Permakultur

Die Wiederentdeckung der Alblinse

von Isabella Hafner, erschienen in Ausgabe #40/2016
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© Thomas Stephan

Der Dreiklang »Linsen mit Spätzle und Saitenwürstle« gehört im Land der Schwaben zum Pflichtprogramm vieler Kantinen und Restaurants. Meist jedoch kommen die Linsen nicht mehr von der Schwäbischen Alb, sondern aus den heutigen Hauptanbaugebieten – aus dem Mittelmeerraum, etwa der Türkei, oder aus Kanada –, wo sie intensiv gespritzt werden.

Als der studierte Biologielehrer und Hobby­landwirt Woldemar Mammel Anfang der 1980er Jahre den Versuch startet, am Rand seines Heimatdorfs Lauterach im beschaulichen Lautertal der Schwäbischen Alb wieder Linsen anzubauen, da gelten »Späths Alblinse I« und die Variante II – die »Kleine« und die »Große« – als verschollen. Stattdessen baut Mammel also die französische, grün-bläulich-marmorierte Puy-Linse an, doch die Späth-Linse lässt ihm keine Ruhe.
In den 1930er Jahren hatte der Pflanzenzüchter Fritz Späth, der aufgrund seiner Zuchterfolge bei Hülsenfrüchten deutschlandweit als »Erbsenkönig« gepriesen wurde, aus Landsorten der Schwäbischen Alb die beiden Sorten gezüchtet: Linsen, die besonders klein sind und, da der Geschmack in der Schale sitzt, durch deren verhältnismäßig hohen Anteil besonders intensiv nussig schmecken. Späths »Hellerlinse«, eine dritte Sorte, war ein bisschen größer.
Bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts war die Schwäbische Alb eines der deutschen Hauptanbaugebiete für Linsen. Die Linse mag keine schweren Böden, sie ist mit »armen« zufrieden und verträgt Frost. Sie braucht auch keine Stickstoffdüngung. Im Gegenteil: Wie andere Leguminosen – etwa Klee und Lupinen – kann sie anhand ihrer Wurzelknöllchen Stickstoff aus der Luft im Boden binden und ihn damit selber düngen. Die Aussicht auf 80 Kilogramm ­Nitrat pro Hektar gefiel Biobauer Woldemar Mammel außerordentlich gut. Er wollte also Linsen anbauen wie früher.
Schon um 500 vor Christus ­ernährten sich die Menschen in der Gegend von Linsen. In einer keltischen Siedlung im oberschwäbischen Riedlingen wurden Tonscherben gefunden. Mammel: »Die frisch getöpferten Gefäße wurden nach dem Drehen auf den Boden gestellt; darunter streute man Körner, etwa Linsen, damit die Gefäße während des Trocknens nicht am Boden festklebten.« Die Abdrücke sind noch zweieinhalb Jahrtausende später zu sehen. Nicht nur auf der Alb wurden Linsen seit jeher zur Selbstversorgung angebaut, sondern auch bei Würzburg und Bamberg, im Süden Thüringens, im Saarland und in der Eifel. Mammel erzählt von einem früheren Linsenkönig aus dem Lautertal, der seine Ernte auch verkauft hat. Ein Enkel dieses »Königs« baut nun wieder an – und zwar die schwäbischen Späth-Linsen. Diese kommen unter anderem in Restaurants, die Wert auf Regionalität und Bioqualität legen, auf den Teller. Sie stammen nicht nur vom Königs-Enkel, sondern auch von den Äckern der Erzeugergemeinschaft von etwa 80 Alb-Biobauern, die Mammel für ein Revival der Linse begeistern konnte.
Aber wie ist das möglich, wenn Späths Alblinsen doch als verschollen galten?
Nach dem Krieg wird Späths Linse noch fleißig angebaut; sie dient sogar mitunter als Zahlungsmittel – die Bauern tauschen sie auf dem Schwarzmarkt. 1963 nahm die »Wawilow«-Saatgutdatenbank in St. Petersburg die Samen in ihre Sammlung auf.
Doch bereits seit den Wirtschaftswunderjahren landet jedoch immer mehr Fleisch auf den Tellern und verdrängt Linsen als Hauptmahlzeit. Gleichzeitig erobern große Getreidemähdrescher die Felder; im Vergleich dazu ist die Linsenernte sehr aufwendig und rentiert sich bald nicht mehr. Linsen müssen abreifen, also nach der Ernte noch drei Tage in der Sonne trocknen – wehe, wenn es dann regnet! Außerdem braucht die Pflanze Halt zum Wachsen; man muss Stützfrüchte zwischensäen und diese nach der Ernte wieder herausfiltern. 1966 wird die erste und einzige Eintragung einer Linsensorte im deutschen Bundessortenregister gelöscht: Späths Alblinse I. Die Linsen verschwinden endgültig von den Feldern – nachdem sie jahrhundertelang zum Landschaftsbild gehört hatten.
Von der vergeblichen Suche nach der alten Sorte frustriert, erklärt Woldemar Mammel im Jahr 2001 Späths Linsen für ausgestorben. Weder das Saatzuchtunternehmen Späth noch die deutsche Genbank in Gatersleben konnten bei der Suche weiterhelfen. Nur Späths Hellerlinse hat in Gatersleben überlebt. 2006 nimmt »Nutzpflanzendetektiv« Klaus Lang, ein gelernter Ingenieur und Bekannter Mammels, dennoch die Suche wieder auf – und hat tatsächlich Erfolg. In einer Mail schreibt er an seinen Freund: »Habe die von dir gesuchten Linsen gefunden und auch schon erhalten: Späths Alblinse I und II.« Mammel erinnert sich: »Mein erster Gedanke war: ›Das kann nicht sein! Bestimmt gibt’s auf dem Markt Scharlatane, die einem alle Sorten verkaufen, die man sucht.‹« Doch Klaus Lang hat die Sorten tatsächlich in der St. Petersburger Genbank geortet. Mammel hatte sie in dem drittgrößten Saatgutzentrum der Welt vergeblich gesucht, weil sie dort durch einen Schreibfehler jahrelang als »falsche Alpenlinse« geführt wurde. In der riesigen Samenbank finden sich allein über 3000 Linsensorten unterschiedlicher Herkunft. Alle fünf bis sechs Jahre werden sie ausgesät, damit sie keimfähig bleiben.
Ein halbes Jahr nach dem Fund erhält Mammel zwei kleine Tüten mit etwa 350 Linsensamen aus St. Petersburg – eine Menge, mit der man eine Fläche von gerade einmal fünf Quadratmetern bepflanzen kann. Wie vermehrt man Linsen schnell?

Wiedergeburt einer Spezialität
Zunächst einmal sät Bernd Horneburg, der sich an der Universität Göttingen mit dem Linsenanbau befasst, im Gewächshaus 40 Körner aus; er verfolgt das Ziel einer Turbo-Vermehrung. Die Pflanzen wachsen dort von Januar bis Mai, im Juni wird der Ertrag wieder ausgesät. Wissenschaftlich begleitet wird die Vermehrung auch von der Abteilung Pflanzenbau der Hochschule ­Nürtingen. In diesem Zusammenhang wird die Späth’sche Alblinse mit anderen Sorten aus der ganzen Welt verglichen. Bereits nach einem Jahr zeigt sich, dass diese Kreuzung aus alten Alblinsen in der Linsenliga ganz vorne mitspielt.
Auf der »Intensivstation« – einem Gärtnerei-Gewächshaus in Obermarchtal in der Nähe von Mammels Ort Lauterach – wird in einem nächsten Schritt jede Linse in einen Topf gepflanzt und automatisch bewässert. Im Glashaus gedeihen die Linsen hervorragend. Zuviel Regen, der Pilzerkrankungen begünstigen könnte, gibt es hier nicht; kein Hagel wütet zerstörerisch, und gegen Blattläuse oder Milben werden biologische Mittel sowie Nützlinge eingesetzt. Auf diese Weise explodiert der Blütenansatz fast, häufig wachsen es 200 bis 300 Hülsen pro Pflanze. Ein Samenkorn bringt unter diesen Bedingungen 400 bis 500 neue Samen hervor. Der begeisterte Woldemar Mammel kann es kaum glauben; auf freiem Feld ist eine 20- bis 40-fache Vermehrung üblich.
Schließlich, nach 50 Jahren Dornröschenschlaf, wird die Alblinse wieder auf dem Acker ausgesät – und zwar zusammen mit Hafer als Stützfrucht. Doch nach der Freisetzung bleibt der Niederschlag wochenlang aus. Als er endlich kommt, verwandelt er sich in Hagel. Schnell spannt man ein Schutznetz, das die Gefahr tatsächlich abwehren kann.
Schon drei Jahre später können auf fünf Hektar Linsen ausgesät werden; 2011 ist es schon genug für 34 Hektar. In jenem Jahr kann man die alte schwäbische Linse – als Kleine und als Große – endlich in kleinen Bio- und Dorfläden kaufen. Die Genossenschafts­bauern liefern Mammel die Hülsenfrüchte; er trocknet sie, trennt Stützfrüchte, Unkraut und Halme davon, packt ab und vertreibt die Spezialität.
Mittlerweile versucht der 2009 gegründete »Alblinsen-Förderverein für alte Kulturpflanzen auf der Schwäbischen Alb«, alte Sorten zusammenzutragen und für die Allgemeinheit frei zugänglich zu machen. Ein »Gendatenbänkle« soll entstehen, denn Altes – das zeigt diese Geschichte – will bewahrt werden. •


Isabella Hafner (32) ist Nachhaltigkeitsjournalistin/Redakteurin bei der Südwest Presse Ulm.


Alles tun für ein Linsengericht
www.alb-leisa.de

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