Titelthema

An die untote Gefährtin

Cora Grohmann hat einige Fragen an ihre Kunststoffzahnbürste.von Cora Grohmann, erschienen in Ausgabe #53/2019
Photo

Ich habe mich nie gefragt, woher du kommst. Du warst einfach immer da. Ich weiß auch nicht, was mit deinen Vorgängerinnen passiert ist, für mich seid ihr eh alle gleich.
Deine Urahnen sind kleine Tiere und Pflanzen, die vor 100 Millionen Jahren im Meer trieben. Zusammengequetscht, verdichtet, eingeschlossen, Faulschlamm, Erdöl. Deine Urenkel sind Plastikpartikel, die auch noch in Millionen von Jahren im Meer treiben werden.
Dazwischen bist du. Bin ich. Ein zweibeiniges Säugetier, das kaut, schluckt, Erdöl aus der Tiefe pumpt, Maschinen konstruiert, die das Erdöl so lange verdauen, bis weißblaue Plastikstäbe mit Nylonborsten geboren werden.
Zwei Gebilde von eigenwilliger Schönheit – eines davon hält sich für den König der Welt und steckt sich das andere in den Mund. Jeden Tag, drei Minuten, morgens und abends. Das andere bist du, und dir ist alles egal, denn du liegst im Badezimmer und wartest auf den Moment, in dem du die Bühne meines Lebens betrittst, indem ich dich greife, beschmiere, begieße, umschließe und mich an dir reibe; so lange, bis wir gemeinsam Schaum schlagen und dieses befriedigende Gefühl eintritt.
Ich muss dabei nicht denken, wir sind uns so vertraut, wir wiegen uns in Trance. Du bist der rote Faden, der sich durch mein ganzes Leben zieht. Meine Bakterien wohnen in dir, deine Weichmacher wandern in mich. Meine Mundflora ist so einzigartig wie mein Fingerabdruck. Ob es mir gefällt oder nicht, du bist ein Teil von mir – weil du »meine« Bakterien hinwegfegst und beherbergst.
Ohne dich wäre ich aufgeschmissen, verletzlich. Vielleicht würde ich gekrümmt in der Ecke liegen und warten, bis mir jemand den Zahn zieht. Du bist das Machtwort, das ich mit den Bakterien in meinen Mund spreche, nachdem ich sie fleißig mit Zucker gefüttert habe.
Denk nicht, dass das Liebe ist! Bald kommt der Moment, in dem ich dich für unwürdig befinde, in einen gelben Sack stecke, kurz denke, dass ich endlich mal auf deine hippen Cousinen aus Holz oder Bambus umsteigen sollte, und du endgültig aus meinem Leben und Erleben verschwindest. Kaum zu glauben, dass du danach weiterhin existierst!
Ich kenne deine Perspektive nicht. Oder anders: Ich traue dir keine Perspektive zu.
Obwohl du mir so nah bist und so verlässlich dienst, würdige ich dich weniger als den Regenwurm in der Erde oder die Wolke am Himmel. Vielleicht, weil du nur 1 Euro 89 gekostet hast. Vielleicht, weil ich intuitiv spüre, dass du zu steif bist, um flexibler Teil dieses großen planetaren Tauschfests von Atomen zu sein.
Irgendwas an dir kann nicht ganz sauber sein – warum bist du denn so unfehlbar, so glatt, so passiv, auf so mysteriö­se und schwer nachvollziehbare Weise in mein Leben gestolpert, so punktgenau identisch mit deinen Milliarden Zwillingsschwestern? Also strafe ich dich eben mit Ignoranz, benutze dich, ersetze dich.
Wärest du meine Grabbeigabe, so fände man in vielen hundert Jahren vielleicht nur noch dich und meine Zähne – falls du nicht zuvor vom Zahn der Zeit zu Mikroplastikpartikeln zermahlen worden wärest. Vielleicht würden diese dann irgendwann vom Wind verweht und gelangten über die Kanalisation oder den Leib eines Wanderfischs in die Weltmeere, wo sie mit unzähligen anderen Polymeren Plastikkontinente bilden und bis in alle Ewigkeit Kreistänze der Unsterblichkeit aufführen.
Ich weiß nicht, was es ist, aber es tut mir leid. Für dich und für mich. Jede ­Minute werden mehr und mehr von deinen Zwillingsschwestern und deinen unzähligen Nichten und Cousinen durch meine Spezies in diese unbarmherzige Starre irgendwo zwischen Werden und Vergehen versetzt.
Ihr hängt fest wie Untote, geistig und seelisch leblos und könnt doch nicht sterben. Könnt nur warten und quälend langsam zerfallen, bis eure untoten Fetzen irgendwann alle Winkel des Lebens durchdrungen haben werden.
»Wie kann ich dich erlösen?«, denke ich bei mir. – »Schluss mit dem Plastikzeitalter«, meine ich dich raunen zu hören. Vielleicht war es aber auch nur dein übliches »Schr-ddd, schr-ddd, schr-ddd!«, während ich dich energisch von vorne nach hinten schrubbend durch meinen Mundraum führe.


Cora Grohmann (20) ist derzeit mit der Wander­uni in Deutschland unterwegs und verspürt von Zeit zu Zeit unbändige Lust, die Dinge anders zu machen.

weitere Artikel aus Ausgabe #53

Photo
von Stefan Sylla

Kartografie und Erdverbundenheit

Ich habe an Karten geglaubt. Als Jugendlicher war es eine Liebhaberei, später, als ich Geografie studierte, wurden Karten zum wichtigen Instrument. Nach dem Abschluss war es die Kartografie, die mir den Lebensunterhalt sicherte, die mir das Gefühl gab, gebraucht zu sein, und die zum

Photo
Gemeinschaftvon Roman Huber

Auf den Spuren eines Demokratie-Experiments

Das Beispiel der irischen Bürgerversammlungen legt nahe, dass es sowohl möglich ist, Gemeinschaftsprozesse auf die Gesamt­gesellschaft anzuwenden, als auch in einer parlamentarischen Demokratie kollektive Intelligenz zu fördern. Für ­Roman Huber vom Verein »Mehr Demokratie« war dies Grund genug, sich zusammen mit einer Gruppe von Demokratieforschern die irischen Verhältnisse genauer anzuschauen.

Photo
Bildungvon Joshua Conens

Fähigkeiten entstehen beim Tun

Die Welt geht zugrunde – und brav gehen junge Menschen in die Schule. Außer freitags. Da geht es endlich ums Ganze. Was wäre, wenn jeden Tag Freitag wäre? Der Spielfilm »CaRabA« zeigt eine Welt, in der es keine Schulen im heutigen Sinn gibt, in der junge Menschen

Ausgabe #53
Unter Leuten

Cover OYA-Ausgabe 53
Neuigkeiten aus der Redaktion