Titelthema

Heute gibt es bei uns Kaláka

Alte und neue Dorftraditionen im transsilvanischen Niraj-Tal.
von Zoltan Hajdu, erschienen in Ausgabe #45/2017
Photo
© Zoltan Hajdu

Ende der 1980er Jahre, zur Zeit der Revolution in Rumänien, war auch für mich der Moment gekommen, mein Leben zu revolutionieren. Ich hatte genug von meiner Arbeit als Ingenieur in der chemischen Industrie und wollte dorthin, wo ich als Kind glücklich gewesen war: in die Natur. Immer wieder hatte ich Bilder von mir und meinem Großvater vor Augen, wie wir im Wald hinter unserem Dorf Pilze suchten.
Über den Kontakt mit Umweltorganisationen aus dem Westen erhielt ich ein Stipendium für einen Masterstudiengang in Umweltmanagement in Straßburg. Zurück in Rumänien, gründete ich mit Kollegen und meiner Frau Erzsébet das »Focus Eco Center«. In Windeseile hatte sich Rumänien in den 1990er Jahren in eine Konsumkultur verwandelt; es gab kaum Aufklärung über die dadurch entstehenden Umweltschäden. Dafür wollten wir ein Fokuspunkt sein, aber auch in der Praxis Umweltschutz betreiben. Ich entschied mich, zurück in meine dörfliche Heimat zu gehen, ins Tal des Flusses Niraj in Transsilvanien. Nach meiner Straßburger Zeit sah ich es mit dem Blick des Ökologen mit neuen Augen.
Das Niraj-Tal hat ein besonderes Klima. Unten am Fluss, wo sich die Wärme sammelt, haben jährliche Frühlings-Überflutungen enorm fruchtbares Schwemmland hervorgebracht. Die Region gilt als »Karottenland«, die Menschen konnten sich hier schon immer autark ernähren. Die Hänge werden traditionell extensiv von Kuh- und Schafherden beweidet, so dass sich auf den Wiesen eine enorme Artenvielfalt an Blumen und Gräsern ausgebreitet hat. In den höheren Lagen, wo es im Winter sehr kalt werden kann, beginnt der Wald. Auf kleinstem Raum finden sich verschiedene Klimazonen und Ökosysteme, die seit Jahrhunderten von einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft geprägt sind. Mir wurde bewusst, wie sehr die Lebenweise, die diese artenreiche Kulturlandschaft hervorbringt, von der Konsumkultur und der Tendenz zur Industrialisierung der Landwirtschaft bedroht wird. Die jungen Leute wandern mehr und mehr in die Städte ab. Würde es möglich sein, diesen Trend durch unsere Arbeit am Focus Eco Center aufzuhalten? Über die Jahre hinweg, in denen wir ökologischen Tourismus, Programme zur Renaturierung von Wasserläufen, lokale Märkte und Direktvermarktung für die landwirtschaftlichen Produkte entwickelten, geriet der Erhalt dörflicher Kultur immer mehr ins Zentrum unserer Arbeit. Was macht das Leben hier in den Dörfern so lebenswert, dass auch junge Menschen bleiben?
Oft scheint es mir ein Kampf gegen Windmühlenflügel zu sein, aber es gibt junge Leute, die mir Mut machen, z. B. mein 23-jähriger Kollege Botond Nagy, der sich bewusst gegen das Stadtleben entscheidet. Im Studium kam er mit der ökologischen Bewegung in verschiedenen Ländern in Kontakt und kehrte mit dem Fazit zurück: »Ich muss kein Ökodorf gründen, denn bei mir zu Hause gibt es all das, was andernorts neu erfunden wird.« Ob sich unsere Dorfkultur erhalten kann, werden die nächsten Jahrzehnte zeigen. Mehr und mehr Menschen erkennen heute ihren Wert.

Kaláka
Zum Beispiel erlebt ein soziales Phänomen namens »Kaláka« derzeit eine Art Renaissance. Kaláka – ein alter Ausdruck aus einem ungarischen Dialekt, der »gemeinsam arbeiten« bedeutet – beschreibt eine Übereinkunft zwischen den Mitgliedern einer Dorfgemeinschaft, sich einander bei Bedarf zu helfen. Baut jemand zum Beispiel ein Haus, arbeiten die anderen selbstverständlich mit – ohne eine Bezahlung zu erwarten. Die Information, welche Hilfe wann gebraucht wird, erreicht die Nachbarschaft auf informellen, mündlichen Kommunikationswegen. Man erzählt anderen Dorfbewohnern – Verwandten oder Nachbarn – nebenbei: »Kommenden Mittwoch gibt es bei mir ein Kaláka, um mein Haus zu bauen.« Diese Botschaft macht im Dorf die Runde.
Die Einladenden stellen Essen und Getränke für die Mithelfenden. Wenn andere Hilfe brauchen, werden sie durch Mitglieder, die schon einmal von einem Kaláka profitiert haben, unterstützt. Zwar ist niemand zur Teilnahme gezwungen, aber in ländlichen Gemeinschaften gibt es einen strikten Moralkodex, der vorsieht, dass jedes Mitglied auf die eine oder andere Weise nützlich für die Gemeinschaft sein soll. Würde jemand, der selbst Unterstützung durch die Gemeinschaft erfahren hat, seine Mithilfe ohne guten Grund verweigern, würde diese Person an Ansehen verlieren.
Die beim Kaláka geleistete Arbeit ist »unbezahlbar«, es ist eine Art Ökonomie der Gabe. Diese Tradition ist insbesondere hilfreich bei Katastrophen wie Feuer oder Überschwemmung. Aber solche Notsituationen sind die Ausnahme, Kaláka funktioniert in erster Linie in ganz normalen Alltagssitua­tionen. Dieser Brauch ist nicht nur nützlich, sondern auch eine Gelegenheit zum Feiern: Weil sich Menschen freiwillig am Kaláka beteiligen, folgt auf die Arbeit immer ein Fest. Ist das Ziel erreicht, wird getanzt und gesungen. Das ist ein deutlicher Unterschied zu Arbeit, die gegen Bezahlung geleistet wird.
Kaláka ist unser lokaler Ausdruck für das Prinzip nachbarschaftlicher Solidarität, das sich weltweit in funktionierenden Gemeinschaften unterschiedlich ausgeprägt hat. Es ist etwas sehr Einfaches und doch so Wichtiges, das in der kapitalistischen Kultur zunehmend ausstirbt. Freunde in Mitteleuropa, in deren Regionen es keine solche Tradition mehr gibt, denken darüber nach, den Begriff »Kaláka« in ihre Sprache einzuführen. Traditionen werden oft mit Enge und Abgrenzung verbunden, aber das ist nur dann der Fall, wenn sie mit nationalistischer Ideologie vermischt werden. Ansonsten sind sie Gemeingut und können Menschen andernorts inspirieren. Wir sollten freigiebig sein im Teilen schöner Traditionen und auch erfinderisch, um neue entstehen zu lassen.

Der Katalin-Tanz von Galesti
Die Dorfgemeinschaft von Galesti hat vor ein paar Jahren einen Raum für informelle Kommunikation geschaffen. Sie führte ein neues Dorffest ein, das interessanterweise eine Reihe von Ähnlichkeiten zur Modera­tionsmethode »World-Café« aufweist.
Heutzutage haben sich Feste in ländlichen wie auch urbanen Räumen zu kommerziellen Veranstaltungen ohne spirituelle und soziale Inhalte entwickelt: Lokale Produkte wurden durch Kitsch ersetzt, lokale Musikanten, Tanzgruppen, Kunsthandwerker usw. durch kommerzielle Dienstleister. Dieses globale Phänomen hat auch die transsilvanischen Dörfer verändert, und damit gingen Gelegenheiten zur informellen Kommunikation verloren. Dieser Verlust wird zunehmend erkannt, und Menschen in Galesti, die sich mit der Organisation von Gemeinschaftsleben befassen, suchten nach neuen Wegen: Sie erfanden das Erntefest des Katalin-Tanzes.
Der Herbst gilt als ideale Zeit zum Feiern, da dann die Ernte eingebracht ist. Katalin (eine Form von Ekaterina oder Katharina auf Deutsch) ist ein sehr beliebter Frauenname im Dorf Galesti; der Namenstag der Heiligen Katharina fällt auf den 25. November. Somit bot dieses Datum eine schöne Gelegenheit für eine Zusammenkunft, bei der die Frauen geehrt werden und auch die viele Arbeit, die sie den Sommer über geleistet haben, gewürdigt wird. Das Fest beginnt um 19 Uhr, indem jede Familie einen Korb liebevoll angerichteten Essens in die Dorfschenke mitbringt. Zunächst setzt man sich familienweise an Tische und teilt die mitgebrachten Speisen und Getränke miteinander. Im Lauf des Abends gehen die Menschen von Tisch zu Tisch und steuern die eigene Meinung zu den jeweiligen Tischgesprächen bei. Auch der Bürgermeister und andere angesehene Persönlichkeiten werden dabei in informelle Gespräche verwickelt. Auf diese Weise besucht praktisch jedes Gemeinschaftsmitglied jeden Tisch – das ist das World-Café-Prinzip – und bekommt einen Überblick über die Themen und Probleme vor Ort. Dann führen die Dorfbewohner kleine Sketche auf, die auf humoristische Weise die Probleme verarbeiten, mit denen sich die Gemeinschaft im vergangenen Jahr beschäftigt hat. Die Atmosphäre ist entspannt, auch wer zur Zielscheibe des milden Spotts wird, ist nicht gekränkt. Wenn alles aufgegessen ist und die Neuigkeiten geteilt sind, folgt der wichtigste Programmpunkt: Eine lokale Musikgruppe spielt auf, und es wird bis zum Morgengrauen gesungen und getanzt.
Andere Feste in der Gemeinde Galesti haben sehr alte Wurzeln, zum Beispiel das »dreitägige Königreich«. Es beginnt damit, dass die jungen Leute im Dorf zu Ostern einen König wählen, der die Dorfgemeinschaft während der folgenden drei Tage regiert. In der Zeit der Regentschaft der Jugendlichen schreiten sie unter anderem die Dorfgrenzen ab und reinigen die Quellen. Ein wesentlicher Teil dieses Brauchs hat mit intergenerationeller Kommunikation und der Übergabe von Verantwortung von einer Generation zur nächsten zu tun. Ich halte es für äußerst wichtig, dass in Gemeinschaften im ländlichen Raum die Stimme von Jugendlichen Gehör findet.

Einen Schäfer einsetzen
Andere Traditionen sind an die landschaftlichen Gegebenheiten gebunden. Eine auch ökologisch bedeutende ist im Niraj-Tal die Allmende-Schäferei. Einige Bauern, die jeweils nur ein paar wenige Schafe halten, tun sich zusammen, um für ihre gemeinsame Herde einen Schäfer zu finden. Am St.-Georgs-Tag, der in Transsilvanien am 24. April begangen wird, können sich die Schäfer bewerben. Die Kandidaten verhandeln mit den Bauern über verschiedene Fragen, zum Beispiel, wie viel Käse er pro Schaf bekommt oder wie verfahren wird, wenn ein Schaf von einem Bären oder Wolf angegriffen wurde. Ist sich eine Gruppe von Bauern einig, wählt sie ihren Schäfer aus, und alle teilen sich dafür die Kosten, unabhängig davon, wie viele Tiere sie in der Herde haben. Die Vereinbarung gilt bis zum Ende der Saison, wobei es nur einen mündlichen Vertrag gibt, den alle respektieren. Sich gemeinsam einen Schäfer zu nehmen, ist eine alte, kraftvolle Tradition, die heute durch die großen Agrarunternehmen mit ihren riesige Schafherden gefährdet ist.
Das Beispiel zeigt, dass ländliche Gemeinschaften aus einem selbstverständlichen Interesse heraus, mit den Ressourcen ihres Lebensraums pfleglich umzugehen, sinnvolle und klare Regeln sowie effiziente Wege für Kommunikation und Entscheidungsfindung entwickeln – so entstehen Allmenden. Dies kann auch Menschen im urbanen Raum inspirieren: In der kulturellen Avantgarde der großen Städte wird heute viel über die Entwicklung partizipativer Entscheidungsmethoden und Selbstorganisation diskutiert.

Kultur als Natur des Menschen
Wenn sich Menschen heute fragen, wie sich »gutes Leben für alle« gestalten lässt, kann meiner Meinung nach der Blick dorthin, wo sich Lebendigkeit ungestört entfaltet, weiterhelfen. Auch heute lerne ich von den wilden Wäldern meiner Kindheit. Ich denke, es liegt in der Natur des Menschen, dass er frei sein und immer wieder in der Wildnis sein möchte. Selbstverständlich ist da auch der Wunsch nach Schutz und Sicherheit – wir bewegen uns immer in der Polarität zwischen Sicherheit und Freiheit. Ich denke nicht, dass dies ein Gegensatz sein muss. Wildnis bedeutet nicht, dass es keine Ordnung gäbe; die wilde Natur hat ihre Prinzipien und Muster, sie kann ein Vorbild für uns Menschen sein. Ich frage mich oft, ob wir Kultur als Ausdruck der menschlichen Natur statt als Gegensatz zur Natur begreifen können. Muss Kultur immer die Vielfalt der Natur reduzieren? Betrachte ich heute einen modernen Permakulturgarten oder die traditionellen Bauerngärten im Niraj-Tal, dann denke ich: Nein, wir können im Kultivieren von Land beim Prinzip der Vielfalt und der gemeinschaftlichen Selbstorganisation ansetzen.
In meiner politischen Arbeit im Focus Eco Center wird es mir immer wichtiger, von der Schönheit dörflicher Kultur zu erzählen. Ich kann viel eher durch positive Bilder als durch rationale Argumente überzeugen. Deshalb drehen wir Filme, in denen Menschen davon erzählen, wie und warum sie auf dem Land etwas anderes wollen, als der urbanen Konsumkultur nachzueifern. Dabei ist die Stadt kein Feindbild für mich; ich sehe mich vielmehr auch als Teil einer globalen Bewegung für die Re-Ruralisierung der Städte. \ \ \


Zoltan Hajdu studierte Chemie, Geologie und Umweltmanagement. Er ist Mitbegründer des »Focus Eco Centers« mit Sitz in Târgu Mureș. Seinen Film »Whom Guided by the Stars« über Menschen, die sich bewusst fürs Landleben entscheiden, gibt es unter www.kurzlink.de/GuidedByStars.

weitere Artikel aus Ausgabe #45

Photo
von Der Schwarm

Leer – oder noch nicht wieder voll?

Im Frühling haben wir erstmals unsere Leserinnen und Leser gefragt, ob sie mit freiwilligen Beiträgen einen Solidartopf füllen würden, aus dem Menschen, die sich für das Entstehen der Zeitschrift einsetzen, ein Grundauskommen erhalten. Seitdem erreichten uns 24 043

Photo
von Andrea Vetter

Widerständig gegen Kohle

In Pödelwitz gibt es Filterkaffee mit Kaffeesahne. Er wird uns, den Gästen aus Leipzig, von Jens Hausner, dem Vorsitzenden der Bürger­initiative »Pro Pödelwitz«, im Feuerwehrhaus in der Dorfmitte serviert. Es ist nicht leicht, die 20 Kilometer von Leipzig nach

Photo
von Andrea Vetter

Die (Un)Ordnung unserer Welt

Teil 1: Unheimliche BegegnungenEs war bei einem Besuch in einer anderen Stadt. Eine Freundin nimmt mich mit zu einem Trommel-Workshop. Schön sieht es in dem Raum aus,verschiedene Instrumente laden zum Ausprobieren ein, der Duft nach Holz liegt in der Luft. Ich fühle mich wohl. Wir

Ausgabe #45
Nach Hause kommen

Cover OYA-Ausgabe 45
Neuigkeiten aus der Redaktion