Titelthema

Kapitel 5

von Der Schwarm, erschienen in Ausgabe #40/2016
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Sollte es noch ursprünglich lebende Ethnien geben, die als dem Land eingeborene Menschen leben, anstatt sich als Beherrscher der Erde zu gebärden, dann zählen die San im südlichen Afrika dazu. Archäologische Funde von Werkzeugen legen nahe, dass die San seit mindestens 40 000 Jahren ihre ursprüngliche Lebensweise pflegen. Sie kommen ohne Führer aus; die Forschung nennt ihre soziale Verfasstheit »radikalen Egalitarismus« – eine wurzeltiefe Gleichwürdigkeit der Geschlechter und Lebensalter. Sie leben in Gemeinschaften von ein paar Dutzend bis zu zweihundert teils bluts-, teils wahlverwandten Menschen. Wichtige Belange werden gemeinsam auf Grundlage persönlicher Erfahrung, Sachkenntnis und Überzeugungskraft entschieden. Kinder lernen, was sie fürs Leben brauchen, durch freies Spiel. Sie werden nicht gemaßregelt. In jahreszeitlichen Wanderungsbewegungen ziehen die San durchs Land und leben von dem, was sie jagend und sammelnd erbeuten. Sie kennen keinen Landbesitz und keine Grenzen, außer jenen, die sich aus der Landschaft ergeben. Sie sind wahre Kinder der Erde.
In Botswana existieren heute noch rund 50 000 San im ex­tremen Lebensraum der Kalahari-Halbwüste. Als dort Diamanten entdeckt wurden und sich die Großwildjagd als lukrativ erwies, wurden die San in drei Räumungsaktionen von ihrem heimat­lichen Land vertrieben. Zwar wurde ihnen 2006 gerichtlich zu­erkannt, in ihre Stammesgebiete zurückkehren zu dürfen. Weil sie aber nicht nach modernen Normen politisch organisiert sind, wird ihnen bis heute das Recht abgesprochen, über Land zu verfügen. Die Regierung umzäunte die Wildtierreservate, pferchte die Menschen in Ghettos, ließ ihre Wasserstellen mit Beton zugießen und gab die jagenden San als angebliche Wilderer zum Abschuss durch zum Schutz großwildjagender Touristen eingesetzte Sonderkommandos frei. Alkoholismus sowie kriegerische Übergriffe der viehzuchttreibenden Bantu tragen aktuell weiter zu ihrer Dezimierung bei.

Ein Baum. Der südlichste Baum der Erde. Etwas an ihm und seinen kleinen, buchenähnlichen Blättern rührt an: Sein knorriges Wurzelwerk, eine Miniaturversion des Wurzelgeflechts der in Europa heimischen Buche, klammert sich mit gefasster Bestimmtheit an die karge Küste eines windumtosten Kaps in Patagonien – nach ihm nichts als Ödland, Wasser, Packeismassen. Er besiedelt eine ökogische Nische, die sich ebensogut niemals hätte bilden oder irgendwann unbemerkt für immer hätte schließen können. – Neben dem Weg zu seinem Haus zeigt uns der Biologe Michael Succow seinen Lieblingsbaum: Nothofagus antarctica, die Antarktische Südbuche.
Wir besuchen Michael in seinem Garten. In den zwanzig Jahren, in denen er und seine Frau Ulla ihr Haus in einem Dorf bei Greifswald bewohnen, haben sie die Nachbarn dazu gebracht, ihre Gartenzäune abzubauen. Seine Beete mulcht er mit dem Gras und den Moosen, die im Schnittgut der notorisch mähenden Nachbarn anfallen: »Die Erde bleibt so immer geschützt, in unseren Klimaten gibt es in der Natur keinen unbedeckten Boden.«
Bevor wir unser Gespräch beginnen, machen wir Bekanntschaft mit allen Bäumen und Stauden in seiner Hecke: Mispel, Alant, Ginster, Ginkgo, Wild­apfel. Michael stellt sie uns vor wie gute Freunde. Manche sind Mitbringsel von seinen Reisen zu Biosphärenreservaten, um die sich seine Stiftung weltweit kümmert. Was in semihumiden Steppenlandschaften wächst und tief wurzelt, kommt mit unserem trockenen, kühlen Ostseeklima gut zurecht, lernen wir.

Johannes Heimrath Seit vielen Jahren bin ich dabei, mich zu »ent-humanisieren«, mich zunehmend als Wurm unter Würmern zu verstehen. Ich möchte lernen, mich als gleichwürdiges Lebewesen in das Lebensganze einzugliedern, um von dem Sockel, auf den unsere sogenannte Kultur uns Menschen hebt, hinabzusteigen. Kann ich eine würdevolle Neubewertung meiner selbst vornehmen, die mich mit den Tieren, Pflanzen, Bakterien, Steinen geschwisterlich verwandt werden lässt?
Wenn ich aufhöre, den Menschen außerhalb der Natur zu verorten, beginnt eine Sprachlosigkeit – keine Stummheit, sondern ein tönendes Schweigen. Der Begriff »Natur« ist ein Container, vollgestopft mit Konzepten von unserer menschlichen Überlegenheit. Vielleicht lässt sich das, was ich inzwischen als »ganzes Leben« empfinde, nur mit Poesie und Musik einfangen. Können wir uns dennoch gemeinsam auf dieses spracharme Feld einlassen? Darf ich dich fragen: Wer bist du als Natur? Wie empfindest du dein Natursein?
Michael Succow Als Naturwissenschaftler habe ich nach Anworten auf die Frage »Wie organisiert sich Natur?« gesucht. Darwin hat in der Natur den Konkurrenzkampf gesehen, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die Natur ist ein Organismus, dessen Teile sich befruchten, fördern und zusammenwirken. Das große Wort, um das es für mich geht, heißt deshalb »Zusammenspiel«. Ich erlebe heute eine Gesellschaft, die das Zusammenspiel nicht kennt, sondern nur die Logik der Verdrängung. Alle Welt spricht vom Anthropozän*, in dem der Mensch das Gesicht der Erde zunehmend umgestaltet. Das kann nicht gutgehen. Lasst uns zur Demut gegenüber der Natur zurückfinden!
JH Wenn wir »die Natur« in uns hineinnehmen, hört sie auf, etwas Externes zu sein. Dann geht es nicht um ein Sich-Unterordnen oder Kleinmachen, denn es gibt gar kein »Gegenüber« im Objekt-Sinn mehr. Das »Gegenüber« beschreibt dann nur recht unzutreffend die Wahrnehmung eines gemeinsamen »Inmitten-Seins« von autopoietischen* Subjekten, die sich einen Lebensraum – den Körper unserer Planetin* – teilen.
MS Das ist ein Denkansatz, den ich so noch nicht betrachtet habe. – Wenn ich in eine intakte Landschaft gehe, zum Beispiel in ein noch lebendes, noch wachsendes Moor, habe ich das Gefühl, von einem Wunder umgeben zu sein. Was hat die Evolution alles hervorgebracht?! Dieses Verwobensein aller Lebewesen kann ich nur als Wunder bezeichnen. Wir Menschen sind in solch einem Moor eher Störenfriede. Das bedrückt mich schon.
In jüngeren Jahren war mein höchstes Ziel, Natur­schutzgebiete und Nationalparke auszuweisen, zu denen Menschen nur bedingt Zutritt haben. National­parke sind Kinder der Industriegesellschaften und begannen in Nordamerika. Die dort ansässigen traditionellen Kulturen wurden liquidiert. Sicher, das ist heute so nicht mehr der Fall. Aber inzwischen hoffe ich, dass diese Welt trotz aller Kollaps-Prozesse mit uns ­Menschen weitergeht – nicht ohne uns.
Dazu möchte ich mich einerseits als Teil der Natur fühlen, so wie du es sagst. Dann aber möchte ich auch wissen: Wie funktioniert sie? Dieses unfassbare Wunder der Evolution – alles geht in den Kreislauf ein, nichts ist Ballast oder Belastung. Die Ökosysteme halten das Produzierte fest und speichern es; der Überschuss an biologischer Masse kann dabei festgelegt, fossiliert werden. Er wird entsorgt; aus dem Abgestorbenen, Zersetzten entsteht wieder das Neue, wird Humus. Aus dem Wissen um dieses Geschehen und Funktionieren entwickelt sich für mich die Erkenntnis: Wir können nur staunen und versuchen, von der Natur zu lernen, wie sie es macht, zukunftsfähig zu sein und zu bleiben! Meine Hoffnung ist, dass wir Menschen wieder ein bewusster Teil des großen Reichs »Natur« werden, und nicht als dessen Zerstörer wirken. Wir Menschen können dabei auch heilsam wirken, etwa indem wir Moore wiedervernässen.
JH Du siehst das Moor vor dir und empfindest es als Wunder. Das gibt mir Anlass zu einer Frage: Ich sehe dich vor mir, ein Gebilde, dass sich »Michael ­Succow« nennt. Ein Wesen mit Augen, das auch noch hören, riechen, schmecken und sich bewegen kann, das atmet und sich in seinem Leben-Sein nicht von anderem Leben unterscheidet – etwas ganz Erstaunliches, ein Wunder! Durch und durch Natur! Jetzt vergegenwärtige ich mir das Symposium zur Feier deines 75. Geburtstags: Ein Raum voller Menschen, voller solcher Wunder, die alle deinetwegen gekommen sind. – In der Regel empfinden wir Ansammlungen von Menschen als anstrengend und erholen uns davon, indem wir »in die Natur hinaus« gehen. Was hält uns davon ab, Menschen auf dieselbe Weise wahrzunehmen wie das Pfeilkraut, die Mispel oder den Molch?
MS Wenn ich allein bin oder von den Menschen enttäuscht, und ich gehe in Natur, die wenigstens noch halbwegs intakt ist, oder sitze hier an meinem Teich, erfahre ich eine ungeheure Beglückung. Wie ist das alles verwoben! Da sitze ich und staune und denke nach, möchte eintauchen ins Ganze. In die großen Landschaften zieht es mich, ans Meer in seiner Weite, ins Hochgebirge über den Wolken, in die letzten Steppen oder Urwälder dieser Erde. Eine tiefe Sehnsucht treibt mich danach, wieder Teil zu sein, alles aufzunehmen, die ­Suche nach Antworten des Woher und Wohin. Wie konnte das alles entstehen? Gibt es da eine lenkende Hand? Gibt es doch einen »Designer«? Es ist für den naturwissenschaftlich gebildeten Verstand unmöglich, vollständig zu ermessen, wie unendlich verästelt und rückgekoppelt die Natur, unser Lebensraum, ist. – So aufgebaut, falle ich wieder ins gewöhnliche Leben zurück, das mich weiter fordert im Wirken um das Erhalten, im Haushalten, im Werthalten.

Über uns ein Vogelruf. In einem schraubenden Ruck zuckt Michaels Kopf unwillkürlich nach oben, suchenden Blicks: »Ein Waldwasserläufer?! – die Wat­vögel aus Skandinavien ziehen hier gerade durch«, beantwortet er den Ruf. Seine Reaktion hat etwas Kreatürliches. Außerhalb der Menschenwelt gibt es nur eingebettetes Handeln, alles in der mehr-als-menschlichen Welt* reagiert aufeinander, nichts agiert als isoliertes Wesen. »In der Praxis gibt es keine Auto­nomie«, schreibt der Landwirt und Poet Wendell Berry. »In der Praxis gibt es nur die Unterscheidung zwischen verantwortungsvoller und verantwortungsloser Abhängigkeit.« In diesem Eingebettetsein ist alles für etwas anderes Nahrung. – Für wen ist der industriemoderne Mensch nährender Grund?

MS Mir geht es heute weniger um »Natur« als um die Frage: Haben Menschen, die nichts weiter tun, als von dem ihnen angestammten Land zu leben, noch einen Platz? Darum will ich nicht weiter Nationalparke schaffen, aus denen die dort heimischen Kulturen vertrieben werden, sondern traditionell lebende Ethnien vor der Ausrottung schützen. In Botswana befinden sich die San in der Endphase ihrer Liquidierung. Das bewegt mich außerordentlich. Ich war in der Kalahari-Halbwüste und musste erleben, wie sie entwurzelt* in Ghettos leben, wie ihre jahrtausendealte Kultur zusammenbricht. Da habe ich mich an die UNESCO gewandt mit dem Vorschlag, die San als Weltkulturerbe der Menschheit zu schützen. Die Antwort war: »Das geht kaum, denn sie haben ja keine kulturellen Werke hinterlassen!« Hätten sie Städte und Tempel gebaut, wären diese schützenswert, aber ihre schiere Existenz, ihre lebensfreundliche Kultur, die dem Land eben keine Steinbauten aufdrückt – die gilt nichts, ist kein Weltkulturerbe.
JH Das ist die grausige Kehrseite dessen, wovon ich spreche: Du Mensch, wenn du nichts tust, außer Mensch – eben Natur – zu sein, bist nicht schützenswert! Erst dein Kulturerzeugnis macht dich wertvoll. Deine Ruinen werden bestaunt, wenn deine Geschichte vorbei ist.
MS Wären die San Nashörner, würde wenigstens der Naturschutz greifen! Deshalb meine Suche nach anderen Ansätzen: Das UNESCO-Programm »Der Mensch und die Biosphäre« ermöglicht es, beim Schutz einer Landschaft zu beachten, wie die dort lebenden Menschen sie nutzen. Traditionelle Landnutzung, insbesondere in den trockeneren Gebieten der Erde, hat überwiegend nomadischen Charakter. Die halbnomadischen Völker brauchen Korridore, durch die sie mit ihren Herden ziehen können.

Wieder ein Vogelruf – wieder schlägt Michaels innerer Seismograph aus. Einen Augenblick instinktiver Aufmerksamkeit lang späht er nach oben, dann senkt er den Blick und hält kurz inne. Diesmal bestimmt er den Rufer nicht, bevor er weiterspricht.

MS Ein wesentlicher Teil der Menschheitswerdung war, dass der Mensch den Tieren in der Steppe hinterherzog, dann den Hund domestizierte, dann Pferd, Esel, Schaf und Rind. Diese Gesellschaften kannten keine Zäune. Die Grenzen wurden erst von den Kolonialherren willkürlich mit dem Lineal gezogen. Wir haben diese großen pastoralen Kulturen* noch längst nicht begriffen. Bei uns dreht sich alles um Eigentum und Einhegung*.
Das wurde mir erst durch Besuche bei nomadischen Kulturen in Äthiopien, im Iran, in Kirgisien oder in der Mongolei bewusst. Nur bei Erhalt ihrer ­Korridore in Form von Allmenden* können diese Kulturen fortbestehen. Jede Privatisierung von Land zerstört diese »gottgewollte« Lebensweise. Die Regierungen müssen entscheiden, ob diese Lebensform erhalten bleiben soll, denn dann müssen die jährlichen Wanderwege vor Privatisierung geschützt werden. Helikopter-Skiing im Hochgebirge wäre die schreckliche Alternative.

Halbnomadische, pastorale Kulturen sind wirkliche Pflegnutzer* ihrer Habitate. Sie sind nicht in der Lage, sich aus dem großen Ganzen, dem Oikos*, zu dem auch ihr menschliches Herdfeuer gehört, herauszunehmen oder ihr Land zu übernutzen. Sie kämen gar nicht auf die Idee, dass es ihnen gehören könnte. Ihre Haltung ließe sich als »oikologisch« beschreiben. Wie gelangen wir mit unserem industriemodernen, eurozentristisch* geprägten Mindset* wieder zu einer solchen sorgnutzenden Verbundenheit mit unserem Lebensraum?

Matthias Fersterer Michael, wie nimmst du die heutige Zeitqualität wahr?
MS Noch nie habe ich eine Zeitphase erlebt, in der so viele Menschen so viel Sorge um die Zukunft hatten! Dabei grassiert eine ungeheure Angst, dass der kleine Wohlstand der hiesigen Bevölkerung dahinfließen könnte. Der VW-Skandal, die enorme Verunsicherung bei den Bürgerinnen und Bürgern, die zu Pegida oder AfD laufen, um ihre Staatsverachtung zu zeigen – das verdeutlicht, wie schnell sich etwas verändern kann. Wir können keine Prognosen über die Zukunft abgeben. Es können sich aber auch ungeahnte Möglichkeitsfenster auftun, so wie damals in der Wendezeit die großen Biosphärenreservate in Ostdeutschland etabliert und weiter ausgebaut werden konnten – die Krise gab uns eine Chance, die sich auf Westdeutschland übertrug, wo nun ebenfalls Biosphärenreservate entstanden.
Ich kann mit meinem Öko-Garten ­weiterbestehen, habe als Bauernsohn eine Beziehung zu Boden, zu Humus, verwende Mulch – damit bin ich eine Besonderheit. Deshalb seid auch ihr Menschen der Klein Jasedower Gemeinschaft für mich so wichtig: Eine Gruppe, die am Rand der Gesellschaft – nicht nachvollziehbar für die meisten –, in der Lage ist, sich selbst zu organisieren, freundlich zueinander ist, Natur nutzt, aber nicht vernutzt – und das aus innerer Überzeugung in Gemeinschaft tut. Ich selbst habe das Glück, in meine Stiftung eingebunden zu sein. Vor allem die jungen Menschen geben mir Zuversicht und Kraft. Es ist wichtig, nicht allein zu sein in einer Welt voller Wunder.

Michael lädt uns ein, das Gespräch abends bei Rotwein fortzuführen. So wäre es richtig – wir sind hier nicht als Journalisten, sondern als befreundete Forscherinnen und Forscher, die sich Zeit schenken können. Doch scheinbar Unvermeidliches wartet auf uns – und wir folgen dem Schein. Michael eilt noch einmal in den Garten und bringt eine Papiertüte mit kleinen, rotgesprenkelten Äpfeln ans Auto: »Eine frühe Sorte. Lasst sie noch drei Tage liegen!« Als wir losfahren wollen, zieht er drei purpurrote Zwiebeln aus dem Mulchbeet und drückt sie uns wortlos in die Hand.

Als wir die zaunlose Enklave der Succows längst hinter uns gelassen haben, wird das Licht mit einem Mal fahler, Staub erhebt sich, und ein monotones Summen erfüllt die Luft. Die Umgebung verändert sich. Plötzlich scheint es, als führen wir nicht mehr über die vorpommerschen Dörfer, sondern durch Trümmerfelder aus endlosen Geröll- und Schutthalden, vorbei an Betonbrocken, umgeknickten Stahlträgern und Fassadenteilen. Wie auf einem gigantischen Elefantenfriedhof türmen sich die Überreste ehemals wuchernder Werk- und Wohnkäfige auf und scheinen in den schwefelgelben Himmel bis zur dunstverhangenen Sonne hinaufzuwachsen. Eine Handvoll orientierungslos gewordener Bestäubungsdrohnen prasselt auf unser Gefährt, prallt an der Karosserie ab und zerschellt auf dem Geröllfeld. Ein Gleißen lässt uns himmelwärts blicken. Über uns tut sich eine Lücke auf, in ockerroten Lettern steht dort zu lesen: »Geh nach Hause, wenn du kannst.« Nebenan weidet sich ein Reh an bunt ummantelten Kupferdrähten, die aus einem umgestürzten Stromkasten sprießen. Ein Zug weißgekleideter Kinder bahnt sich seinen Weg durch Armageddon. Sie kommen auf uns zu und rufen uns mit dem rhythmisch an- und abschwellenden Summen eines Bienenschwarms etwas zu – noch ein klein wenig näher, dann werden wir sie verstehen können … Stopp! Eine beherzte Bremsung, gefolgt vom Ausscheren aufs Bankett, bereitet dem Tagtraum ein Ende: Ein Erntefahrzeug von der Größe eines Mammuts mit mannshohen Reifen versperrt uns den Weg auf der einspurigen Allee. Die Rapsfelder, vor kurzem noch bis zum Horizont signalgelb leuchtend, sind abgemäht. Bodenerschütternd und mit heulendem Motor passiert uns das Ungefährt. Unser Blick trifft sich nicht mit dem des Landmaschinenfahrers.
Die Moderne ist noch nicht ­vorbei. •••

 

Michael Succow (75) war Professor für Geobotanik und Landschaftsökologie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald und engagiert sich mit seiner Stiftung weltweit für Natur und Mensch. Für die Einrichtung zahlreicher Naturschutzgebiete wurde er 1997 mit dem Alternativen Nobelpreis ausgezeichnet. www.succow-stiftung.de

 

 

Nomadische Alternative?
Die meisten traditionellen Gesellschaften haben nomadische Züge. Unsere Vorfahren wanderten pflückend, jagend und hütend ihren Nahrungsquellen hinterher. Wie Bruce Chatwin herausgearbeitet hat, ist die halbnomadische pastorale* Lebensweise jedoch keine Vorstufe zur Sesshaftigkeit, sondern eine ebenbürtige Alternative. Doch ist die Koexistenz sesshafter und nomadischer Kulturen kaum möglich: Nomaden ignorieren nationale Grenzen und gehen bei Zwangsansiedlung zugrunde. Die von Gilles ­Deleuze entwickelte Philosophie der »Nomadologie«, die boomende Tourismus­branche und die traditionelle Walz zeugen allerdings davon, dass die Wanderlust auch uns Sesshaft­gewordenen in den Knochen steckt. Wie gehen wir mit unserem nomadischen Erbe um?

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