemeinsamen Lernprozess, der Spaltung und Vorurteile überwindet und Heilung möglich macht. Ein essenzieller Dialog war in Gang gekommen, der als Neubeginn in der gemeinsamen Beziehung erlebt wurde.

Integration ist möglich
Thomas Hübl beschreibt seine Erfahrungen mit solchen Trauma-Prozessen: »Bei der Arbeit mit großen Gruppen in Deutschland und Israel, die beide Erben eines bedeutenden kollektiven Traumas sind, beobachtete ich tiefe Öffnungen in gemeinsamen unbewussten Schmerzen. Ein Trauma zwingt unerträgliche Angstzustände an die Oberfläche. Wenn wir es nicht ertragen können, unserer Angst zu begegnen, wählen wir Muster der Trennung, Dislokation oder Dissoziation – das heißt, wir dämpfen und deaktivieren Funktionen unseres Bewusstseins. Auf diese Weise werden die Psychen traumatisierter Menschen häufig über längere Zeiträume fragmentiert. Eine Kultur von traumatisierten Personen ist ein Speicher für ungelöste Konflikte, uneingestandenes Leiden, im Schatten gehalten und auf andere projiziert.«
Was die Integration kollektiver Traumata betrifft, so kommt laut Thomas Hübl in diesem Prozess – anders als bei reinen Gesprächsformaten – der »Verkörperung« der Erfahrungen eine zentrale Bedeutung zu: Der Verstand habe sich vom Körper – der Heimat der Emotionen, der Erinnerung, der Empathie und des kreativen Bewusstseins – gelöst. Die Wiederverkörperung sei ­Voraussetzung für Heilung – und das gelte für die individuelle Ebene der Menschen ebenso wie für Institutionen und den gesamtgesellschaftlichen Bereich. Anders ausgedrückt: Die Wahrheit kann nicht durch den Intellekt allein verstanden werden; wir müssen sie verstehen und verkörpern, das heißt: sie leben.
Um die bei der Aufstellung aufkommenden Erfahrungen zu integrieren, gab es in den Dialogen und Kleingruppen des Festivals weiterführende Angebote. Wenn eigene innere Prozesse angestoßen waren, bestand etwa die Möglichkeit, sich für ein Gespräch an das Assistenten-Team zu wenden. Das Thema wurde zudem am nächsten Tag in einem von Barbara von Meibom und Sven Werchan geleiteten Workshop »Wir Kinder des Kalten Krieges. Auf der Suche nach dem Besten von Ost und West« fortgeführt. Barbara von Meibom gibt folgende Beispiele zur Selbsterforschung: »Ost und West tragen in sich das Erbe unterschiedlicher Werte­orientierungen (Gemeinschaft/Solidarität/staatliche Fürsorge versus Individualismus/Konkurrenz), die bis in die Gegenwart fortwirken. Verständigung kann geschehen, wenn wir uns die Wirkkräfte im kollektiven Unbewussten vergegenwärtigen: Westlich sozialisierte Menschen können sich darüber bewusst werden, dass die Scham gegenüber der eigenen Geschichte noch fortwirkt. Östlich sozialisierte Menschen können sich des nie thematisierten Autoritarismus bewusst werden und sich dem doppelten Trauma einer verlorenen Identität und den daraus resultierenden Sicherheitsbedürfnissen stellen.«
Ein solcher Prozess erscheint mir als Basis für echtes Zusammenwachsen und für die Integration aller Anteile. Auf dem Festival konnten wir das exemplarisch mit einigen Hundert Menschen durchführen. Das Wesentliche bei einem Global-Social-Witnessing-Prozess ist, dass um die Protagonisten des Konflikts herum ein Achtsamkeitsraum von tief zuhörenden Menschen gebildet wird. Ein Motto für die eingestimmte Zeugenschaft könnte sein: »Sei präsent; fühle was du wahrnimmst, was auch immer es ist; bewerte es nicht.« Je mehr sich jede und jeder einzelne darauf einlassen kann und ganz präsent bei sich und beim Geschehen in der Gruppe ist, desto intensiver und tragender wird das gemeinsame Energiefeld. Der eigene Innenraum wird zum Raum der Gruppe und umgekehrt.
Das Verständnis der an dem Prozess auf dem Festival beteiligten Menschen darüber, was beim Vorgang der Wiedervereinigung abgelaufen ist und wie sich das heute noch auswirkt, hat sich synchronisiert und erweitert. Auf diese Weise konnten sich Verletzungen ausdrücken und bewusst werden. Mir scheint, dass sich durch derartige systemische Dialogprozesse verfeindete und getrennte Gruppen in eine echte Begegnung bringen lassen. Die Heilung von traumatischer Vergangenheit in einer Gesellschaft – oder von Konflikten zwischen Ländern, Völkern und Nationen – könnte auf diese Weise initiiert werden.


Ina Krause (62) arbeitete als TV-Filmproduzentin. Heute ist sie Kunsttherapeutin und macht PR und Social Media bei Thomas Hübl.


Dialoge vertiefen
Mehr zu Thomas Hübls Projekt für kollektive Traumaintegration: www.pocketproject.org
»Global Social Witnessing«-Seminar an der Universität Witten/­Herdecke: www.globalsocialwitnessing.org
Dialog Ost-West, initiiert von Barbara von Meibom:
www.communio-fuehrungskunst.de/dialog-ost-west
Weitere verwandte Ansätze
Soziale Therapie in Dresden: gespraechs-bereit.de
Biografiearbeit dritte Generation Ost: mein-leben-entdecken.de

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