Gemeinschaft

Spielwiese für Frieden

Tanzend eine wahre Kultur der Begegnung erahnen.
von Julieta Jacobi, erschienen in Ausgabe #52/2019
Photo
© Katya Dekowa

Die Fläche unseres Kontakts ist fließend. Sie wandert über die ­Außenseite meiner Arme und die Innenseiten ihrer Hand, sie wandert über ihre Haare und meine Fußsohlen, jetzt ist sie zwischen meiner Hüfte und ihrer Schulter. Meine Tanzpartnerin ist in die Hocke gegangen, und ich lehne meine Hüfte gegen ihre gesenkte Schulter. Durch ihren Körper hindurch spüre ich den Ort, wo sich unser geteiltes Gewicht in den Boden drückt. Sie hebt mich an, meine Füße verlassen den Boden, und auf ihrer Schulter schwebe ich in ungeahnter Höhe. Einen Moment lang spüre ich Angst und ziehe mich zusammen. Dann besinne ich mich auf die Stelle, wo unsere Körper in Kontakt sind. Ich atme und dehne mich vom Bauchnabel her aus. So habe ich mehr Bewegungsspielraum im Hüftgelenk und kann meine Beine zum Austarieren des Gewichts nutzen. Ihre Schulter senkt sich wieder und lädt mich ein, bäuchlings kopfüber über ihren Rücken bis zur Hüfte zu rutschen. Ich stütze mich mit den Händen auf den Boden und bewege mich mit einer Rolle vorwärts von ihrem Rücken herab.
Dieser vielleicht auf den ersten Blick befremdlich und verwirrend wirkende Tanz nennt sich »Contact Improvisation«. Ich befinde mich in der Turnhalle der Gemeinschaft Sulzbrunn im Allgäu. Heike Pourian hat uns eingeladen; sie ist Tänzerin und Wandelforscherin (siehe Oya 43). Zusammen mit dem Verein »Contact Bewegt« organisierte sie diesen Begegnungsraum Anfang Juli dieses Jahres, um zu erforschen, wie sich Erkenntnisse aus der Contact-Praxis in einen größeren gesellschaftlichen Kontext übertragen lassen. Zu unserer Gruppe unterschiedlichen Alters gehören auch junge Menschen aus dem »Project Peace«. Im Rahmen eines Jahresprogramms beschäftigen sie sich mit dem Thema Frieden. Gemeinsam möchten wir nun untersuchen, wie wir eine Kultur des Friedens verkörpern können, indem wir »­Contact« tanzen.
Als wir uns im Kreis zusammensetzen, kommt die große Frage auf, was wir eigentlich unter »Frieden« verstehen. Es kristallisiert sich heraus, dass es darum geht, den eigenen Platz zu finden und danach zu handeln. »Seinen Platz einnehmen« – das ist die Bedeutung des indonesischen Worts »Damai«, das zugleich auch »Frieden« meint. Wir nennen unser Treffen »Damai-Jam«; diese Definition ist unser Begegnungspunkt. Aus einem Herzensanliegen heraus seinen Platz einzunehmen, hat, so scheint es mir, in unserer verunsicherten, entwurzelten Gesellschaft eine große Bedeutung. Wie sonst können wir Heimat finden, ohne uns starre Identitätspanzer anzulegen und andere auszugrenzen? Unsere Vorstellungen von richtig und falsch können beim Tanzen in ­Bewegung kommen. So erfahren wir die Möglichkeiten von fließenden Grenzen.
Ich setze mich an den Rand der »Jam« – wie die Tanzveranstaltungen in der Contact-Szene heißen – und beobachte. Die Handflächen zweier Tänzerinnen berühren sich, während ihre Arme langsame Kreisbewegungen machen. Zur gleichen Zeit ­rennen drei andere Personen in großen Sprüngen über den ­Boden, verlieren sich in entgegengesetzten Richtungen, um dann auf das Duo zu treffen und es in einen Knoten von fünf sich über- und untereinander bewegenden Körpern zu verwandeln. Tatsächlich waren das Duo und das Trio die ganze Zeit schon nicht nur Duo und Trio. Sie bildeten eine Komposition, die in Beziehung zueinander und zum Raum stand. Sie kreierten einen Raum, indem sie gemeinsam tanzten.
Ich sehe hier, wie jede Bewegung das Gesamtbild und die Stimmung im Raum beeinflusst und gleichzeitig auch durch sie beeinflusst wird – eine Möglichkeit, um uns unserer Bezogenheit zur Erde und zum Himmel sowie unserer Abhängigkeit gegenüber der Umwelt bewusst zu werden. Jede Bewegung erwächst aus dem Spiel mit den erdanziehenden Kräften, dem Los- und Fallenlassen sowie der Spannung, die entsteht, wenn der Körper sich gegen den Widerstand der Schwerkraft zum Himmel aufrichtet. Der Tanz wird umso interessanter, je mehr ich den Beteiligten ansehe, dass sie darin involviert sind, dass sie atmen, dass ihre Augen sich mitbewegen, dass ihre Körper auf eine Berührung wach reagieren und Berührungsfläche anbieten. Ob das ein Indiz dafür sein kann, dass ich »meinen Platz gefunden« habe – dass ich durch das, was ich tue und in der Welt bewirke, lebendiger werde und zur Lebendigkeit anderer beitrage?

Die »Beziehungselite« öffnet sich
Mich interessiert, was für Menschen hier zusammenkommen, was für Motive sie haben. Sophie Zmijanek, eine Teilnehmerin des Project Peace, beschäftigt sich mit der Frage, wie sie ihre ­Beziehungen lebendig gestalten kann: »Es braucht Präsenz und Bereitschaft zur Verwandlung und Begegnung – genauso wie beim Tanzen.« Einen friedvollen Tanz beschreibt sie als »etwas Tiefes, Sattes, etwas Sprudelndes, das aufwacht und kreieren will«. Im Kontakt lernt sie zu vertrauen, ihre Wahrnehmung zu verfeinern und das Scheitern zu feiern.
Simone Henke ist Prozessbegleiterin und Natur-Coach. Sie ist besonders an den Disharmonien beim Tanzen interessiert und möchte herausfinden, was passiert, wenn zwei Menschen miteinander tanzen, die unterschiedliche Bedürfnisse haben. Zwei Körper, zwei gegeneinander gerichtete Kräfte. Wer gibt nach, wie findet sich ein Kompromiss, ein Weg, dem beide folgen wollen?
Matthias Früh, Contact-Lehrer und Psychotherapeut, hebt hervor, wie wertvoll ihm dieser Raum ist, in dem Menschen spielerisch Begegnung gestalten. Hier könne man lernen, sich durch das Wahrnehmen der eigenen Empfindungen zu Bewegung zu motivieren, und nicht durch eine Außenorientierung, die von Beurteilungen anderer abhängt. Allerdings, so Matthias, bedürfe es vieler Voraussetzungen, um sich auf solch einen Raum einzulassen. Er hat in der Vergangenheit mit psychisch schwer erkrankten Menschen gearbeitet. Dort hätte allein die Einladung, sich frei zu bewegen, zu Überforderung und Verkrampfungen geführt. Die Contact-Szene bezeichnet er als »Beziehungselite«.
Es ist das Anliegen unseres Treffens, eine Gruppe zu formen, die sich überlegt, was nötig ist, um Contact-Jams für Menschen außerhalb dieser Szene zugänglicher zu machen, etwa in Universitäten, in Schulen, in Unternehmen oder auf der Straße.
Das gegenseitige Wahrnehmen, das selbstverantwortliche ­Gestalten der Begegnung und das auf spielerische Weise vertrauensvolle, gemeinsame Agieren sind tragende Elemente der Contact Improvisation. Je mehr ich mich von scheinbar verhakten Tanzsituationen herausfordern lasse, desto breiter wird mein Bewegungs- und Handlungsspektrum in der Aktion und Reaktion auf meine Umgebung. Diese körperlich erlernbaren Fähigkeiten verändern mein Denken auch im Alltag außerhalb der Szene-Blase; sie unterstützen mich dort, offen mit Menschen zu ­kooperieren.
Unsere Improviation ist Spielwiese für eine gesellschaftliche Utopie, in der nicht Gesetze und Ideologien darüber bestimmen, was erlaubt ist, sondern die wache Wahrnehmung meiner selbst und meines Gegenübers. Auf dieser Spielwiese erprobe ich eine Kultur des Miteinanders, in der es um Zusammenarbeit geht. Sie erlaubt, dass ich auf meine ganz eigene Art einen Beitrag leiste – und gerade deshalb eine Bereicherung für das große Ganze bin. Diese Kultur sehe ich als Basis für Frieden.
Mein Tanz neigt sich dem Ende zu. Ich stehe Rücken an ­Rücken mit meinem Tanzpartner und beobachte, wie mein ­Körper wie von selbst leicht pendelt. Unsere Rücken berühren sich. Wir bewegen uns nun gemeinsam, der Richtung unseres Gewichts folgend – zwei Körper, die in der Vergänglichkeit eines Augenblicks die Berührung ihrer sie trennenden Häute wahrnehmen und zu etwas Gemeinsamem finden. Wie einfach und wie faszinierend zugleich diese Art der Verständigung doch ist!


Julieta Jacobi (25) studiert »Tanz und Theater im Sozialen« an der Hochschule für Künste im Sozialen in Ottersberg.

Weitere Infos
www.beruehrbarewelt.de
Infos zum Project Peace unter: http://projectpeace.de

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