Titelthema

In allen ­Dimensionen wahrnehmen

Geseko von Lüpke sammelt als Buchautor und Journalist schon jahrzehntelang ­Geschichten von Menschen, die hoffnungsvolle, ermuti­­­gende gesellschaftliche Veränderung verwirklichen.von Geseko von Lüpke, Anja Humburg, erschienen in Ausgabe #46/2017
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© Angela Schmid

[Anja Humburg] Gerade lese ich dein Buch »Altes Wissen für eine neue Zeit«, in dem du Gespräche mit vielen Medizinkundigen aus traditionellen Kulturen führst. Diese Menschen erzählen auf eine besonders intensive Weise. Was macht diese Intensität aus?

[­Geseko von Lüpke] Die Geschichte des Erzählens geht auf die Anfänge menschlicher Kultur zurück. In Südafrika in der Nähe von Kapstadt existiert ein Feuerplatz, der Archäologen zufolge seit 250 000 Jahren in kontinuierlichem Gebrauch gewesen ist, um abends zusammenzukommen. Das Geschichtenerzählen hatte am Anfang des Menschseins vermutlich den Sinn, die Welt zu erklären und die Angst vor der nächtlichen Dunkelheit zu verdrängen – sie mit Eindrücken des Tags oder kulturellen Bildern zu füllen. In indigenen Kulturen ist Geschichtenerzählen die zentrale Methode, um alles zu vermitteln, was das Leben ausmacht: Landschaftswissen, Handwerkliches, Soziales, Mythisches und vieles mehr.
In der Regel erzählt nicht irgendjemand, sondern ein speziell dafür ausgebildeter Mensch. Bei den Khoisan in der Kalahari-Wüste sind die Geschichtenerzähler auch die guten Spurenleser. Wenn sie in der Gemeinschaft von den Erlebnissen des Tags berichten, achten die Ältesten genau darauf, wie sehr ein Erzähler seine Sinne geöffnet hatte bei dem, was er erfahren hat, und wie gut er diese Eindrücke wiedergeben kann. Fehlt ihnen etwas, fragen sie nach. Erst wenn jemand ganz tief in allen Dimensionen wahrzunehmen gelernt hat, ist die Person in der Lage, so zu erzählen, dass die Zuhörenden die Geschichte erfahren, als wären sie selbst dabei gewesen. Gut Erzähltes nimmt unser Gehirn genauso auf wie selbst Erlebtes.

Warum wird auf die Schulung dieser Erzählenden so viel Wert gelegt? 

Zu ihren Aufgaben gehört auch das Hüten der Schöpfungs­ge­schichten – das hat zentrale Bedeutung. Vor allem dieser ­Bereich ist bei uns heute ein großes Vakuum. Ich habe einmal ein Geschichten­erzähl-Seminar der katholischen Kirche besucht. Dort wurde Geistlichen beigebracht, die Bibel-Geschichten so zu erzählen, dass alle mit offenem Mund staunend zuhören. Die Geistlichen fragen sich heute, warum niemand mehr die Bibel liest, und machen sich bewusst, dass sie aus früher mündlich erzählten Geschichten besteht. Das Vakuum rührt aber auch daher, dass wir heute viel mehr über das Universum wissen als die Dichter der christlichen Schöpfungsgeschichte, denen man kaum mehr glaubt. Wir brauchen also eine neue Schöpfungsgeschichte, und die Frage ist, ob dieses heutige Wissen nicht auch so erzählt werden kann, dass wir verstehen, warum wir da sind.
Es gibt eine Menge spannender Ansätze, wissenschaftliche Einsichten mit sinnstiftenden Erzählungen zu verbinden, etwa beim Priester und Kulturhistoriker Thomas Berry oder beim ökologischen Theologen Matthew Fox. Ihnen ging es darum, ein Verständnis ökologischer Zusammenhänge – unsere Ungetrenntheit von der Schöpfung – wieder begreifbar zu machen. Ich glaube, ein wesentlicher Grundfehler unserer modernen Kultur ist der, davon auszugehen, dass wir etwas anderes seien als Natur. Das sollte sich ändern – und dazu dienen Schöpfungsgeschichten!
Früher hatte jede Kultur ihre eigene Schöpfungsgeschichte, es gab Hunderttausende von Interpretationen der Welt. Über die moderne Kosmologie entsteht nun weltweit eine einheitliche. Auch diese Geschichte ist voller Wunder, voller roter Riesen, weißer Zwerge oder schwarzer Löcher – das klingt wie Märchensprache. Ich denke, auch sie lässt sich so lesen, dass ein Gefühl von Heiligkeit und Ehrfurcht vor dem Universums entsteht. Wir können in den Himmel schauen und sagen: Von dort kommen wir her. So eine Sichtweise weitet unser Weltbild: Sind wir gar die Augen des Universums, das über sich selbst nachdenkt?

Wer könnten die Hütenden von Geschichten im Heute sein? Wie kann sich die Erzählkunst auch in unserer Kultur wieder verbreiten?

Ich glaube, dass heute am Prozess des Geschichtenerzählens alle beteiligt sein müssen. Paul Hawkens Motto »Change the Story, Change the World« spricht mir aus der Seele. Er betont darin, wie wichtig es sei, zu erzählen, was tatsächlich bei allen Bemühungen, die Welt enkeltauglicher zu gestalten, erlebt wird – das kann in Form von mündlich erzählten Geschichten, Romanen, Filmen oder gerappten Texten sein. Ich habe lange die erstaunlichen Geschichten der Alternativen Nobelpreisträger aufbereitet. Wangari Maathai zum Beispiel hat damit angefangen, drei Bäume zu pflanzen, und am Schluss ihres Lebens waren es 3,5 Milliarden Bäume geworden! Solche Geschichten machen Mut, weil sie zeigen, wie Kultur und politische Verhältnisse verändert werden können.

Mir wird bewusst, dass Menschen heute nur sehr wenig wirklich selbst erleben – angefangen damit, dass sie in der Regel keine Beziehung haben zu dem, was auf dem Teller vor ihnen liegt.

Vor lauter Konsum gibt es tatsächlich kaum mehr etwas zu erzählen. Umgekehrt gilt: Je mehr wir wahrnehmen, umso intensiver sind wir lebendig, umso verbundener sind wir, und umso mehr können wir Geschichten so vermitteln, dass uns zugehört wird. Wir brauchen ein wenig Mut, etwas selbst Erlebtes in allen Farben mündlich wiederzugeben. Dabei sind alle mit den Geschichten, die sie erzählen, auf der Suche nach der eigenen Identität. Ja, Menschen begeben sich nicht selten in therapeutische Prozesse, um das eigene Narrativ neu zu erfinden, und können dann davon berichten. Es gibt eine große Sehnsucht, sich selbst zu verstehen und sich darzustellen – wir möchten uns in unserer Geschichte wahrgenommen wissen. Vielleicht ist es gut, die Vielfalt der individuellen Geschichten zu feiern, weil so keine Monokulturen entstehen; aber vielleicht brauchen wir doch eine gemeinsame Schöpfungsgeschichte, in die sich die Vielfalt einbetten kann.

In unserer Auseinandersetzung mit der Anastasia-Bewegung wurde deutlich, wie sehr die Menschen die Sehnsucht nach der Verbindung zu Ahnen, mit denen sie sich identifizieren können, umtreibt. Siehst du Möglichkeiten, das in der heutigen Welt auf eine Art zu realisieren, die nicht in Ahnen-Tümelei abdriftet? 

In allen traditionellen Kulturen sind die Ahnen eine wichtige Brücke zwischen den Menschen und der transzendenten Welt. Die Ahnen sind auch die personifizierten Wurzeln unserer Geschichten. Ein Mensch aus Afrika wird dir vermutlich über die letzten fünf Generationen seiner Vorfahren etwas erzählen können. Das erzeugt ein Bewusstsein von Tiefenzeit. Vor allem in nomadischen Kulturen ist das Land stark mit der Geschichte der Ahnen verbunden; bei den Lakota gibt es einen heiligen Berg voller Geschichten, die erzählen, welcher Ahn an welchem Ort eine spirituelle Vision erlebt hat.
Ohne die Ahnen geht etwas verloren. Besonders in Deutschland, wo die Tradition so gebrochen ist, sind wir von der Vergangenheit getrennt, auf einer Zeitinsel der Gegenwart gefangen – und sehen uns auch nicht in Verbindung mit der nächsten Generation.
Große Heldengeschichten, die in der Ahnenkette weit zurückliegen, sind Mythen geworden, und die können eben brutal missbraucht werden, wie das Beispiel der Nationalsozialisten zeigt. Vor einigen Jahren habe ich in Island Ursprungsorte der Sagen der Edda besucht. Dort erfuhr ich, dass in der isländischen Fassung die Edda vor allem sehr menschliche Geschichten von Bauernfamilien, die sich gestritten und versöhnt haben, erzählt. Die Nazis haben diese Geschichten in der Übersetzung so verformt, dass dabei ein faschistoider Übermenschen-Müll herauskam. Das Risiko, dem wir in diesem Feld ausgesetzt sind, liegt darin, dass Erzählungen auch im negativen Sinn Macht über Menschen gewinnen können.

Woran lässt sich erkennen, ob sich ein Motiv zum Machtmissbrauch eignet? 

Es ist immer große Vorsicht angebracht, wenn Geschichten urteilen und werten – und wenn sie sehr simpel gestrickt sind. Hinter allen Formen von Fundamentalismus steht eine Erlösungsgeschichte, die die Welt in Gut und Böse unterteilt.
Gute Erzählungen sind, so wie das Leben selbst, voller Vielfalt und Paradoxie. Oft sind die ganz alten Geschichten paradox und nicht schlüssig. Ich habe mich in letzter Zeit mit dem Parzival-Mythos beschäftigt. Der ist voller Weisheiten, die sich aber von einer Seite auf die andere diametral widersprechen können. Hier wird von der Zerrissenheit eines Mannes auf dem Weg zur Reife gesprochen, und dieser Mensch hat viele Wahrheiten. Der Komponist Richard Wagner hat diese Erzählung, die vermutlich vorkeltische Wurzeln hat, für seine Oper stark vereinfacht. Erst in dieser Fassung konnten die Nazis sie sich aneignen – die unkastrierte Geschichte wäre dafür nicht geeignet gewesen. Gute Geschichten brauchen Lebendigkeit: Je mehr wir in Verbindung mit der Erde und den Vogelstimmen, den Geräuschen der Tiere, in der Präsenz der Bäume sind, desto mehr können wir das Leben ehren und den Wert von Vielfalt und Kooperation erfahren.
Die Anastasia-Bewegung, die du erwähnst, folgt einer engen, monokausalen Geschichte – das war früher in unseren Kreisen ähnlich: In den 1960er- und 70er-Jahren haben sich Gemeinschaften oft um ein bestimmtes Welterklärungsmodell oder einen Guru gesammelt. Heute ist ihnen bewusst, dass nicht eine Gruppe den »Stein der Weisen« hat, sondern alle nur ein Stück der Wahrheit, Weisheit und Zukunftsfähigkeit. Die eine Geschichte, die als identitätsstiftend erzählt wurde, hat sich zu einer größeren, in der mehrere Wahrheiten zusammenkommen können, erweitert. Diese lautet vielleicht schlicht: »Wir wollen eine enkeltaugliche Welt schaffen – in einem Miteinander vieler Wege.« Wir haben nur die Möglichkeit, von diesen Wegen zu erzählen – mal ist das die Geschichte eines Repair-Cafés, mal die einer solidarischen Landwirtschaft, mal die einer Transition Town. Die sind alle nicht zu Ende erzählt, aber gerade deshalb ist es wichtig, sie immer weiterzuspinnen.
Wir sind heute in der Lage, unsere eigene Geschichte umzu­schreiben, wenn wir eine Transformation unseres Selbstbilds wagen. Je mehr Menschen das tun, umso eher schreiben wir gemeinsam die Geschichte einer enkeltauglichen Kultur, wachsen gemeinsam über uns hinaus. Wir müssen die alte Geschichte ja nicht wie hilflose Statisten ableben. Außerdem gibt es kaum etwas Spannenderes, als das eigene Narrativ immer wieder neu zu erfinden!

Vielen Dank, Geseko, für das schöne Gespräch.   


Geseko von Lüpke (59) ist Journalist, Autor, internationaler Netzwerker und Leiter von Visions­suchen sowie Seminaren zur Tiefenökologie. Der Vater von drei Kindern lebt in der sich im Aufbau befindlichen Gemeinschaft Sulzbrunn im Allgäu.  geseko_ÄT_geseko.de

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