Die Kraft der Vision

Große Bögen denken

Zukunftsfähigkeit entsteht nicht, indem wir das Bestehende fortschreiben.von David Holmgren, erschienen in Ausgabe #41/2016
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Wir leben und gestalten in einem historischen Kontext, in dem sich Umwälzungen und Wandel auf verschiedenen größeren Systemebenen ereignen; dies erzeugt die Illusion endlosen Wandels ohne die Möglichkeit von Stabilität oder Nachhaltigkeit. Ein kontextgebundenes und systemisches Verständnis des dynamischen Gleichgewichts zwischen Stabilität und Wandel trägt zu Gestaltungsweisen bei, die nicht beliebig, sondern evolutionär sind.
Das zwölfte Permakultur-Gestaltungsprinzip »Nutze Veränderung, und rea­giere kreativ darauf« trägt das Motto: »Die Kraft der Vision heißt, Dinge nicht so zu sehen, wie sie sind, sondern so, wie sie einmal sein werden.« Damit wird betont, dass ein tiefes Verständnis von Wandel weit mehr als eine Projektion statistischer Trends auf die Zukunft ist. Zudem schließt sich mit diesem Motto der Bogen zwischen dem zwölften und letzten Gestaltungsprinzip über den Wandel und dem ersten Gestaltungsprinzip über die Wahrnehmung: »Beobachte und interagiere.«
Wenn wir unser Zeitalter verstehen wollen, müssen wir die limitierende Auffassung überwinden, dass Wandel vom unaufhaltbaren linearen Pfeil des Fortschritts getrieben sei, und stattdessen erkennen, dass die Natur und die Menschheit von kleinen wie großen Zyklen gelenkt werden, die einander überlappen und wie Matrjoschka-Puppen ineinander verschachtelt sind. Wir müssen multiple Zyklen mit höheren Ordnungen als die gerade aktuellen Mode-, Business- oder Politik-Zyklen in unser Denken integrieren.
Historiker, die erklären, welche Lektionen es aus der Geschichte zu lernen gäbe, waren nie besonders beliebt, insbesondere seit ihnen die illustre Theorie der geschichtsprägenden »großen Männer« abhanden gekommen ist. Wenn Geologen, Paläobiologen und Archäologen versuchen, das wirklich große Bild, das einen Kontext für unsere Gegenwart liefert, zu skizzieren, wird dies als akademische Spielerei mit wenig konkreten Auswirkungen auf das Hier und Jetzt oder bestenfalls als interessanter Schnappschuss aus früheren Zeiten, die dann auf eindimensionale Weise mit unserer Zeit verglichen werden, abgetan. Andererseits gibt es apokalyptische Vorhersagen naturwissenchaftlicher oder spiritueller Spielart, die den unvorhersagbaren Wandel nicht auf ganzheitliche und flexible Weise abzubilden versuchen, sondern manche Menschen dazu animieren, spezifische Pläne zu verfolgen und konkrete Vorbereitungen zu treffen.

Multidimensional und langfristig denken lernen
Geologie und Biologie haben die biblische Annahme, die Welt sei nur 6000 Jahre alt, schon lange über den Haufen geworfen. Angesichts der Ausweitung menschlicher Macht, befeuert durch die Vernutzung eines Großteils der am leichtesten auszubeutenden und potentesten fossilen Brennstoffe unseres Planeten, müssen wir lernen, auf mehreren Zeitebenen gleichzeitig zu denken, um die Weisheit zu entwickeln, die notwendig ist, damit aus der Realität schwindender Energiereserven eine Nachhaltigkeitskultur emergieren* kann. Wir müssen das langfristige Denken, das für indigene, ortsgebundene Kulturen ganz natürlich war, wiederentwickeln und sogar noch erweitern. ' Zu lernen, wie wir die multidimensionale, in Muster eingebettete Natur der lebendigen Erdgeschichte erkennen und fühlen können, ist eine entscheidende Voraussetzung, um den vielfältigen Wandel, mit dem wir konfrontiert sind, nutzen und kreativ auf ihn reagieren zu können.
Die Geschichte des Lebens auf der Erde enthält große, Jahrmillionen umfassende Zeiträume, in denen die Landmassen der Erde miteinander kollidierten, in denen flache Meere den Großteil der Erdoberfläche bedeckten und das Klima nahezu einheitlich mild und moderat feucht war. Die Biodiversität war gering, und Ökosysteme veränderten sich nur geringfügig und nur über große Flächen und Millionen von Jahren hinweg. Diese Stabilität wurde von kürzeren Phasen großen Wandels unterbrochen. Die vergangenen 2,6 Millionen Jahre, »Quartär« genannt, waren durch tektonische Anhebungen und Vulkanismus, durch Eiskappen auf Bergen und Kontinenten, durch weite Landmassen mit vielfältigen Klimata, durch Eiszeiten und warme Zwischeneiszeiten, durch massives Artensterben und vielfältige ­Artenbildung gekennzeichnet. Ein Großteil der wunderbaren biologischen und geografischen Vielfalt auf der Erde, die wir als natürlich hinnehmen, existiert nur in ebendiesen Phasen großen Wandels. Dass eine Spezies wie der Homo sapiens in einer der langsam verlaufenden, anhaltend stabilen Phasen, die die Geogeschichte der Erde dominiert haben, überhaupt entstanden wäre, geschweige denn überlebt hätte, ist unwahrscheinlich. Vor diesem Zeithorizont betrachtet, gleicht die Menschheit einer explosions­artig auftretenden, kurzlebigen Mikrobenart.

Wandel geschieht plötzlich und impulsiv
In solchen Zeitaltern großen geologischen, klimatischen und biotischen Wandels gibt es kleinskalige Stabilitätsmuster, gefolgt von kurzen Ausschlägen an Aktivität. Eiszeiten mit einer Dauer von Jahrhunderttausenden sind der stabile Normalfall im Quartär, während Zwischeneiszeiten mit einer Dauer von etwa 10 000 Jahren den explosiven Pulsschlag des Lebens darstellen, ermöglicht durch neue Fruchtbarkeit, günstige klimatische Verhältnisse und wachsende Biodiversität.
Auf einer noch kleineren Ebene können wir sowohl die Eiszeit als auch die Zwischeneiszeit als relativ stabile Zustände betrachten, getrennt durch schnelle Übergangsphasen: zeitliche Grenzen zwischen zwei stabilen Systemen. Als beispielsweise am Ende der letzten Eiszeit vor 12 000 bis 8000 Jahren die Meeresspiegel anstiegen, hätten die Vorfahren der australischen Aborigines beobachten können, wie die Bassian Plain – die einstige Landbrücke zwischen Tasmanien und dem Festland – Jahr für Jahr schrumpfte, weil die winterlichen Stürme die Küstendünen abtrugen, so dass Tausende Hektar überflutet wurden, die bis heute kein trockenes Land mehr sind. Noch dramatischer sind die Belege für kontinentale Gletscher, die so große Eisberge abgeworfen haben, dass der Meeresspiegel anstieg und große Landflächen überflutet wurden, wie im Mythos von Atlantis beschrieben.
Funde gefrorener Mammuts mit Gras im Maul legen nahe, dass der Beginn der letzten Eiszeit in der nördlichen Hemisphäre durch einen frühen, harten Winter eingeläutet worden war. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, dass sich weitreichender Wandel mit ex­tremer Geschwindigkeit vollziehen kann.
Im günstigen und erstaunlich stabilen Klima der gegenwärtigen Zwischeneiszeit hat die Menschheit die Landwirtschaft enwickelt – dies bezeichnen wir als »Zivilisation« – und, daraus hervorgehend, die Industriekultur. All diese Entwicklungen haben die Geschwindigkeit und Wirksamkeit menschlichen kulturellen und ökologischen Wandels erhöht, sind jedoch wiederum abhängig von dem fragilen Zustand unseres zwischeneiszeitlichen Paradieses. Während die nachteiligen Auswirkungen der Erderwärmung ein guter Grund mehr sind, uns unserer Abhängigkeit von Mächten und Umständen, die über uns selbst hinausgehen, bewusst zu werden, sollte uns jede ernsthafte Auseinandersetzung mit der nächsten Eiszeit (mit der irgendwann im Lauf des dritten Jahrtausends oder etwas später zu rechnen ist) dazu veranlassen, eine bescheidene, vielseitig begabte, anpassungsfähige Kulturform zu gestalten, die von einer kleinen, weltweiten Bevölkerung aufrechterhalten wird und in der Lage ist, die Erdabkühlung und die langen Jahre der Eiszeit zu überstehen. Wir müssen die Illusion einer linearen Beschleunigung menschlicher Kultur und quantitativen Fortschritts überwinden und stattdessen zu einer Weltsicht finden, die alle Ereignisse in ineinander eingebettete Kreisläufe, Wellen und Pulsschläge, die sich zwischen den Polaritäten großer Stabilität und intensiven Wandels hin- und herbewegen, integriert.
Diese zyklische Sichtweise auf die Zeit ist keine neue Idee, sondern schlichtweg eine Wiederentdeckung des tief in unsere menschliche Kultur und in unser kollektives Unbewussten eingebetteten Weltverständnisses. 
Die alte Hindu-Kosmologie eröffnet beispielsweise eine atemberaubende Perspektive auf die zyklische Natur der Zeit und das proportional pulsierende Gleichgewicht zwischen Wandel und Stabilität: Ein kultureller Zyklus von 60 000 Jahren wird von einer langen, aus drei großen Zeitaltern bestehenden matriarchalen Phase dominiert; er kollabiert in wirbelndem Chaos, bevor die patriarchale Phase, das Kali-Yuga, einsetzt. Das Kali-Yuga (oder »Zeitalter der Spaltung«) dauert nur 6000 Jahre, bevor ein weiterer Wirbel des Wandels zum nächsten Zyklus führt. Der sorgfältigen Berechnung mancher Hindu-Numerologen zufolge stehen uns noch über 400 Jahre chaotischen Wandels im Kali-Yuga bevor, bis das neue matri­archale Zeitalter beginnt – nur ein Augenblick im großen kosmischen Gefüge!

Künftige Generationen auf den Wandel vorbereiten
Ohne dass ich dieser oder jener Prognose besondere Glaubwürdigkeit bescheinigen möchte, ist es durchaus vernünftig, anzunehmen, dass die Leben unserer Kinder, unserer Enkel und deren unmittelbarer Nachfahren wohl kaum von den illusorischen Annahmen eines stabilen Gleichgewichts anhaltenden Wachstums oder einer ruhigen, verlässlichen Nachhaltigkeitskultur geprägt sein werden. Wir müssen kommende Generationen auf Ungewissheit und rapiden Wandel vorbereiten und in ihnen durch unser gelebtes Beispiel eine Wertschätzung für die fortdauernden Rhythmen der Natur, für den Wert langfristigen Denkens und beständigen ethischen Verhaltens sowie für die Bedeutung der schlichten, gewöhnlichen, ja sogar der profanen Aspekte des Lebens wecken.
Die Permakultur gleicht einem dynamischen Wechselspiel zwischen zwei Phasen: dem praktischen Nähren und Pflegen des Lebens im Jahreskreis einerseits und der gedanklichen Abstraktion und emotionalen Intensität kreativer Gestaltungsphasen andererseits. Ich betrachte die Beziehung zwischen den beiden Phasen als pulsierendes Wechselspiel zwischen Stabilität und Wandel. Das stetige, zyklische und demütige Arbeiten mit der Natur schafft den Nährboden für Inspiration, Integration und Integrität, die wiederum das praktische Tun informieren und transformieren. Ersteres ist harmonisch und beständig, zweiteres episodisch und impulsiv. Im freudig-spielerischen, asymmetrischen Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen drückt sich unsere Menschlichkeit aus. •

Auszug aus David Holmgrens Buch »Permakultur. Gestaltungsprinzipien für zukunftsfähige Lebensweisen«, aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fersterer, Drachen Verlag 2016.


David Holmgren wurde 1955 an der australischen Westküste geboren. Nach ausgedehnten Reisen traf er 1973 auf seinen Mentor Bill Mollison, mit dem er gemeinsam die »Permakultur« als Konzept einer dauerhaft tragfähigen Kultur entwickelte. 1978 erschien das von Holmgren und Mollison gemeinschaftlich verfasste Standardwerk »Permaculture One«. Seitdem widmet sich David Holmgren der Weiterentwicklung und Praxis­erprobung der Permakulturprinzipien, nicht nur bezogen auf Land- und Gartenbau, sondern auch in Hinblick auf den Aufbau einer umfassend lebensdienlichen postfossilen Kultur. In seinem 2002 erschienenen Buch »Permaculture. Principles and Pathways beyond Sustainability«, das demnächst in deutscher Übersetzung erscheint, arbeitete Holm­gren Ethik- und Gestaltungsprinzipien für zukunftsfähige Denk-, Lebens- und Gestaltungsweisen heraus. Dabei verknüpfte er aktuelle ­Erkenntnisse aus Systemwissenschaft, Designforschung, Sozial­wissenschaft und Ökologie mit den Traditionen indigener Völker und vorindus­trieller Gesellschaften. Er lebt auf dem gemeinsam mit seiner ­Lebensgefährtin Su Dennett entwickelten Perma­kulturforschungs­gelände Melliodora in Hepburn Springs im südwest­australischen Bundesstaat Victoria als ­Berater, Lehrer, Gestalter und Autor.

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