Titelthema

Vergesst die Politik!

von Niko Paech, erschienen in Ausgabe #47/2018
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© Boris Goldammer

Der Planet leidet unter Modernisierungsstress. Gemessen an ihrer Gesamtbilanz sind alle Nachhaltigkeitsbemühungen fehlgeschlagen. Es findet sich kein ökologisch relevantes Handlungsfeld, in dem die Summe bekannter und neuer Schadensaktivitäten nicht permanent zugenommen hätte. Vormals ökologisch verträgliche Lebensstile sind den Verlockungen des digital-kosmopolitischen Komforts anheimgefallen. Die Anzahl gebildeter, sich moralisch korrekt gerierender Menschen, deren globaler Aktionsradius einen individuellen CO2-Fußabdruck hinterlässt, der alles Bisherige übertrifft, explodiert. Demokratische Regulative – ganz gleich ob Politik, Bildung, Erziehung oder Medien – sind zu willfährigen Erfüllungsgehilfen einer öko-suizidalen Daseinsform geworden, die als sozialer Fortschritt verklärt wird. Sie wetteifern darin, jede beliebige Klientel mit ständig neuen Freiheits- und Wohlstandsangeboten zu beglücken: Genug ist nicht genug, denn die Gier scheint mit dem bereits Erreichten zu wachsen. Politische Gestaltungsprinzipien sind aufs dumpfe Niveau des Geschenke­austeilens herabgesunken. Nur keine Konflikte oder Einsichten in die Notwendigkeit einer Selbstbegrenzung riskieren! Die Moderne scheitert an der Heuchelei ihrer intellektuellen Nutznießer, die sich antrainiert haben, jedes egozentrische Mittel der Selbstentfaltung mit einem vermeintlich aufgeklärten Zweck zu heiligen. Nun hängt die Zukunft an einer Avantgarde, die es ertragen können muss, dafür beschimpft zu werden, dass sie sich der Fortschrittsreligion verweigert.

Wenn alle Entkopplungs-, Green Growth- oder Energiewende-Konzeptionen versagen, entspricht es keinem ethischen Imperativ, sondern schlichter mathematischer Logik, dass allein postwachstumskompatible, also: reduktive, Entwicklungsschritte wie Suffizienz, Subsistenz, Regionalökonomie nebst graduellem Industrierückbau weiterhelfen. Deren Implementation, ganz gleich ob von oben oktroyiert oder von unten heranreifend, dringt notwendigerweise direkt oder indirekt bis zur individuellen Ebene durch und kann dort nur durch Selbstbegrenzung umgesetzt werden. Aber insofern die mehrheitlich praktizierten Lebensführungen kaum weiter davon entfernt sein könnten und reduktive Daseinsformen keine Frage des Wollens, sondern des eingeübten Könnens sind, enden hier die Möglichkeiten demokratischer Politikinstanzen: Mehrheitsfähig ist vorläufig nur, was in den Abgrund führt.
Marxistische oder kapitalismuskritische Positionen suggerieren zuweilen, dieses Dilemma ließe sich als »Machtfrage« oder Verteilungsproblem lösen, indem die Reduktionsleistungen höheren Einkommensgruppen zugewiesen werden, so dass die Mehrheit verschont bliebe. Aber es ist schon lange keine Oberschicht mehr, die das Gros der Ressourcen verbraucht. In aktuellen Konsumdemokratien und vielen Schwellenländern ist es umgekehrt nur noch eine verschwindend kleine Elite, die nicht über ihre ökologischen Verhältnisse lebt, weil Flugreisen, Elektronik und andere Konsumgüter erschwinglich geworden sind. Deshalb müsste sich auch jede noch so bemüht gerechte Postwachstums­politik zwangsläufig mit demokratischen Mehrheiten anlegen. Und das entspräche der Quadratur des Kreises.

Postwachstumstaugliche Praxis inklusive aller Begleiterscheinungen, die vorerst noch als Komforteinbußen empfunden werden, muss erlernt und beherrscht werden und sich innerhalb geeigneter sozialer Strukturen bewähren. Erst wenn genügend Reallabore entstanden sind, in denen sich transformative ­Daseins- und Wirtschaftsformen als gelebtes Erfahrungswissen etabliert haben, kann dieses sich weiterverbreiten. Nur wenn ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft glaubwürdig signalisiert, ­einen reduktiven Strukturwandel aushalten zu können, würden es politische Instanzen jemals wagen, begrenzende Rahmensetzungen vorsichtig zu erwägen. Aber wie lange würde das dauern?
Statt einen leckgeschlagenen, zunehmend manövrierunfähigen Tanker umlenken zu wollen, sind autonome Rettungsboote, die sich unterhalb des politischen Radars dezentral und kleinräumig entfalten können, die effektivere, erst recht verantwortbarere Strategie. Dies impliziert, sich vom gescheiterten Die-Menschen-dort-abholen-wo-sie-sind-Diktum abzuwenden und stattdessen jene Avantgarde zu adressieren, die für einen Wandel, der über Symbolhandlungen hinausreicht, empfänglich ist.
So entstünde ein Vorrat an imitierbaren Praktiken – ähnlich wie die von Joseph Beuys so bezeichneten »sozialen Plastiken« –, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn Krisenszenarien dies nahelegen. Es kommt darauf an, suffiziente und sesshafte Lebens­kunst vor dem Vergessenwerden zu bewahren, also in den ­Nischen fortlaufend einzuüben und zu erproben.
Denn nachdem die Genügsamkeit ausgestorben ist, stirbt als nächstes die menschliche Zivilisation. Individuen darin zu stärken, unter bescheidenen Bedingungen ein resilientes und würdiges Dasein zu meistern, ist die demokratische Alternative zu einer Politik, die auf unerreichbare Mehrheiten setzt. Und die seit jeher so erfolgreich ist wie ein Hund, der den Mond anbellt.


Niko Paech schrieb in seinem Artikel »Wachstumsdämmerung« in Ausgabe 7 mit dem Titel »(R)Evolution?« über die Postwachstums-Perspektive, die er im deutschsprachigen Raum wesentlich mitgeprägt hat.

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