Gesundheit

Wer lebt, wird älter

Gedanken zu einer unausweichlichen Aufgabe, die mit der Geburt beginnt.
von Annelie Keil, erschienen in Ausgabe #38/2016
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Älterwerden heißt neu werden – in jeder Lebensphase! Je älter der Mensch wird, desto schwieriger ist diese Herausforderung, denn Leben macht nicht nur Freude, sondern vor allem Arbeit. Es enttäuscht manchmal, macht müde, und nicht immer springt der Sinn ins Auge, warum es weitergehen soll – auch wenn man nicht gleich sterben will. Lohnt sich Älterwerden überhaupt? Ob wir wollen oder nicht – die demografische Welle ist ins Rollen gekommen, und jede und jeder Älterwerdende gibt ihr ein biografisches Gesicht.

Altern ist vom ersten bis zum letzten Atemzug ein Prozess. Manche Menschen beklagen sich darüber, dass sie schon wieder älter geworden sind, wenn man sie trifft. Was daran ist verwunderlich? Älterwerden ist die tägliche Arbeit des Lebens! Selbstverständlich ist nicht absehbar, wie dieser Prozess verlaufen wird, aber jeder Geburtstag, jede Eheschließung oder Scheidung, Kinder und Enkelkinder, jede Reise, jeder Arztbesuch, jeder Arbeitstag, jede Liebe und jeder Hass geben darüber Auskunft, wie das Leben läuft oder gelaufen ist. Das Abenteuer endet nie, es beginnt jeden Morgen neu. Die Horizonte sind unbekannt und verschieben sich im Älterwerden, die Bilanzen stehen in den Sternen.

Alter macht Menschen nicht ähnlicher
»Neu werden« bedeutet, dass Vergangenes durch Gegenwärtiges auf Zukünftiges ausgerichtet wird – und das bleibt auch so, wenn die Zukunft zum Lebensende hin nicht mehr so groß sein mag. Aber wie wird die vor den älteren Menschen liegende Zeit heute gesehen? Oft lautet die Antwort etwa so: Zeit und Raum für das persönliche und das gemeinsame Altern müssen gefunden und gestaltet werden, lebens- und liebenswerte Familien, Alten- und Wohngemeinschaften ebenso wie Kommunen. Familien-, ­kinder-, alters- und demenzfreundlich soll das private und öffentliche Zusammenleben sein oder werden; barrierefrei, fußgänger- und fahrradfreundlich allemal, am besten Kinderwagen, Rollstuhl und Rollator gleichberechtigt nebeneinander. Der Enkel fährt seine Oma auf einer innovativen Fahrradkonstruktion durch die Landschaft! Manchmal bricht Betreuungs- und Gleichberechtigungswahn aus. Gesund und fit bis hundert, mit Rolle vorwärts in den Sarg, auch das steht manchmal auf dem Programm! Ganz Europa ein Altenheim – Methusalem als Komplott. Da kommt ein Aufmarsch der Alten, gebrechlich und mit Rollator, mit neuen Hüften, Kniegelenken, Hörgeräten, Betablockern und Antidepressiva im Gepäck! Alles erscheint möglich! Wer fürchtet sich vor dem alten Mann, der alten Frau, ob schwarz oder weiß – auf jeden Fall nicht bunt? Bilder vom Alter fliegen wie Speerspitzen durch die Luft, und selten fragen wir uns, woher sie kommen und was sie in den Menschen bewirken.
Zu welcher Generation gehöre ich mit Jahrgang 1939? Auf jeden Fall zu den Jahrgängen der Kriegskinder und Nachkriegskinder, der skeptischen Generation, der 68er-Rebellen, der Karrierefrauen, der Erbengeneration unter den Alten, die noch nicht von Alters­armut überfallen wurden. Blickwinkel über Blickwinkel – aber bringen sie mich meiner Wirklichkeit näher?
Kein Mensch gleicht dem anderen, und nur durch das Alter werden sich die Menschen nicht ähnlicher. Die einen kaufen bei H&M die Klamotten für die Enkelkinder und probieren das eine oder andere selbst an. Die anderen tragen ihre Kleider wie im Krieg und verkaufen die Reste auf dem Flohmarkt, wo andere alte Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, diese kaufen. Die einen sind stimmungsmäßig »pflegeleicht« und sagen auch mal »Danke«, die anderen üben sich als Meckerziege, beschweren sich über ausländische Pflege­kräfte und pochen auf bezahlte Dienstleistung. Viele alte Menschen geraten in Depressionen, fühlen sich und sind vereinsamt, leben am Existenzminimum; einige nehmen sich das Leben, andere werden wohnungslos und suchen bei den jüngeren Obdachlosen einen sicheren Schlafplatz.
Wie erleben wir selbst unser Älterwerden und die Alten in unseren Familienclans und Nachbarschaften? Die Eltern, Groß­eltern, Tanten und Onkel, wie den mürrischen alten Nachbarn oder die liebevolle Schlüsselverwalterin, die uns das Verreisen möglich macht, weil sie gut auf unser Haus und die Katze aufpasst? Wie erfahren wir den Ausstieg aus der Erwerbsarbeit, die eigenen, sich verändernden Kräfte, die nicht mehr zum erhofften Lebensstil passen? Was wollen wir auf jeden Fall vermeiden? Haben wir ein Präventionskonzept für uns selbst im Kopf – oder warten wir auf Hilfe von Staat, Kirche, Gemeinde oder der nächsten Bildungseinrichtung? Die Schließung des letzten Tante-Emma-Ladens ist nicht nur ein Problem in ländlichen Regionen. Wann haben Sie das letzte oder das erste Mal einen alten Menschen zu einem Ausflug mitgenommen, ihn zu einer Geburtstagsfeier gebracht oder den alten Nachbarn gefragt, ob der nächste Arztbesuch schon organisiert ist?

Statistiken sagen nichts über Biografien
»Gesund altern in Deutschland« – so titeln wissenschaftliche Berichte. Die biografischen Gesichter hinter den ausgewerteten Statistiken bleiben weitgehend verborgen, und damit nicht nur das individuelle, sondern auch das, was wir das sozialbiografische Gesicht einer Generation nennen können. In Tabellen werden die Alten gut erfasst, auch wenn es den »Durchschnittsalten« gar nicht gibt. Nach Krankheiten, Risikoverhalten und sozialökonomischer Statuslage wird hier gefragt  – nach Wohlbefinden, Lebensbedürfnissen, Lebensqualität und subjektiven Ausdrucksformen hingegen weniger.
Schritt für Schritt wird inzwischen erforscht, in welche Kategorien sich die ­Alten einsortieren lassen, ob jemand zu den Schweigern, den Unverbesserlichen, den Opfern und Traumatisierten des letzten Kriegs oder zu den glücklichen Witwen und Witwern gehört – und welche Folgen das gegen Ende für ihr Wohnen haben könnte. Sollen sich Ärzte, Pflegende, Angehörige, Mitarbeiter in Verwaltungen oder des öffentlichen Nahverkehrs etwa mit Hilfe solcher Dokumentationen professio­nell auf die Lebenswirklichkeit alter und hochbetagter Menschen und das Zusammenleben mit ihnen vorbereiten? Modelle für Sturzprophylaxe haben Hochkonjunktur, aber wie sieht es mit den Abstürzen der Seele aus? Wie mit dem Verlust von sozialen Kompetenzen und solchen, die gar nicht vorhanden waren? Für den kleinfamilienorientierten alten Menschen ist es unter Umständen nicht einfach, das Gemeinschaftsleben in einem Heim oder in einer Wohngemeinschaft zu erlernen.

Hauptsache lebendig
Wer sich fragt, was Gesundheit, Lebensqualität und Wohlbefinden im Alter sein mögen und sein könnten, findet Antworten, wenn er den bisher aufgeworfenen Fragen und Beispielen mit offenem Sinn und lebensnaher Neugier selbst nachgeht, sich die Faktenlage der zahlreichen Expertisen anschaut, vom Sofa aufsteht, um selbst die Orte aufzusuchen, wo alte Menschen zu finden sind, und dort einfach mal fragt: Wie geht es Ihnen? Wo wohnen Sie? Über was freuen Sie sich? Was fällt Ihnen schwer?
Vielleicht lohnt es sich auch, ein Gespräch mit den eigenen Eltern über sie und ihr Leben zu führen oder eine kleine Visionssuche mit Kindern zu der Frage zu unternehmen: Wie alt möchte ich werden – und warum?
Wir selbst müssen Expertinnen und Experten des eigenen Lebens werden, um herauszufinden, welche anderen kundigen Menschen wir aufsuchen müssen, um die individuelle und gemeinsame Zukunft des Alters zu gestalten, ohne uns ständig entmündigen oder enteignen zu lassen. Leben fordert, drängelt, unterbricht, schiebt und schuftet, bahnt Wege, stellt sich in den Weg, bricht auf, ab und immer wieder ein. Es verlangt das Notwendige, wie Atmen, Essen und Trinken, es genießt und entspannt sich, um im nächsten Augenblick alles auf den Kopf zu stellen, ohne dass es sich dabei um eine Yoga-Übung handelte! Unterwegs zu sein ist die zentrale Handlungsperspektive und gleichzeitig jene vielfältige, ambivalente biografische Herausforderung, um deren Bewältigung es hier und heute geht.
Niemand wird ohne irgendeine Aktivität und irgendeine Art von Gesundheit älter, auch wenn wir viel »Passivität«, »Resignation«, »Vereinsamung«, »Handlungsarmut«, »Risikoverhalten« oder manchmal nur noch eine Art »Restgesundheit« sehen, die aber zum Entsetzen vieler Gesundheitsstrategen letztlich zum »Überleben« reicht. »Hauptsache gesund« heißt der allgemeine Schlachtruf, der meiner Meinung nach den Blickwinkel verengt. Die Hauptsache ist das Leben – und das gilt es zu leben, in Gesundheit und Krankheit, in Freud und Leid, als Kind und als Greis! Die Jagd nach Gesundheit im engeren medizinischen Sinn, also ohne Befund zu sein, hält manche Menschen vom Leben ab und taucht sie in Dauersorge um ihren Körper, während ihre Seele und ihre sozialen Beziehungen verkümmern.

Der rote Faden
Mitten durch gelebtes, ungelebtes und erhofftes Leben hindurch entsteht durch Gestaltung, Erfindungsreichtum, Erfahrungen und Selbstverantwortung, aber auch durch Täler von Verzweiflung, Rückzug und Resignation eine einzigartige wie sehr spezifische Biografie. Leben ist eine tägliche Uraufführung. Wir werden als menschliche Originale geboren und sind nicht nur genetisch urheberrechtlich geschützt, sondern auch oft voller Zweifel, angstverloren und unsicher ob unserer Möglichkeiten. Wie sicher und festgelegt sich unsere Lebenspläne auch darstellen mögen – in der Kreuzungslinie zwischen Vergangenheit und Zukunft hat die Gegenwart des Lebens nur Augenblickscharakter. Aber gleichzeitig entsteht inmitten dieser ständigen Bewegung das, was wir den roten Faden eines Lebens, den Leitfaden der Biografie nennen können. Wie im großen Mythos vom Labyrinth ist dieser rote Faden ein Instrument für die Suchbewegungen des Lebens – keine Sicherungsleine für die Bewältigung des Alltags. Dennoch ist er so etwas wie eine charakteristische Struktur, mit der der biografische Auftrag in die Erfüllung hineinwächst.
Es sind die Erfahrungen, die Lebensumbrüche und Einbrüche, die Arbeitsverhältnisse, die Krankheiten, die Abschiede, die Verluste von Kräften zu allen Lebenszeiten und ihre jeweilige biografische und gesellschaftliche Bedeutung, die das Älterwerden als biografischen und gesellschaftlichen Auftrag sichtbarer machen als der berühmte Blick in den Spiegel.Unser Alter steht zwar in enger Verbindung zu den biologischen Vorgängen, ist aber als biografischer Prozess nicht nur ein körperlicher, sondern auch geistiger, seelischer, sozialer und spiritueller Gesamtzustand – eine Art Integrationsleistung, bei der es durch die Lebensphasen hindurch um unterschiedliche Gewichtungen, Gestaltungsprinzipien und Verschiebungen geht:
Jeder Mensch ist darauf angewiesen, dass man sich ihm sorgend zuwendet, dass die eigene Würde unantastbar bleibt, was immer auch geschieht. Vom Durchschneiden der Nabelschnur bis zum Tod lebt der Mensch von der Hoffnung, dass er als Bürger und Bürgerin dieser Erde gebraucht werde und dass keine Macht der Welt ihn willkürlich vom Koexistenzminimum abschneide, das er nötig hat, um ein Mensch im aufrechten Gang zu werden. Lebenskämpfe sind deshalb immer Machtkämpfe um Liebe und materielle Ressourcen, um Anerkennung und Bedeutung, gegen Bevormundung und Unterdrückung. Das menschliche Verhältnis zur Macht strukturiert sich in einem kontinuierlichen Prozess von Bindung und Entbindung und nimmt die ewige Spannungsbeziehung zwischen Geburt und Tod in sich auf.
Leben lebt vom Teilen, auch von der Teilung der Macht zwischen den Geschlechtern, den Generationen, den sozialen Schichten, den Völkern. Nur in einer Gesellschaft, in Familien und Lebensgemeinschaften, in denen man in Würde heranwachsen kann, kann man auch in Würde älter werden und sterben – denn das verbindet alle: Was wir für andere Menschen tun, tun wir immer auch für uns! Was wir als Liebe und Solidarität verschenken, kommt zurück und trägt zu unserem eigenen Wohlbefinden bei, jener umfassenden Gesundheit, von der hier die Rede war. Das ist der Lohn, der die Gestaltung eines dem Alter gerechten und vor allem dem Menschen gerechten Lebens begleitet. •


Annelie Keil (76) war Professorin für Sozialarbeitswissenschaft, Gesundheitswissenschaften und Krankenforschung in Bremen. Seit 2004 ist sie im arbeitsamen Ruhestand mit umfangreicher Medien- und Vortragstätigkeit.

Mehr zum Thema lesen
Annelie Keil: Auf brüchigem Boden Land gewinnen:­ Biografische Antworten auf Krankheit und Krisen. Kösel 2011

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