Titelthema

Oh wie süß!

Eine kurze Geschichte des Zuckers.
von Elena Ball, erschienen in Ausgabe #39/2016
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© pixabay

Seit vielen Jahrtausenden genießt die Menschheit süße Nahrungsmittel. In Melanesien wurde schon vor 15 000 Jahren neben dem Honig der Bienen Zuckerrohr als Pro­viant auf Bootsfahrten mitgenommen. Im 10. Jahrhundert brachten die Araber die Zucker­rohrpflanze nach Spanien und Italien, und die aus dem Heiligen Land heimkehrenden Kreuzritter machten das Süßungsmittel in ganz Europa bekannt. Bereits um 600 vor unserer Zeitrechnung sollen die Perser entdeckt haben, wie sich dickflüssig eingekochter Zuckerrohrsaft kristallisieren lässt: Er wurde in einen langen, schmalen Tontrichter gegossen, in dessen spitzem Ende ein kleines Loch dafür sorgte, dass die Melasse – der braune Sirup – abtropfen konnte. Die Saccharose-Kristalle blieben im Trichter zurück und konnten nach einiger Zeit, zu einem festen Kegel verklebt, entnommen werden – der Zuckerhut war geboren. Später wurde die Methode verfeinert, indem der Sirup vorher – zum Beispiel durch die Zugabe von Kalk – geklärt wurde. Im Mittelalter war Zucker ein ähnlich kostbares Luxusprodukt wie Salz: Ein Kilogramm Zucker hatte im Tauschhandel den Wert von zwei Ochsen.
Zunächst wurde Zucker in der Medizin und als Gewürz genutzt; seine Anwendung war so sparsam und exquisit wie die von Pfeffer, Muskat, Safran oder Ingwer. Seine Verwendung als Süßungsmittel, Dekoration und Konservierungsstoff boomte erst später, doch dass Zucker ein Milieu schafft, das den Fäulnisprozess verzögert, war schon im Mittelalter bekannt: Er wurde zur Haltbarmachung von Arzneimitteln verwendet. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich von Zucker als von einem Nahrungsmittel sprechen. Parallel zur entstehenden kapitalistischen Weltwirtschaft sanken die Zuckerpreise, und sein Konsum stieg stetig an: Marmelade auf dem täglichen Brot, mit Zucker gesüßter Tee oder Kaffee, aber auch Puddingvariationen als beliebte Desserts veränderten die Ernährungsgewohnheiten der Menschen in ­Europa und Nordamerika grundlegend.

Vom Rohr zur Rübe
Die Bezeichnung »Zucker« ist in der Chemie ein Sammelbegriff für verschiedene Kohlehydratformen. Die im Zuckerrohr enthaltene Saccharose ist auch in anderen Pflanzen zu finden, zum Beispiel in beachtlicher Konzentration in der Runkelrübe. Das entdeckte der deutsche Chemiker Andreas ­Sigismund Marggraf, der am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert an der Preußischen Akademie der Wissenschaften forschte und lehrte. Einer seiner Schüler, Franz Carl Achard, züchtete die Runkelrübe zur Zucker­rübe mit einem höheren Saccharose­gehalt heran. Nach zahlreichen Experimenten gelang es ihm im Jahr 1802, den ersten Rübenzucker herzustellen: eine Raffinade aus weitgehend reiner Saccharose, die durch Verdampfen und ­Auskristallisieren des Rübensirups entstand. Anschließend wurden die Kristalle zentrifugiert und getrocknet. Neben der forschenden Neugier trieb ihn auch ein politisches Motiv an: Er war ein Gegner der Sklaverei, und der trans­atlantische Sklavenhandel wurde durch den Zucker­rohranbau wesentlich angetrieben. Seit Kolumbus die Zuckerrohrpflanze nach Südamerika und in die Karibik eingeführt hatte, befand sich dort das Hauptanbau­gebiet. Aus diesen Kolonien wurde der Zucker per Schiff in die europäischen Länder importiert. Ein Handelsverbot, das Napoleon über die von ihm eroberten Bereiche Kontinentaleuropas verhängt hatte, half der preußischen Rübenzuckerproduktion auf die Sprünge, denn es durfte kein Zucker aus England mehr eingeführt werden. Nach Achards Vorbild entstanden Zuckerfabriken. Der Rübenzucker ist also ein Kind des beginnenden Maschinenzeitalters.
Wie entsteht der heutige ­Rübenzucker, der in den Bioläden steht? Von einem Natur­kosthersteller erfahre ich, dass der arbeits­intensive Zuckerrübenanbau, bei dem zum Teil von Hand zwischen den Pflanzen gehackt wird, vor allem in Süddeutschland stattfindet. Auf meine Frage, wo der Zucker schließlich hergestellt werde, erhalte ich keine Antwort: Betriebsgeheimnis! Zum Glück vermitteln mir Kenner der Branche den Kontakt zu Imker Ansgar Westerhoff aus dem brandenburgischen Worin, der auch mit Rüben­zucker handelt und ihn zur Winterfütterung seiner Bienen verwendet. Es gebe in Deutschland nur drei Hersteller von Zucker. Nur einer von ihnen, Südzucker, verarbeite in einem kleinen, älteren Werk in Warburg Biozucker. Bevor dort nach der Ernte im Herbst die Raffination des konventionellen Zuckers beginnt, saust an wenigen Tagen die gesamte deutsche Biozucker-Produktion durch die Maschinen. Die dafür nötige Technik ist aufwendig: Die Rüben werden gehäckselt, eingekocht und bei Unterdruck eingedampft. Dabei entsteht die dickflüssige Melasse, aus der sich durch Zentrifugieren und wiederholtes Abdampfen die reinen Saccharosekristalle gewinnen lassen. Biozucker wird weniger intensiv raffiniert, deshalb ist er etwas grobkörniger.
Ansgar Westerhoff erzählt, dass eine süddeutsche Erzeugergenossenschaft versucht, der Monopolstellung der drei deutschen Zuckerhersteller entgegenzuwirken: Sie lässt ihre Rüben in einem kleineren Werk in der Schweiz verarbeiten. Er bedauert, dass Biorübenzucker nicht stark nachgefragt wird: »Vollrohrzucker hört sich einfach gesünder an als Rübenzucker. Deshalb kaufen die Biokunden lieber das Produkt aus Übersee.« Dabei unterscheiden sich die Kristalle aus der Zuckerrohr- und der Rübenmelasse gar nicht.

Anders denken, anders Marmelade kochen
Gehören Zuckerfabriken in eine enkeltaugliche Zukunft? Ließen sie sich ohne fossile Rohstoffe betreiben? Ökologischer und gesünder wäre es sicherlich, auf die Verwendung von Zucker ganz zu verzichten. Doch es ist nicht zu bestreiten, dass er besser als andere Süßstoffe zur Marmeladenherstellung geeignet ist. Da Zucker Feuchtigkeit aufnimmt, trocknet er Mikroorganismen gewissermaßen aus. So beginnen die Lebensmittel nicht – oder erst nach langer Zeit – zu gären oder zu faulen. Ursula Eichendorff, die sich in der »Spinnerei vom nachhaltigen Leben« in der Lausitz (siehe Oya Ausgabe 33) vor allem mit Kochen und Vorratshaltung beschäftigt, hat sich rund um dieses Thema schon viele Gedanken gemacht. Apfelmus, Pflaumenmus und verschiedene Kompott­sorten, die sie vergangenes Jahr ganz ohne Zucker eingekocht hat, zeigen bis heute keinen Schimmel. Ihrer Erfahrung nach gelingt das zuckerfreie Einkochen umso leichter, je sauberer die Küche und je trockener der Lagerort ist.
Ebenso wichtig, wie Gedanken über den Industriezucker, ist beim Marmeladekochen die Frage nach den Verdickungsmitteln. Bleiben angehende Selbstversorger hier abhängig von Produkten, über deren Herstellung sie wenig wissen, wie Gelierzucker aus dem Supermarkt oder Konfigel aus dem Bioladen? Ursula hat bereits versucht, Pektin – ein in diversen Früchten enthaltenes Geliermittel – manuell aus sauren Äpfeln herzustellen. Es ist ein recht zeitaufwendiger ­Prozess, bei dem die mit der Schale zerdrückten Äpfel mit Wasser aufgesetzt werden und für einige Stunden vor sich hin köcheln. Über Nacht kann man die Masse durch ein Handtuch abtropfen lassen. Am Morgen findet man eine stark pektinhaltige Masse vor. Die Herausforderung dabei sei laut Ursula, abzuschätzen, welche Konzentration erreicht wurde und welche Menge für das Einkochen nötig ist. Um auch zur Himbeerzeit Pektin zur Verfügung zu haben, müsste man aus dem Mus ein trockenes Pulver herstellen – lohnt sich dieser Aufwand? Vielleicht, meint Ursula, müssten wir wieder lernen, die Früchte dann zu genießen, wenn sie reif sind. •

Elena Ball (25) studiert Psychologie und Psychotherapie sowie Philosophie, Politik und Ökonomik in ­Witten/Herdecke.

Die ganze zuckrige Geschichte
Sidney W. Mintz: Die süße Macht. Kulturgeschichte des ­Zuckers. Campus, 2007

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