Titelthema

Vergesst Winnetou!

von Sönke Bernhardi, erschienen in Ausgabe #47/2018
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Etwas ganz Wesentliches im Leben ist für mich Kontakt auf Augenhöhe, das heißt, sich einander so wahrhaftig wie möglich sichtbar zu machen. Von einem Ausschnitt meiner Suche nach Wahrhaftigkeit möchte ich erzählen. Es geht um Pop- und Subkultur, um Selbst- und Internetsuche, um koloniales Erbe und um zeitgenössische Hoffnung.
Ich bin ein Sohn der nördlichen BRD der frühen 1970er Jahre. Wie für so viele vor mir hießen die ­Helden meiner Kindheit Winnetou, Old Shatterhand usw. Cowboy-und-Indianer-Spiele in den Vorgärten unserer verkehrsberuhigten Siedlung am Stadtrand gehörten selbstverständlich dazu. Es fiel mir nie ganz leicht, mich für eine Seite zu entscheiden – die Cowboys waren zwar meist die Sieger, zumindest besser ausgerüstet, aber die Indianer doch irgendwie cooler.
Woran ich mich noch erinnere, ist ein beständiges, oft aus purer Lust an der Frage gestelltes »Warum?«, gepaart mit einer im Hintergrund dämmernden Ahnung »Irgendwas stimmt hier nicht …«
Später, in meinen Zwanzigern, führte mich meine Fragelust in sogenannte esoterische Buchhandlungen. Was es da nicht alles gab! UFOs, Magie, Prophezeiungen, Verschwörungen und – siehe da – sogar die coolen Indianer! Ein Eldorado für Sinnsucher und Warumfrager. Wirklich befriedigende Antworten gab es dort zwar kaum, aber das Fragen und Suchen war traumhaft!
Bald darauf entdeckte ich die Subkultur der Gemeinschaftsbewegung und Ökodörfer – und da war es wieder, das »indianische Erbe« in Form von Redestabkreisen und Schwitzhütten inklusive Salbeiräucherung. So aufregend und wohltuend das alles war, drängten sich mir doch weitere Fragen auf: Was ist mit den »echten« Indianern? Gibt es sie noch? Was würden sie wohl zu unseren Schwitzhütten sagen?
Mit den daraufhin entdeckten Antworten hatte ich nicht gerechnet. Plötzlich tauchten Begriffe wie »kulturelle Aneignung« und »Plastikschamane« auf. Was ging hier vor sich? Ein Schauer des Unwohlseins lief mir über den Rücken. Gleichzeitig entdeckte ich auch erste Internetseiten indigener nordamerikanischer Gemeinschaften, allen voran das »Indian Country Media Network«. Es keimte die, wie ich fand, mutige Idee in mir, einmal den direkten Austausch zu suchen. Aber was genau würde ich dort eigentlich wollen? Und von wem eigentlich?
Kaum war ich diesem Impuls gefolgt, kam der nächste Schock: »Indianistik«! Auf einmal entdeckte ich, dass unter den Indigenen Nordamerikas – der Begriff »Indianer« verblasste recht schnell in meinem aktiven Wortschatz – ausgerechnet Deutschland einen ganz eigenen, eher unguten Ruf hat; und zwar ausgerechnet wegen meines Kindheitshelden Winnetou und dem, was Karl-May-Fans bei Camps und Festspielen daraus gemacht haben. Aus dem ersten Unwohlsein wurde tiefe Scham. Wie sollte es jetzt weitergehen? Glücklicherweise lebte ich in Berlin. Zum einen konnte ich mich in der Zentralbibliothek mit äußerst lehrreichen Büchern versorgen. Zum anderen konnte ich herausfinden, dass in der Stadt ein Filme­macher indigener Abstammung namens Red Haircrow lebte, der kürzlich einen Dokumentarfilm mit dem Titel »Forget Winnetou! Going Beyond Native Stereotypes« gedreht hatte. (Die Premiere war im Februar, die DVD erscheint voraussichtlich Ende März.)
Aber das war noch nicht alles. Durch die erwähnten Schockmomente hatte sich meine Haltung grundlegend gewandelt – von einer naiven, unbewusst postkolonial geprägten Suche nach Klischeebestätigung hin zu einem tatsächlich offenen Interesse. So wurde es mir einerseits überhaupt erst möglich, zu erahnen, welche Gewalt indigenen Menschen in Amerika seit Jahrhunderten widerfährt: von Reservaten wie Standing Rock – wo zwischen 2016 und 2017 tausende Native Americans aus über 300 Stämmen vergeblich gegen den Bau einer transnationalen Ölpipeline demonstriert haben –, über christliche Umerziehungs­internate – deren letztes erst 1996 geschlossen wurde –, bis hin zum kulturellen und tatsächlichen Völkermord des 19. Jahrhunderts; und andererseits, welche zeitgenössische (pop-)kulturelle, tief verwurzelte Vielfalt es dort heute noch zu entdecken gibt. So überraschte mich etwa die indigene Science-Fiction-Literatur, die nicht zuletzt dadurch besonders ist, dass die Apokalypse der Native Americans bereits 1492 stattfand.
Ich möchte dazu ermutigen, sich für indigene Kultur jenseits von Winnetou und Plastikschamanismus zu öffnen – auch wenn dies bedeutet, das eigene Selbstverständnis zu hinterfragen. Hinter dem Klischeeschleier leben nach wie vor Menschen, die dringender denn je mit uns zusammenarbeiten wollen, um gemeinsam Wege in eine enkeltaugliche Zukunft für alle zu finden. Dazu ist wahrhaftiger Kontakt auf Augenhöhe erforderlich.

Sönke Bernhardi begab sich in »Kapitel 12« von Ausgabe 41 über den Wandlungsprozess von Oya mit uns auf eine Spurensuche nach authentischer kultureller Identität.

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