Gemeinschaft

Alles ist austragen – und dann gebären

Wie die Menschen am Haslachhof ihr Gemeinschaftsleben stärken – und warum sie sich auf die Begleitung von Lebensübergängen spezialisiert haben.von Katharina Philipp, Martina Volkmann, erschienen in Ausgabe #48/2018
Photo
© Christian Landgraf

»Alles ist austragen – und dann gebären«, hat der Dichter Rainer Maria Rilke erkannt. Auch bei unserem Ankommen in Gemeinschaft ging es um das geduldige Hineinwachsen. In unserem anfänglichen »Lauschejahr« 2015 wollten wir erst einmal schauen, den Jahreslauf durchleben, den Platz fühlen, ohne ihm sofort fertige Konzepte überzustülpen. Zum lauschenden Ankommen auf dem idyllisch am Bodensee zwischen Ravensburg und Überlingen gelegenen Haslachhof gehörte auch die Akzeptanz der Tatsache, dass vieles nur langsam voranging und wir eine ganze Weile in Provisorien leben würden. Außerdem mussten wir uns gegenseitig kennenlernen. Erst etwa ein Jahr zuvor, im Dezember 2013, hatte sich unsere Gründungsgruppe zusammengefunden; im Mai 2015 konnten wir mit dem Kauf des Hofs einen Platz für unseren Traum festmachen. Zum Haslachhof gehören rund fünf Hektar Grünland und etwas Wald – Flächen, die im Geist der Permakultur gestaltet werden sollen. Derzeit bewohnen zwölf Erwachsene zwischen 28 und 71 Jahren sowie sieben Kinder zwischen einem und zwölf Jahren den Hof. Außerdem gibt es Hühner, Hunde, Katzen, drei Bienenvölker, sieben Pferde und einen Esel.

Ein Blick zurück ins Jahr 2014 – vor dem Hofkauf: Etwa ein Dutzend Menschen stehen auf einer Wiese um ein großes Gebilde in Kreisform, das aus Hölzern und Steinen zusammengelegt ist. Es stellt die acht Himmelsrichtungen dar. Abwechselnd gehen einzelne – je nach Impuls – in die Mitte des Kreises.
Wie fühlt es sich an in der Mitte des Kreises, der Gemeinschaft? Ein Moment ergreift uns in besonderer Weise: Einer unserer Ältesten – er ist unheilbar krank – tritt in unsere Mitte. Ein stilles Beben geht durch den Kreis; wir fühlen das Sterben inmitten des Lebens. Noch während er hinausbegleitet wird, tritt spontan eine schwangere Frau in die Mitte, das neue Leben in sich tragend. Über unseren Köpfen zieht ein Adler seine Bahn. Wir sind überwältigt von diesem Bild, das unsere Gemeinschaft noch lange begleiten wird.
Vier Jahre später, an einem trüben Wintertag, stehen wir erneut im Kreis – diesmal um unseren selbst gepflanzten Haselbaum, auf »unserem« Platz, dem Haslachhof. Es herrscht konzentrierte Stille. Bei diesem Gemeinschaftswochenende geht es um unsere kollektive Vision und unsere Vereinbarungen – wird es wohl ein verbindliches Ja von jeder und jedem einzelnen dazu geben? Alle spüren, dass es hier um etwas Besonderes geht, die Luft vibriert förmlich vor Spannung – es sollen ja selbst bei Hochzeiten schon Braut oder Bräutigam in letzter Sekunde durchgebrannt sein! – So stehen wir still zusammen, bis der erste bereit ist, sein Ja zu bekräftigen und einen Stein als persönlichen Platzhalter in die Mitte zu legen. Nun kommt Bewegung in die Runde, der Augenblick beschwingt, die Herzen klopfen. Irgendwann tritt Wolfram Nolte vor, unser Ältester, der aufgrund seiner Krebs­erkrankung scheinbar näher an der Schwelle zum Tode steht als wir anderen. Während er von seinem Sein zu uns und seinem möglichen Übergang, vom Loslassen spricht, reißen die Wolken auf. Sonnenlicht durchflutet den Abendhimmel und unsere Herzen. Unterdessen ziehen die jüngsten Kinder der Gemeinschaft, Neya und Frieda, Hand in Hand übers Gelände und nutzen den Freiraum zu gemeinsamen Erkundungen. Wir singen spontan ein Lied.
Nicht immer freilich geht es bei uns so feierlich und harmonisch zu. Unsere gemeinsame Vision zu formulieren, das war ein hartes Stück Arbeit. Um jedes Wort wurde da gerungen, ging es doch um die Essenz und Komposition aus lauter einzelnen Träumen. Nachdem zu Beginn die Idee vom Zusammenleben in einer ökologischen Gemeinschaft und das Finden eines geeigneten Platzes im Vordergrund standen, wussten wir nach den schwierigen Pioniertagen, dass wir die gemeinsame Anbindung an ­etwas Größeres brauchen würden, um den Alltag zu bestehen. Zwei externe ­Coaches hatten uns geraten, einen »Leitstern« zu finden – Sätze, die wir vom Berg in die Welt rufen könnten und die uns halten würden, wenn uns »alles um die Ohren fliegt«. So kurz und präg­nant, dass wir sie rufen könnten, ist unsere Vision dann zwar nicht geworden, aber sie hält uns zusammen.
Das Thema »Lebensübergänge« ist in unserer Gemeinschaft von Beginn an essenziell gewesen, zum Beispiel durch die Sterbe­begleitung eines unserer damaligen Ältesten oder durch die Geburt von Frieda, des ersten in die Gemeinschaft geborenen Kindes. Auch beruflich sind einige von uns darauf ausgerichtet, Menschen in Wandlungsphasen zu begleiten. Doch dass der Lebensbogen von der Geburt bis zum Tod wirklich zu unserer Gemeinschaftsvision gehört, war uns keinesfalls von Anfang an bewusst gewesen.
Es war beim Tanzen während der Leitstern-Suche zu Beginn des Jahres 2017, als einigen von uns klar wurde, dass wir tatsächlich schon seit der Gründungszeit mit diesen Themen unterwegs sind. Dies konnte doch kein Zufall sein! Seitdem bewegt uns die aktive – interne und öffentliche – Auseinandersetzung mit den verschiedenen Lebensübergängen, zu denen zum Beispiel auch der Übergang vom Kind zum Jugendlichen oder von der gebärfähigen Frau zur Ältesten gehören. Berührende Momente zwischen uns entstehen immer wieder, wenn wir uns im Kreis zusammensetzen, um von unseren eigenen Übergängen zu erzählen, und wenn wir uns gemeinsam erinnern: Wie sind wir auf die Welt gekommen? Was hat unsere frühe Kindheit geprägt? Welche Wandelzeiten erlebten wir bislang? Welche Bedeutung hatte der Tod in unserem bisherigen Leben? In diesen Momenten wenden wir uns den puren Themen zu. Es wird deutlich, wer die Menschen sind, die sich da gegenübersitzen. Für eine Weile treten wir aus unseren Gewohnheiten heraus, aus den eingeschliffenen Mustern unserer Wahrnehmung, aus den kleinen Konflikten und Unterschieden; ein neues Sehen geschieht: Der andere erscheint uns in seiner ganzen Gestalt, in seiner unverwechselbaren Existenz und seinem eigenen Umgang mit den großen Themen, die wir doch alle selbst mitempfinden können. Wer eben noch fremd schien, kann im Licht dieser Erfahrung ganz nah werden. Viel Mitgefühl, Nähe und Vertrauen entsteht in solchen Kreisen und auch ein Bewusstsein davon, was wir alles in die Gemeinschaft mitbringen. Eine komplexe Lebensgeschichte nämlich, einen ganzen Rucksack voll mit Erfahrungen aus dem gesamten Spektrum menschlichen Lebens. Und nun sind wir hier, um – damit und auch darum – Gemeinschaft zu leben! Die Erfahrung zeigt freilich, dass diese Qualität von Nähe und Bewusstheit im Alltag auch schnell wieder verlorengehen kann. Doch wir können die kleinen und großen Konflikte im Alltag auch nutzen, um uns zu erinnern und uns in unserer Verletzlichkeit und unserem Ringen einander zu zeigen.

Sterben, Tod und Trauer
Als Wolfram Nolte den Wunsch formulierte, zu uns zu kommen, waren wir für die dadurch eintretende besondere Situation dank unserer eigenen Entwicklung schon vorbereitet. Der ehemalige Oya-Redakteur lebt seit 2014 mit der Diagnose Krebs. Bevor er 2017 auf den Haslachhof zog, war er bereits zweimal im Hospiz gewesen (siehe Oya 39). Die Ankunft von Wolfram, der seine vielen Gemeinschaftserfahrungen und auch die Freude an geistiger Auseinandersetzung mitbrachte, bewegte uns deshalb nicht wenig. Wir waren auch vorbereitet auf unsere persönlichen Prozesse, die das Zusammenleben mit einem sterbenden Menschen auslöst. Zugleich beförderte dieser Umstand für uns eine Besinnung auf das Wesentliche: Was will ich wirklich sagen? Was ist der Ausdruck meines Herzens? Wie würde ich leben wollen, wenn ich wüsste, dass dies mein letzter Tag wäre?
Inspiriert durch diese eigenen Fragen, begannen wir monatlich thematische »Wandelräume« zu den verschiedenen Lebensübergängen zu initiieren, zu denen wir noch immer öffentlich einladen. Aus den bei diesen Veranstaltungen gewonnenen Einsichten erwuchs unter anderem die Idee, am Haslachhof vielleicht einmal ein »Naturhospiz« zu begründen, in dem Menschen naturnah und in Gemeinschaft ihren letzten Lebensabschnitt verbringen können. Es könnte ein Ort sein für einen anderen Umgang mit Abschied und Trauer, für eine lebendige Bestattungskultur inklusive Ritualen, die dieser Phase und deren Inte­gration dienen. Da wir die verbindende Kraft des Singens sehr schätzen, haben wir einen Ritualchor gegründet, um Lebensfeste singend mitzugestalten.

Geburt und Heranwachsen
Auf der anderen Seite des Lebensbogens steht die Geburt – und die Frage, wie wir gut ins Leben kommen. Das Engagement für eine selbstbestimmte, sanfte und natürliche Geburt ist eines unserer gemeinsamen Herzensanliegen. Was haben die Umstände unserer Geburt mit unserer Liebesfähigkeit zu tun und auch mit unserer Verbindung zu Mutter Erde? Noch vor wenigen Jahrzehnten war es bei uns im Westen normal, dass Babys direkt nach der Geburt von der Mutter getrennt wurden – doch wie wirkt sich eine solche Praxis auf unser Menschsein aus? Welche heilenden und schmerzvollen Muster ruft das Leben in Gemeinschaft und in Liebesbeziehungen in uns wach – und wieviel hat dies mit unseren ersten Lebensmomenten zu tun, als unsere Bedürfnisse nach menschlicher Verbindung verunmöglicht wurden? Wie können wir für die Kinder, die nach uns kommen, einen sicheren und geborgenen Rahmen schaffen?
Unser erstes »Gemeinschaftskind« wurde fünf Monate nach dem Hofkauf geboren. Damals waren wir allerdings noch wenig miteinander vertraut und zu sehr im jeweiligen individuellen Umbruch gefangen. Deshalb blieb vieles offen, was an Fürsorge möglich gewesen wäre. Mit dieser schmerzlichen Erfahrung – und auch anhand anderer Geburtsgeschichten – wurde uns klar, wie wichtig gemeinschaftliche Kreise und ein gut gehaltener Raum sind. Mittlerweile finden bei uns regelmäßig Selbsterfahrungs-Wochenenden statt, bei denen sich die Teilnehmenden mittels der Gefühls- und Körperarbeit nach Willi Maurer ihren eigenen frühen Kindheitsthemen stellen, um sich und einige ihrer Probleme besser verstehen zu lernen.

Und die weiteren Stationen auf dem Lebensweg?
Gerade sind wir – inspiriert von der Wildnis- und Waldorfpädagogik – mit der Gründung eines »Wurzelkindergartens« beschäftigt, um den Kleinsten einen naturverbundenen Start ins Leben zu ermöglichen. Zudem entsteht eine Mädchengruppe für einen begleiteten Schritt in Richtung Pubertät. Für den Übergang zum Erwachsenenalter haben wir im Rahmen einer Kooperation mit der BUNDjugend Nordrhein-Westfalen das Projekt »Visionen für die Zukunft« entwickelt. Die »Jahresreise Transformation« ist ein Teil davon und beinhaltet eine Reihe von Seminaren mit jungen Erwachsenen zum persönlichen und gesellschaftlichen Wandel. Sie gipfelt im Sommer in einer dreiwöchigen Visionssuche in den italienischen Alpen. Die Visionssuche ist ein uraltes Übergangsritual, das auf einer viertägigen Alleinzeit in der Wildnis basiert, fastend und ohne Behausung (siehe Oya 5). Die strahlenden Augen der jungen Menschen nach ihrer Rückkehr, ihre innere Ruhe und Stärke sind für alle Beteiligten jedes Mal unvergesslich.
Im Gemeinschaftsleben feiern wir die Jahreskreisfeste und begleiten uns gegenseitig in persönlichen Wandlungen. Als etwa bei mir, Martina, die Partnerschaft den äußersten Anstrengungen der intensiven Gründungszeit nicht standhielt und deutlich wurde, dass nun eine neue Phase anfangen würde, habe ich in und mit der Gemeinschaft ein »Ich sage Ja zu mir«-Fest gefeiert. Durch schlichte und kraftvolle Elemente – eine Alleinzeit in der Natur mit anschließendem Erzählen und Spiegeln der Geschichte am Feuer; Lieder; klassischer Hochzeitsblumenschmuck und ein ordentlicher Gaumenschmaus – entstand ein Ritual, das nachhaltig in mir weiterwirkt. In einem nächsten Schritt möchte ich ein speziell meinen Kindern gewidmetes Willkommensfest nachholen, um sie noch bewusster in die Mitte der Gemeinschaft zu stellen.
Es ist uns wichtig, im alltäglichen Zusammenleben immer wieder innezuhalten und passende Räume oder Handlungen zu kreieren,  in denen Wandel bezeugt und bekräftigt wird und wo Ideen und Impulse von anderen hilfreich eingebracht werden können. Dabei inspirieren uns verschiedene Traditionen, unter anderem Wildniswissen, naturverbundene Ritualarbeit nach Sobonfu Somé oder die bereits erwähnte Gefühls- und Körperarbeit. Daneben bringen wir einige weitere Werkzeuge zusammen, die uns helfen, spontan und alltagsbezogen Rituale zu entwickeln und zu halten. So ist die Tiefenökologie nach Joanna Macy (siehe Oya Ausgabe 4) eine der wichtigsten Inspirationsquellen für unser Gemeinschaftsleben. Wir haben uns mit unserem eigenen Weltschmerz auseinandergesetzt und sind in Wut, Trauer und anderen, oft schmerzlichen Prozessen darauf gekommen, dass in diesem Ansatz für uns eine wesentliche Dimension für das Freisetzen von persönlicher Wandelkraft liegt.
Außerhalb dieser besonderen Räume – im Alltag – achten wir darauf, uns einander mit unserer Freude, aber auch mit Schlingern, Krankheit und inneren Prozessen zu zeigen. Dem widmen wir uns auch in den täglichen Morgenkreisen, unseren wöchentlichen Beziehungsabenden und monatlichen Gemeinschafts­wochenenden – und immer wieder in spontanen Begegnungen.
So wird der Erfahrungsraum Haslachhof für manche von uns auch »nur« zu einer Durchgangsstation zum nächsten passenden Schritt – als Antwort auf das Ringen mit Anspruch und Wirklichkeit, mit Stärken und Schwächen, auf der Suche nach Tiefe und Sinn.
Bei all dem schauen wir nicht nur auf unsere eigene kleine Hof-Welt, sondern fühlen uns mit dem »großen Wandel« weltweit verbunden. So geht zum Beispiel unser Thorsten – nach etlichen Jahren in Gemeinschaft auf der Schweibenalp und am Haslachhof sowie nach einem schwierigen Winter voller Fragen und Prozesse – demnächst für sechs Monate mit der Hilfsorganisation Cap Anamur nach Somaliland. Auch dies kann eine Art Initiation sein auf der Suche nach der eigenen Kraft und Ausrichtung angesichts der Herausforderungen unserer Zeit. Die Reise wird von der Gemeinschaft mitgetragen. Wir sind gespannt, was Thorsten im Herbst zu uns zurückbringt. So üben wir uns darin, in das Neue hineinzuleben und von da aus unsere Gemeinschaft zu gestalten.


Katharina Philipp (28), Permakulturdesignerin und Wildnispädagogin, ist auf der Reise ins lebendige Leben, macht Pferdecoaching und naturverbundene Ritualarbeit; sie ist Mutter von Frieda (2).

Martina Volkmann (45) folgt dem Ruf der Poesie als Sprecherin, Kommunikationstrainerin sowie Wildnis- und Natur-Kulturpädagogin i. A. Sie ist auf der Suche nach alten und neuen Formen für Übergangsrituale aller Art; sie ist Mutter von Anoush (9) und Nojan (7).

Weitere Anregungen
www.gemeinschaft-haslachhof.de
www.bundjugend-nrw.de/projekt/visionen-fuer-die-zukunft
www.sommervogel-wandelkunst.de

weitere Artikel aus Ausgabe #48

Photo
von Marius Rommel

Solidarisches Handwerk – Wege zu einer Ökonomie der Nähe

Hügelige Landschaften, weites Grün, idyllische Täler, kleine Ortschaften – mein Zug durchquert gemächlich den Harz und kommt mit kurzem Rattern am Bahnhof der Kleinstadt Herzberg zum Stehen. Der Weg führt mich durch die gemütliche Innenstadt entlang der

Photo
von Jacques Paysan

Criando juntos o bem-comum no paraíso

Este artigo é dedicado à minha amada esposa Silke Helfrich, que faleceu no dia 10 de Novembro de 2021, após um trágico acidente nas montanhas do Liechtenstein. A sua visão sobre os Commons, permitiu-me ver o mundo de uma nova e diferente perspectiva.Quando penso

Photo
Bildungvon Johannes Liess

Lebendiges Lüchow

Die Landschule in Lüchow ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Nach den Sommerferien, am 20. August 2018, wird sie wieder ihre Türen öffnen, Schüler und Lehrerinnen empfangen und damit den Schulbetrieb wieder aufnehmen – fast auf den Tag genau zwölf Jahre nach

Ausgabe #48
Was tun?

Cover OYA-Ausgabe 48
Neuigkeiten aus der Redaktion