Die Kraft der Vision

Verwandt im Chthuluzän

Nach ­Anthropozän, Kapitalo­zän und Plantago­zän kommt: Verwandtschaft.von Donna Haraway, erschienen in Ausgabe #53/2019
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© Rusten Hogness

Zweifelsfrei haben anthropogene Prozesse inter- und intraagierend mit anderen Prozessen und Spezies planetarische Wirkungen gezeitigt, und zwar seit unsere Spezies registriert werden kann (ein paar Zehntausend Jahre); und Landwirtschaft hatte daran einen großen Anteil (ein paar Tausend Jahre lang). Selbstverständlich waren von Anfang an Bakterien und ihre Verwandten die größten Terraformer (und Reformer) weltweit, auch sie im Zusammenspiel mit unzähligen Inter-/Intra-Aktionen (unter anderem mit Leuten und ihren Praktiken, technischen und anderen). Die Ausbreitung von samenverteilenden Pflanzen Millionen Jahre vor der menschlichen Landwirtschaft war eine planetenverändernde Entwicklung wie viele andere revolutionäre, evolutionäre, ökologische, entwicklungsgeschichtliche, historische Ereignisse auch.
Leute haben sich schon früh und kraftvoll in dieses unbescheidene Getümmel gestürzt, lange bevor sie/wir jene ­Kritter wurden, die später Homo sapiens genannt wurden. Aber ich denke, dass Fragen nach Bezeichnungen für Anthropozän, Plantagozän und Kapitalozän eher mit Maßstab, Frequenz/Geschwindigkeit, Synchronizität und Komplexität zu tun haben. Bei systemischen Phänomenen müssen folgende Fragen vordergründig sein: Wann werden graduelle Veränderungen zu Veränderungen in der Sache? Wie wirken sich biokulturell, biotechnisch, biopolitisch, historisch situierte Leute (nicht »der Mensch«) verglichen und kombiniert mit den Wirksamkeiten anderer Arten-Assemblagen und weiterer biotischer/abiotischer Kräfte aus? Keine Art handelt allein, nicht einmal unsere eigene arrogante, die auf Basis sogenannter moderner, westlicher Skripte so tut, als würde sie aus artigen Individuen bestehen. Es sind Assemblagen organischer Spezies und abiotischer Akteure, die Geschichte machen, evolutionäre und andere auch.
 

Wendepunkt Anthropozän
Aber existiert ein Wendepunkt der Konsequenzen? Ein Wendepunkt, der die Devise für das »Spiel« des irdischen Lebens für jeden und alles verändert? Es ist mehr als der Klimawandel; es sind auch die außergewöhnlichen Belastungen toxischer Chemie, des Bergbaus, des nuklearen Abfalls, der Schwund von Seen und Flüssen über und unter Land, die Vereinfachung von Ökosystemen, enorme Genozide unter Leuten und anderen Krittern et cetera, et cetera, all das in systemisch verbundenen Mustern, die kapitalen Systemkollaps nach kapitalem Systemkollaps nach kapitalem Systemkollaps auslösen. Rekursion kann zur Belastung werden.
Anna Tsing schlägt in einem aktuellen Beitrag mit dem Titel »Feral Biologies« (verwilderte Biologien) vor, die Vernichtung eines Großteils von Refugien als Wendepunkt zwischen dem Holozän und dem Anthropozän zu verstehen, jener Refugien, in denen sich bisher unterschiedliche Gefüge von Arten (mit oder ohne Leute) nach kapitalen Ereignissen (Verwüstung, Rodung, und und und …) neu formieren konnten. Der Gedanke ist den Argumenten Jason Moores (des Koordinators des World-Ecology Research Networks) verwandt, der darstellt, dass billige Natur nicht länger zu haben ist. Eine verbilligte Natur kann die Extraktion und Produktion von und mit der jetzigen Welt nicht länger aufrechterhalten, da die meisten Reserven der Erde entwässert, verbrannt, aufgebraucht, vergiftet, getötet oder sonst irgendwie erschöpft worden sind. Enorme Investitionen und ungeheuer kreative wie destruktive Technologien können den finalen Schlussstrich unter der Rechnung ein wenig aufschieben, aber Natur ist wirklich nicht mehr billig zu haben. Für Anna Tsing ist das Holozän jene Epoche, in der Refugien, Rückzugsorte noch existierten, ja sogar reichlich vorhanden waren, um immer neue Möglichkeiten des »Weltens« (reworlding) in dichter kultureller und biologischer Diversität zu gewährleisten. Vielleicht ist die Empörung, die einen Namen wie Anthropozän verdient, eine über die Vernichtung von Räumen und Zeiten des Rückzugs für Leute und andere Kritter. Wie andere auch verstehe ich das Anthropozän eher als ein Grenzereignis und weniger als eine Epoche, etwa wie die K-Pg-Grenze zwischen Kreidezeit und Paläogen. Das Anthropozän markiert schwerwiegende Diskontinuitäten; was danach kommt, wird anders sein als das, was war. Es ist unsere Aufgabe, das Anthropozän so kurz/so dünn wie nur möglich zu halten und miteinander auf jede vorstellbare Art und Weise kommende Epochen zu kultivieren, in denen Refugien sich wiederbeleben können.
Augenblicklich ist die Erde voller Geflüchteter, menschlicher und nicht-menschlicher, ohne Zuflucht.
Deshalb glaube ich, dass ein neuer großer Name, genau genommen mehr als einer, gerechtfertigt ist – daher: Anthropozän, Plantagozän und Kapitalozän (Andreas Malms und Jason Moores Begriff, bevor er meiner war). Ich halte ebenfalls daran fest, dass wir einen Namen für die dynamischen, andauernden, symchthonischen Gewalten und Kräfte brauchen, an denen Leute teilhaben und innerhalb derer das Fortdauern auf dem Spiel steht. Vielleicht, und nur vielleicht, und nur durch großes Engagement und intensive kollaborative Arbeit (und kollaboratives Spiel) mit anderen Erdlingen, ist das Gedeihen von reichhaltigen, artenübergreifenden Gefügen, die auch uns Leute umfassen, weiterhin möglich. Dies alles nenne ich das Chthuluzän – vergangen, gegenwärtig und kommend. Diese konkreten und möglichen Zeitorte sind nicht nach H. P. Lovecrafts misogynem Rassenalbtraummonster Cthulhu (unterschiedliche Schreibweise beachten!) benannt, sondern nach weltweit verbreiteten, tentakulären Gewalten, Kräften und versammelten Dingen mit Namen wie Naga, Gaia, Tangaroa (aus der wassergefüllten Papa hervorberstend), Terra, Haniyasu-hime, Spider Woman, Pachamama, Oya, Gorgo, Raven, A’akuluujjusi und noch viele andere. »Mein« Chthuluzän, auch wenn es mit problematischen »griechischen« Wortwurzeln belastet ist, verwickelt unzählige Zeiten und Räume und unzählige intra-aktive, zusammengefügte Entitäten – auch die Mehr-als-Menschlichen, die Anders-als-Menschlichen, die Unmenschlichen und die Menschen-als-Humus. Selbst wenn sie in einem Text wie diesem in westlicher Schreibweise wiedergegeben wurden, bleiben Naga, Gaia, Tangaroa, Medusa, Spider Woman und ihre Verwandten einige der vielen Tausend Namen, die zu einem Strang der SF passen, den Lovecraft sich niemals hätte vorstellen, geschweige denn akzeptieren können – sie gehören zu den Netzwerken der spekulativen Fabulation, des spekulativen Feminismus, von Science-Fiction und science fact. Es ist von Gewicht, welche Geschichten Geschichten erzählen, welche Konzepte Konzepte denken. Mathematisch, bildlich und erzählend ist es von Gewicht, welche Figuren Figuren figurieren, welche Systeme Systeme systematisieren.

Geschichten fürs Chthuluzän
All die tausend Namen sind zu groß und zu klein. All diese Geschichten sind zu groß und zu klein. Jim Clifford hat mir beigebracht, dass wir Geschichten (und Theorien) brauchen, die gerade groß genug sind, Geschichten, die Komplexität zusammentragen und dabei die Grenzen offen halten können, begierig nach überraschenden, alten und neuen Verbindungen.
Eine Möglichkeit, als sterbliche Kritter des Chthuluzäns gut zu leben und zu sterben, besteht darin, die Kräfte zu bündeln, um Zufluchtsorte wiederherzustellen und so die Voraussetzung für eine teilweise und robuste biologisch-kulturell-politisch-technologische Genesung und Neukomposition zu schaffen. Dies muss die Trauer um unwiederbringliche Verluste einschließen. Thom van Dooren und Vinciane Despret haben mir das beigebracht. Es gibt schon so viele Verluste, und es wird noch mehr geben. Die Erneuerung generativen Gedeihens kann nicht aus Mythen der Unsterblichkeit oder aus dem Scheitern des Mit-Werdens mit den Toten und Ausgerotteten erwachsen. Es gibt viel zu tun für Orson Scott Cards »Sprecher für die Toten«. Und noch mehr für Ursula K. Le Guins Welt-als-Heimat-Schaffen (worlding) in »Always Coming Home« (siehe Seite 31).
Ich bin eine Kompostistin und keine Posthumanistin: Wir sind alle Kompost und nicht posthuman. Jene Grenze, die Anthro­pozän/Kapitalozän heißt, bedeutet vieles, unter anderem, dass ­immense und irreversible Zerstörung tatsächlich passiert, nicht nur für die etwa 11 Milliarden Menschen, die zum Ende des 21. Jahrhunderts auf der Erde leben werden, sondern auch für unzählige andere Kritter. (Die unbegreifliche, aber nüchterne Zahl 11 Milliarden wird nur dann halten, wenn die aktuellen Geburtenraten für menschliche Babys weltweit niedrig bleiben. Wenn sie steigen, gilt keine Schätzung mehr.) Der »Rand des Aussterbens« ist nicht nur eine Metapher; Systemzusammenbruch ist kein Thriller. Fragen Sie irgendeinen Geflüchteten ganz egal welcher Spezies.

Macht euch verwandt!
Das Chthuluzän braucht mindestens einen Slogan (natürlich mehr als einen). Ich schreie immer noch »Cyborgs für irdisches Überleben!«, »Lauf schnell, beiß fest zu!« und »Halt den Mund und übe!«, schlage aber nun vor: »Macht euch verwandt, nicht Babys!« Sich verwandt zu machen – und die neuen Verwandten anzuerkennen – ist vielleicht die schwierigste und dringlichste Aufgabe. Feministinnen unserer Zeit waren führend darin, die unterstellte natürliche Notwendigkeit einer Verknüpfung von Sex und Gender, Rasse und Sex, Rasse und Nation, Klasse und Rasse, Gender und Morphologie, Sex und Reproduktion sowie Reproduktion und Komposition einer Person aufzudröseln (hier sind wir vor allem den Melanesierinnen im Verbund mit Marilyn Strathern und ihrer Ethnografinnen-Verwandtschaft zu Dank verpflichtet). Wenn es jemals artenübergreifende ökologische Gerechtigkeit geben soll, die die Diversität menschlicher Leute einschließt, ist es jetzt höchste Zeit, dass Feministinnen Vorstellungen, Theorien und Aktionen entwerfen, die die Verbindung von Genealogie und Verwandtschaft sowie von Verwandtschaft und Spezies auflösen.
Bakterien und Pilze geben uns Metaphern im Überfluss; aber wenn wir einmal die Metaphern beiseitelassen (viel Glück dabei!), haben wir gemeinsam mit unseren biotischen und abiotischen sympoietischen Kollaborateuren und Mitarbeitenden einen Säugetier-Job vor uns. Wir müssen uns symchthonisch, sympoietisch verwandt machen. Ganz egal, wer und was wir sind, wir müssen mit-machen – mit-werden, mit-komponieren – mit den Erdgebundenen (danke für diesen Begriff, Bruno Latour).
Wir, die menschlichen Leute überall, müssen intensive, systemische Dringlichkeiten thematisieren; bis jetzt, so hat es Kim Stanley Robinson in seinem Roman »2312« formuliert, leben wir in einer Zeit, die er »Das Zaudern« nennt (in seiner SF-Geschichte erstreckt sie sich von 2005 bis 2060 – zu optimistisch?), in einem »Zustand unentschlossener Agitation«. Vielleicht ist »Das Zaudern« ein passenderer Name als Anthropozän oder Kapitalozän! »Das Zaudern« wird in die felsigen Schichten der Erde eingeschrieben sein, tatsächlich ist es schon jetzt in den mineralisierten Schichten festgehalten. Die Symchthonischen zaudern nicht; sie komponieren und dekomponieren. Das sind sowohl riskante als auch vielversprechende Praktiken. Die menschliche Vorherrschaft ist, gelinde gesagt, keine symchthonische Angelegenheit. Die ökosexuellen Künsterinnen Beth Stephens und Annie Sprinkle erklären es auf einem Aufkleber, den sie für mich gemacht haben, so: »Composting is so hot!«
Ich möchte mit dem Ausdruck »sich verwandt machen« den Begriff »verwandt« etwas anderes/mehr bedeuten lassen als »Entitäten, die durch Abstammung oder Genealogie verbunden sind«. Die sanft verfremdende Bewegung mag eine Weile lang wie ein Fehler wirken, aber dann erscheint der Ausdruck (mit etwas Glück) als immer schon korrekt. Sich verwandt zu machen bedeutet, Personen zu machen, aber nicht zwingend als Individuen oder Menschen. Im College war ich von Shakespeares Kalauern zwischen kin und kind berührt: Die Ähnlichen und Freundlichen/Freundschaftlichen (kind) waren nicht notwendigerweise die Verwandten im Sinn von Familie (kin); sich verwandt zu machen (kin/kind, als Kategorien der Zugewandtheit, als Angehörige ohne Geburtsbande, als laterale Angehörige und viele andere Resonanzen) kann die Imagination weiten und die Geschichte verändern. Von Marilyn Strathern habe ich gelernt, dass »relatives« im britischen Englisch zuerst »logische Beziehungen« meinte und erst im 17. Jahrhundert daraus »Familienmitglieder« wurden – das ist definitiv ein Detail, das ich liebe. Wenn man sich aus dem Englischen hinausbewegt, multipliziert sich die Wildheit der Bedeutungen.
Ich denke, dass sich die Ausdehnung und Neukomposition des Begriffs »Verwandtschaft« dadurch rechtfertigt, dass alle Erdlinge im tiefsten Sinn verwandt sind. Und es ist höchste Zeit, besser für Arten-als-Gefüge Sorge zu tragen (nicht für Spezies, jede für sich). Verwandtschaft ist ein zusammenfügendes Wort. Alle Kritter teilen lateral, semiotisch und genealogisch gemeinsames »Fleisch«. Ahnen stellen sich dann als sehr interessante Fremde heraus; Verwandte werden unvertraut (unfamiliar), jenseits dessen, was für uns zuvor Familie oder Gene bedeuteten, unheimlich, spukend, aktiv.
Zu viel für einen kleinen Slogan, ich weiß! Versuchen Sie es dennoch. In ein paar Hundert Jahren umfasst die menschliche Bevölkerung dieses Planeten vielleicht wieder zwei bis drei Milliarden, während sie sich auf dem Weg dahin dafür einsetzt, dass es ganz unterschiedlichen menschlichen Leuten und anderen Krittern gutgeht – als Mittel und nicht nur als Zweck.
Also macht euch verwandt, nicht Babys! Es ist von Gewicht, wie Verwandtschaft Verwandte schafft.


Leicht bearbeitete Fassung von »Kapitel 4. Sich verwandt machen. Anthro­pozän, Kapitalozän, Plantagozän, Chthuluzän«, aus: Donna J. Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän, übersetzt von Karin Harrasser © 2018 Campus Verlag.

 

Donna Jeanne Haraway (74) ist emeritierte Professorin und ehemalige Dekanin der Fachbereiche für Bewusstseinsgeschichte und für Feministische Studien an der University of California in Santa Cruz. Sie studierte Evolutionäre Philosophie an der Fondation Teilhard de Chardin in Paris und promovierte in Biologie an der Yale University. In ihrem Werk verbinden sich Natur- und Sozialwissenschaften mit künsterlischen Impulsen. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Haraway 1985 durch »A Cyborg Manifesto« bekannt. In provozierenden Thesen hinterfragte sie darin identitätsstiftende Kategorisierungen wie Mann und Frau, Mensch und Maschine, Physik und Metaphysik, Kultur und Natur. Um einen Zugang zu Haraways Werk zu finden, mag es hilfreich sein, in ihr nicht nur den Archetypus der Gelehrten, sondern auch den der Geschichtenerzählerin, des Tricksters, der Schelmin, der Kojotin zu sehen. In deutscher Übersetzung erschienen zuletzt »Das Manifest für Gefährten« (2016) und »Unruhig bleiben« (2018). Das Filmporträt »Donna ­Haraway: Story Telling for Earthly Survival« von Fabrizio Terranova feierte 2016 Premiere.
www.doggery.org

 

 

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