Titelthema

Landbau – eine poetische Kunst

Als Pionier nicht-ausbeuterischer Land­bestellung und als ­Literat ist Wendell Berry eine Ausnahmeerscheinung, die auch im deutschsprachigen Raum Gehör verdient.von Matthias Fersterer, erschienen in Ausgabe #50/2018
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© James Baker Hall

»Aufbauende Landwirtschaft«, »regenerative Landwirtschaft«, »Permakultur«, »Agricare« – zu einer Zeit, als es jene Begriffe noch nicht gab, tat Wendell Berry genau das: agrarindustrielle Wunden in ausgebeuteten Böden heilen, durch die genaue Beobachtung landschaftlicher Gegebenheiten die zum jeweiligen Ort passende Anbauweise entwickeln, aus tiefer Verbundenheit heraus die Bedürfnisse des Lands erlauschen. Dies tat er nicht etwa, weil er es darauf angelegt hätte, besonders fortschrittlich oder innovativ zu sein, sondern weil er das Glück hatte, die vorindustrielle Landbestellung noch aus eigener Erfahrung zu kennen, weil er als Literat über eine verfeinerte Wahrnehmung verfügt und weil er die Grundsatzentscheidung getroffen hat, sich an einem bestimmten Ort zu beheimaten, sich mit Haut und Haar auf diesen einzulassen, sich ihm zuzueignen.
1934 in einem bäuerlichen Umfeld im US-Bundesstaat Kentucky geboren, beschreibt sich Berry selbst als »Anachronismus«, als unzeitgemäßen Zeitgenossen: »Mein Leben begann in der alten Zeit, als die letzten Farmer vom alten Schlag starben. […] Wäre ich nur fünf Jahre später geboren, wäre ich zweifelsohne ein ganz anderer Mensch geworden.« Dennoch folgte er als junger Mann dem Ruf der Großstadt. Nach dem Studium der Literaturwissenschaft trat er eine Dozentenstelle an der New York University an. Als Trost gegen Einsamkeit und Entfremdung – und weil er schon immer für Tiere Sorge getragen hatte – schaffte er sich in seinem Apartment in der Bronx Goldfische an.
Zum Unverständnis des Kollegiums schlug er 1964 eine Beförderung aus und ging mit seiner Frau Tanya und den beiden Kindern Mary und Den zurück nach Port Royal am Kentucky ­River, wo er – einen Steinwurf vom elterlichen Hof entfernt – die ­»Lanes Landing Farm« erwarb. Dieses als weitgehend »unbestellbar« geltende Stück Land mit »twelve acres, more or less« (etwa fünf Hektar) in steiler Hanglage sollte zum Gravitationszentrum von Berrys literarischem und landwirtschaftlichem Schaffen werden. Seine Essays, Romane und Gedichte handeln nicht von fernen Welten, sondern von ebendiesem Ort und seiner unmittelbaren Nachbarschaft: »Mein literarisches Motiv ist mein Platz in der Welt, und an meinem Platz lebe ich.«

Dem Land eingeboren werden
An diesem Ort taten die Berrys das, was man im Englischen homesteading nennt und sich nur unzulänglich mit »heimisch werden« übersetzen lässt: Sie schufen eine Heimstatt, pflanzten Hecken und Obstbäume, legten – zur Irritation der Nachbarn – eine Komposttoilette an, erweiterten den Hof nach und nach um Hühner, eine Milchkuh, ein Schwein. Sie näherten sich einer subsistenten Lebensweise an, in der die eigene Existenz nicht vom Lebensort zu trennen ist. Wer Landbau wie Poesie betreibt, wird dem Land eingeboren. Das bestellte Land ist dann keine Ressource, sondern eine Erweiterung des eigenen Körpers – es gibt dann nichts darin, was einen nicht unmittelbar anginge.
In einem Essay beschrieb Berry, wie ihm beim Rundgang über sein Hanggrundstück mit einem Mal bewusst wurde, dass er auf diesem seit der Ankunft der europäischen Kolonisatoren heruntergewirtschafteten Boden geradewegs durch verschwundenen Humus stapft: »Einmal schrieb ich, dass man auf dem umliegenden Hochland ›knietief‹ durch erodierten ­Mutterboden laufen könne, inzwischen weiß ich, dass die verschwundene ­Humusschicht ›schultertief‹ ist.« Welche Konsequenzen zieht man aus solch erschütternder Erkenntnis? Berry war sich bewusst, dass die Wiederherstellung der einstigen Bodenfruchtbarkeit ein Projekt wäre, das seine Lebensspanne bei weitem überstiege. Aber irgendwo muss man anfangen. Er entschied sich gegen die naheliegende Option, einen Traktor zu kaufen, holte stattdessen ein Gespann Pferde auf den Hof und pflügte fortan in der bodenschonenden Weise, die er aus seiner Kindheit kannte.

Nachbarschaft, Subsistenz, Genügsamkeit
In solchem Wechselspiel zwischen persönlicher Erfahrung und gesellschaftskritischer Beobachtung umkreiste Wendell Berry in bislang über siebzig Buchveröffentlichungen immer wieder eine zentrale Frage: Wie können aus einer ortsgebundenen Agrikultur und einer bäuerlichen Ökonomie gesamtgesellschaftliche Kultur­impulse erwachsen? »Soweit ich sehe, beruht die Idee einer lokalen Wirtschaft auf nur zwei Prinzipien: Nachbarschaft und Subsistenz«, lautet eine Antwort im Essay »Die totale Ökonomie«. »Nachbarschaft« ist dabei als ein umfassendes Wir zu denken, das nicht nur räumlich nahe Menschen, sondern auch die mehr-als-menschliche Welt umfasst: »Ob wir es wissen oder nicht, ob wir es wollen oder nicht – wir sind ›untereinander Glieder‹: Menschen (wir selbst und unsere Feinde), Regenwürmer, Wale, Schlangen, Eichhörnchen, Bäume, Mutterboden, Blumen, Beikräuter, Bakterien, Hügel, Flüsse, Mauersegler und Steine – ›wir‹ alle.« Aus diesem Ansatz folgt eine Weltsicht ganz konkreter, stofflicher Verbundenheit, und aus dieser wiederum können das rare Glück und die ökologische Notwendigkeit echter Genügsamkeit (Suffizienz) folgen – dass nämlich »das, was man will, identisch wird mit dem, was man hat.«
In den USA gilt Wendell Berry als Vordenker der Ökologiebewegung und einer umfassenden Landwende, im europäischen und deutschsprachigen Raum ist er hingegen noch wenig bekannt. Das könnte sich nun ändern. Inzwischen liegen bei thinkOya und in der Edition Trickster im Peter Hammer Verlag zwei Bücher in deutschsprachiger Übersetzung vor sowie eine neue, von Paul Kingsnorth herausgegebene Essay-Sammlung in englischer Sprache. Kingsnorth, britischer Schriftsteller und ehemaliger Umweltaktivist, der inzwischen in Irland selbst Landwirtschaft betreibt, wurde nachhaltig von Berry geprägt. »Möge dieses Buch dazu beitragen, einer Stimme Gehör zu verschaffen, die gegenwärtig dringend gebraucht wird«, schrieb er im Vorwort zu »The World-Ending Fire«.

Getrenntes verbinden
2017 feierte der Dokumentarfilm »Look & See« auf der ­Berlinale seine Europapremiere. In ruhigen Bildern zeichneten Laura Dunn und Jef Sewell ein Porträt von Wendell Berry im Spiegel seines Umfelds: In Interviews mit Tochter Mary, mit Ehefrau Tanya und mehreren Nachbarn – mit sehr unterschiedlichen agrarindustriellen bzw. solidarischen Hofkonzepten – sowie Aufnahmen seines inzwischen auf 50 Hektar angewachsenen Wald- und Ackerlands tritt ein Mensch zutage, der in sich scheinbare Widersprüche zu einem kohärenten Ganzen vereint: Freigeist und Traditionalist, wertkonservativer Anarchist, Waldchrist und Kirchenkritiker, Natur­mensch und Landwirt. Er selbst bleibt hinter der Kamera und beteiligt sich nur durch Kommentare aus dem Off.
Falls sich Wendell Berrys agrarisches und literarisches Werk auf einen Nenner bringen ließe, dann wohl am ehesten durch die Erkenntnis der umfassenden stofflichen Verwobenheit allen Lebens samt der daraus folgenden praktischen Konsequenz, das, was ursächlich zusammengehört, jedoch durch industriemoderne Rationalisierungslogik getrennt wurde, wieder miteinander zu verbinden: Leben und Arbeit, Kultur und Agrikultur, Stadt und Land, Landbau und Essen, Landwirt und Ort, Mensch und Natur usw. Diese Arbeit des Wiederverbindens kann nur nach und nach erfolgen, und sie kann nur beim Naheliegenden, beim Lokalen, beim Eigenen beginnen. Sie ist ein für jede und jeden gangbarer Gegenentwurf zum abstrakten Konjunktiv planetarer Weltrettungskonzepte.
Wenn Berry nach Lesungen und Vorträgen aus dem Publikum gefragt wurde, wie man sich denn als Großstadtbewohner für den Erhalt bäuerlicher Landkultur einsetzen könne, antwortete er oft: »Essen Sie verantwortungs­bewusst.« – Ich füge hinzu: »Lesen Sie Wendell Berry.«


Die Zitate sind den im Folgenden aufgeführten Publikationen entnommen:
 

Körper und Erde
Essay über gutes Menschsein.

Übersetzt von Matthias Fersterer
thinkOya, 2016, 92 Seiten
ISBN 978-3927369979
10 Euro

Die Erde unter den Füßen
Essays zu Kultur und Agrikultur.
Übersetzt von Christian Quatmann
Peter Hammer Verlag, 2018, 184 Seiten
ISBN 978-3779506027
24 Euro


The World-Ending Fire
The Essential Wendell Berry.
Herausgegeben von Paul Kingsnorth
Penguin, 2018, 368 Seiten
ISBN 978-0141984131
ca. 12 Euro


Look & See
A Portrait of Wendell Berry.
Ein Film von Laura Dunn und Jef Sewell
Two Birds Film, 2016, 82 Minuten
www.lookandseefilm.com
ca. 22 Euro

 

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