Gemeinschaft

Perspektivwechsel

Viele Vorzüge von intentionalen Gemeinschaften lassen sich auch in lebendigen Nachbarschaftsnetzwerken genießen.von Jochen Schilk, erschienen in Ausgabe #7/2011
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Mehr als zehn Jahre hat Jochen Schilk in einer Lebensgemeinschaft verbracht. Derzeit macht er gute Erfahrungen mit einem nachbarschaftlichen Beziehungsnetzwerk.

Vor dreizehn Jahren zog ich als 23-jähriger Studienab­brecher mit einem frisch renovierten Zirkuswohnwagen von München in das winzige ostvorpommersche Dörfchen Klein Jasedow. Eine Lebensgemeinschaft, die sich 1977 in Bayern gegründet hatte, war im vorangegangenen Frühjahr in einige stark renovierungsbedürftige Gebäude des ehemaligen Gutsdorfs umgesiedelt. Seit geraumer Zeit war ich mit mehreren der damals rund 15 Mitglieder der Gruppe bekannt gewesen. Bei einem ersten Besuch im vorangegangenen Sommer hatte mich das Gemeinschaftsleben der »Wahl-Großfamilie« sowie der riesige Freiraum des Geländes und das von Wildnis und Improvisation geprägte Ambiente begeistert. Das war einfach etwas anderes als das fertige, saubere, aufgeteilte, saturierte München!
Da ich zur rechten Zeit anklopfte, und es auch an der nötigen gegenseitigen Sympathie nicht mangelte, wurde ich von der Lebensgemeinschaft freundlich aufgenommen. Das einfache und gemeinschaftliche Leben gefiel mir gut. Ich erinnere mich an ereignisreiche Jahre als Neusiedler in einer wirtschaftlich stark zurückgefallenen Region mit zahlreichen, wunderbar handfesten Pionier-Herausforderungen.
Obwohl ich an der Gründung und der bisherigen Geschichte der Lebensgemeinschaft keinen Anteil gehabt hatte, war ich durchaus stolz, Teil eines schon lange bestehenden Gemeinschaftsorganismus mit seiner Vielfalt an Generationen, Weltanschauungen und Talenten zu sein. In den ersten Jahren hatte ich ausreichend Gelegenheit, die beim Ausbau meiner rollenden Unterkunft erworbenen Fähigkeiten als Bauarbeiter bzw. Handwerker weiterzuentwickeln. Als mich das nicht mehr befriedigte, begann ich, bei der Oya-Vorgängerzeitschrift »KursKontakte« mitzuarbeiten, die damals schon aus dem dörflichen Großraumbüro kam.

Der Pionier-Stress
Im Rückblick muss ich sagen: Auch wenn wir durch Zuzüge und Geburten bald auf 25 Menschen (in vier Generationen!) angewachsen waren, beschäftigten mich die baulichen Herausforderungen, die sozialen Prozesse, die Feste, das Alltagsleben lange Zeit so intensiv, dass ich kaum dazu kam, einen angemessenen Blick auf das zu werfen, was in den Dörfern rings um Klein Jasedow an Interessantem entstand. Das ging nicht allen von uns so, aber die Notwendigkeit, tragfähige Unternehmen und vernünftige Behausungen als Lebensgrundlage aufzubauen, bedeutete für alle, in verschiedenen Bereichen zurückzustecken. Manche fanden kaum Zeit, mehr als einmal im Jahr wandernd die schöne Landschaft um unser Dorf herum zu erkunden.
Inzwischen weiß ich, dass auch andere Gemeinschaftsprojekte dieses Phänomen kennen: Die Pionierphase absorbiert eine Unmenge an Kraft und Aufmerksamkeit.
Mein Fokus vergrößerte sich, als ich vor drei Jahren meine Lebenspartnerin kennenlernte. Sie zog von Brandenburg zu mir nach Vorpommern, aber sie wollte nicht zur Wahl-Großfamilie in Klein Jasedow hinzustoßen. So ergab es sich, dass wir in dem nur wenige Kilometer entfernten Flecken Papendorf unterkamen, wohin zwischenzeitlich auch meine Eltern aus München ihren Alterswohnsitz verlegt hatten.

Netze im Lassaner Winkel
Bereits vor der Wende, zunehmend aber, nachdem die Jasedower Lebensgemeinschaft 1997 zugezogen war, haben sich in den Dörfern des Lassaner Winkels mehr und mehr – meist kulturkreativ denkende und handelnde – Menschen angesiedelt. Ich hatte diese Entwicklung zwar wahrgenommen, doch als Mitglied einer 25-köpfigen Lebensgemeinschaft, die zweimal täglich zum Essen zusammenkommt und in der man teilweise auch gemeinsam arbeitet, war mein Bedarf an sozialem Austausch bereits im Alltag gedeckt. Was ich innerhalb der Jasedower Gruppe nicht finden konnte, suchte und fand ich meistens bei Freunden in Berlin und München. Mein Kontakt zu Einheimischen beschränkte sich mehr oder weniger auf die freundschaftliche Zusammenarbeit mit einem alten Imker. Nun aber wohnte ich mit einem Mal selber in einem dieser Dörfer neben Klein Jasedow, und da geschah es ganz von alleine, dass ich mich bald auf engeren Kontakt mit diesen Zusammenhängen einließ. Vielleicht lag es auch daran, dass durch weitere junge Menschen, die inzwischen in unsere kleine Region gezogen waren, eine neue Dynamik mit neuen Qualitäten entstand.
Auch vor zehn Jahren gab es schon regelmäßige »Familientage« als Treffpunkte des kulturkreativen Netzwerks. Das Projekt einer dörflichen Familienschule und die seit zehn Jahren existierende Kindergruppe brachte Menschen zusammen, ebenso wie ein blütenreicher, ehrenamtlich betriebener Schaugarten. Doch vor etwa zwei, drei Jahren, so kam es mir vor, begannen im Lassaner Winkel mit einem Mal Veranstaltungen und Ideen aus dem Boden zu schießen, die alle dazu beitrugen, aus den manchmal nur suboptimal verbundenen Nachbarschaften und zahlreichen Projektinitiativen ein ganz besonders lebendiges Netzwerk zu schmieden. Das Bedürfnis nach intensiverer Verbindung war offenbar an ausreichend vielen Stellen groß genug geworden. Als vielleicht deutlichstes Zeichen gründete sich eine ländliche Transition-Town-Initiative. Etwas länger schon treffen sich ein Männerkreis und zwei Frauenkreise, und – jede Form von Gemeinschaft braucht gute Wege zur Konfliktbearbeitung! – aus einem Wochenendseminar zur gewaltfreien Kommunikation nach Marshall Rosenberg ging eine erstaunlich kontinuierliche Übungsgruppe hervor. Die »Bürgerliste Lassaner Winkel« ist seit der Fusion unserer Ursprungsgemeinde mit dem Städtchen Lassan mit einem Abgeordneten im Stadtrat vertreten, und viele Familien beteiligen sich an einer Bio-Lebensmittelkooperative. Freilich liegt die Zahl der »üblichen Verdächtigen«, die all das vorantreiben, noch deutlich unter 100 Personen, doch wenn man bedenkt, wie wenige Menschen in den verstreuten Dörfern Ostvorpommerns leben, ist das beachtlich.
Mehrmals in der Woche habe ich Gelegenheit, Menschen aus unserem Netzwerk bei Tanz- oder Kinoabenden, Yoga- und Qigong-Kursen, im Chor, beim Samba-Trommeln oder bei politischen Veranstaltungen zu treffen. Zumindest die mir besonders Nahestehenden sehe ich ziemlich regelmäßig bei Geburtstags- und Jahreskreisfesten, zu Gesprächskreisen oder wenn wir uns gegenseitige Hilfe schenken.
Seit November gibt es in meinem Dorf jeden Freitag eine selbstorganisierte, unkommerzielle Kneipe. Und seit einigen Wochen engagiere ich mich in einer Gruppe, die ein Naturbildungszentrum mit Café­betrieb in dem inzwischen über die Region hinaus bekannten Schaugarten plant.

Vielfältige Beziehungen
Dass ich mich sozial nicht schlechter eingebunden fühle, seitdem ich die Geborgenheit der intentionalen Gemeinschaft einer Großfamilie gegen das freund- und nachbarschaftliche Regionalnetzwerk tauschte, erstaunt mich fast. Das soll nicht heißen, dass ich jetzt restlos zufrieden wäre – ich sehne mich oft nach noch mehr Freunden in Reichweite, nicht zuletzt auch zur Unterstützung der einzelnen Ini­tiativen. Und wie überall gibt es menschliche Unzulänglichkeiten, Missverständnisse, Mangel und Überforderung.
Mit der Klein Jasedower Gemeinschaft bin ich nach wie vor in Freundschaft verbunden, ja, es fühlt sich gut an, diesen stabilen Sozialorganismus als Teil des weiter gefassten Netzes im Hintergrund zu wissen.
Solange ich selbst Mitglied der großfamiliären Gemeinschaft war, glaubte ich, hier ein gutes Modell für menschliche Organisation gefunden zu haben. Das denke ich heute immer noch, doch beginne ich zu ahnen, dass das bewusste Knüpfen von intensiven Nachbarschaftsnetzwerken für zahlreiche Menschen eine einfacher gangbare Variante ist. Auf diese Weise lassen sich unterschiedlichste Gemeinschaftsformen leben, selbst wenn man ein paar Kilometer auseinander wohnt.

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