Titelthema

Saat, die irgendwann aufgeht

Wie sich das Miteinander in der Kölner Siedlung »Stellwerk 60« gestaltet.
von Christina Stange, erschienen in Ausgabe #38/2016
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© www.nachbarn60.de

Eine typische Wohnanlage: dreistöckige Blockbauten und Einfami­lien­­reihenhäuser, Sandkästen im Vorgarten, graue Straßen und Sackgassen – die Köln-Nippeser Siedlung »Stellwerk 60« wirkt auf den ersten Blick wie ein gewöhnliches, beschauliches Neubaugebiet. Ein paar Kleinkinder rennen auf die Straße, kreischend, lachend, als plötzlich ein E-Bike um die Ecke saust, um erst schwungvoll auszuweichen und dann abrupt zu stoppen. Sofort stehen drei Erwachsene um den erschrockenen Radfahrer herum. Ein älterer Herr beugt sich freundlich-kümmernd zu den Kindern hinunter, eine junge Frau hat den Kopf tadelnd zur Seite gelegt, und eine weitere Dame spricht höflich, aber bestimmt, mit dem betretenen Radler, bevor dieser, nun viel langsamer, wieder in die Pedale tritt. Seine Entschuldigung geht im Lärm der Kinder unter, die längst wieder auf der Straße Fangen spielen.
Stellwerk 60, gebaut zwischen 2006 und 2013, ist ein Pilotprojekt der Stadt Köln auf dem Gelände einer ehemaligen Eisenbahnwerkstatt. »Die autofreie Siedlung« wird es oft genannt. Dass die breiten Straßen Fußgängerzone sind, bemerkt man erst auf den zweiten Blick, obwohl überall Schilder dies ausweisen. Martin Esch, junggebliebener Rentner, der bereits in den 1990er Jahren als Sprecher der Bürgerinitiative für eine autofreie Siedlung maßgeblich dazu beigetragen hat, dass sie in Köln politisch durchgesetzt wurde, lebt nun seit drei Jahren hier. Er beobachtet intensiv, wie die Menschen in so einer vom motorisierten Verkehr geschützten Zone miteinander umgehen. Manchmal spricht er von »Löweneltern und Löwennachbarn«, die den Raum verteidigen, der Kindern und anderen Bewohnern »zusteht«, wenn sie sich für diesen Wohnort mitten in Köln – nur zweieinhalb Kilometer Luft­linie vom Dom entfernt – entschieden ­haben.
Das Bedürfnis, diese Oase zu schützen, war vor allem in der Anfangszeit sehr groß. Da wurden die Pizzaboten auf ihrem Mofa von den Bewohnern »fast gelyncht«, wenn sie, statt ihr Fahrzeug vor dem Gelände abzustellen, verbotenerweise vors Haus fuhren. Daran kann sich auch Natascha Fröhlich, Mutter von drei Kindern, die seit acht Jahren hier lebt, gut erinnern. Ausein­andersetzungen zwischen Eltern, die sich um die Sicher­heit ihrer Kinder sorgten, und denen, die Mitleid mit den doch ohnehin unterbezahlten und unter Zeitdruck stehenden, armen Pizzajungs hatten, waren nicht ungewöhnlich. Inzwischen hat die Stadtverwaltung eindeutige Regelungen für Kraftfahrzeuge mit nur wenigen Ausnahmen geschaffen. Wer beispielsweise zum Ein- oder Auszug mit dem Auto vorfahren möchte, kann für ein paar Stunden gegen eine Gebühr einen Parkplatz vor der Haustür beantragen. Aber ein gedeihliches Miteinander braucht mehr als nur klare Regeln; es bedarf auch einer Kultur der Kommunikation. Wie wächst sie an einem solchen von vielfältigsten Interessen geprägten Ort?

Ein Vereinsraum schafft Verbindungen
Die autofreie Siedlung war nicht als Gemeinschaftsprojekt gedacht. Unter den etwa 440 Haushalten finden sich zwar auch homogene Interessengruppen – meist sind es die Bildungsbürger, die sich mit dem gemeinsamen Wert »autofrei« identifizieren können. Gleichwohl ist Autobesitz bei einem Fünftel der Haushalte sogar erlaubt, wenn auch nur in Kombination mit einem der 80 verfügbaren Parkhausstellplätze vor dem Gelände. Familien mit Kindern, Paare, ältere Menschen oder auch Wohngemeinschaften haben in der Siedlung ihr Zuhause gefunden. Jede und jeder hat eigene Gründe, hier zu leben.
Hans-Georg wird inoffiziell gern als »Bürgermeister« der Siedlung gehandelt. Er gehört zu den Gründungsmitgliedern des Vereins »Nachbarn 60«, der inzwischen zu einem wichtigen Verbindungsglied und der zentralen Begegnungsstätte für die Siedlung geworden ist.
Der Verein konnte 2012 mit Hilfe von Mitgliederdarlehen eine Erdgeschoßwohnung auf dem Gelände erwerben. Diese steht nun für Planungstreffen, Versammlungen und Gesellschaftsspiele sowie als Ausleihstation für Kaffeekannen und Biertische ebenso wie als »Mobilitätsstation« für Fahrradanhänger, Kinderfahrzeuge etc. zur Verfügung. Die rund 170 Mitglieder – etwa 40 Prozent der Haushalte sind im Verein vertreten – haben je einen Schlüssel, und auf Vertrauensbasis tragen alle ein, was sie ausleihen. »Verein und Siedlung sollen kein Ghetto sein«, betont Hans-Georg, und so gibt es auch Mitgliedschaften aus der angrenzenden Wohngegend, weil es höchst praktisch ist, sich Kinderspielgeräte und ähnliches ausleihen zu können.
Auch Natascha engagiert sich im Verein. Sie sieht sich als Brückenbauerin zwischen verschiedenen Welten. Bei ihrem Einzug vor acht Jahren war es für sie noch unvorstellbar gewesen, auf das Auto zu verzichten. Nach einer Übergangsphase, in der sich ihre fünfköpfige Familie mit Nachbarn einen VW‑Bus teilte, lösten sie und ihr Mann sich ganz vom Glauben, ein Auto besitzen zu müssen. Jetzt nutzen sie die Carsharing-Stationen, Bus, Bahn und das Fahrrad, das manchmal vom Verein ausgeliehene Transportanhänger zieht.
Nicht bei allen entwickelt sich das so organisch – die eine arrangiert sich nur mit Widerwillen, ein anderer mutiert zum »Ökofundamentalisten«. »Kein anderes Produkt ist in Deutschland dermaßen emotional besetzt wie das Auto«, meint Hans-Georg. Es sei manchmal nicht einfach, ­Besuchern »von draußen« zu vermitteln, dass sie nicht einmal zum Gepäckabladen kurz in die Siedlung fahren dürfen.

Kinder gehen alle an
Doch selbstverständlich dreht sich nicht alles nur um alternative Mobilität. Die Vereinsangebote, wie das Stadtgartenprojekt, das Flüchtlingscafé oder die Doppelkopfgruppe, schaffen viele Möglichkeiten, sich zu vernetzen und ein vorsichtiges Gefühl für die Bedeutung von Gemeinschaft und Zusammenhalt zu entwickeln. Für Hans-Georg sind die Arbeitsgruppen und Projekte »langsam und mühsam wachsende kleine Pflänzchen«, die noch viel Wasser und Pflege benötigen.
Dennoch entwickelt sich bereits vieles an diesem Platz, dessen Bewohnerinnen und Bewohner an ihren früheren Wohnorten eher städtische Anonymität gewohnt waren, in Richtung eines Dorfcharakters. »Ich habe mich früher oft allein gefühlt«, sagt Natascha. »Die Nachbarn hatten kein Interesse aneinander«. Hier aber wachse nun etwas, das verbindlicher und in angenehmem Sinn enger sei. Da wird die Tür des Nachbarn auch bei innerfamiliären Streitigkeiten nicht verschämt geschlossen. Sich einzubringen, gilt hier nicht als befremdlich. Als eine unbeteiligte Nachbarin einen Konflikt zwischen einer »Kinderbande« aus dem angrenzenden Stadtviertel und Kindern aus der Siedlung mitbekam, schlug sie vor, dieses Thema offiziell auf die Tagesordnung der Mitgliederversammlung zu setzen – schließlich gingen die Kinder doch alle etwas an, meinte sie.
Hinschauen allein verändert eine Situa­tion: Auf der Vereinsversammlung wurde spürbar, dass sich nicht allein die Eltern für die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Kinder verantwortlich fühlten, sondern auch das »Einmischen« anderer Bewohner als hilfreich empfanden. Gestärkt durch diesen Rückenwind, wagte es eine Mutter im Anschluss, mit einigen der »Bandenkinder« auf dem Spielplatz ein Gespräch zu beginnen – und in der Folge löste sich das Problem auf. Natascha findet ohnehin, die Erziehung eines Kindes sei nicht nur Privatsache, sondern sei – wie das afrikanische Sprichwort es sagt – Angelegenheit eines ganzen Dorfs. Dabei ergäben sich zwar durchaus Meinungsverschiedenheiten. Aber »wenn man sie annimmt und nach Lösungen sucht, ergeben sich ganz neue Beziehungen«, erklärt ­Natascha.
Einer ihrer Söhne gehört zum Beispiel zu einer Gruppe von Jugendlichen, die abends noch gerne Zeit auf den Straßen der Siedlung verbringen. Es kam zu Reibereien mit Nachbarn, deren kleine Kinder wegen pubertärem Lärm nicht einschlafen konnten. »Die Jugendlichen störten in der typischen Mischung von ›Ich will was erleben‹ und ›Ich will hier nur her­umhängen‹«, erzählt Natascha. Gelöst wurde auch dieses Problem mit Hilfe des Nachbarschaftsvereins. Die Jugendlichen wünschten sich einen eigenen Raum, und so setzte sich der Verein in monatelangen Verhandlungen mit dem Parkhauseigentümer und dem Bauträger dafür ein, dass sie nun ein Freigelände neben dem Parkhaus für sich nutzen können. Die Eltern kauften gemeinsam einen Wohnwagen, der seit letztem Dezember als Jugend­treff fungiert.
So ein unbeobachteter Ort kann freilich zu neuen Problemen führen, wenn er zum Beispiel für alkoholisierte Partys genutzt wird. Auch wenn das eigene Kind nicht mitmacht, ist so etwas vielen nicht egal. Die Eltern der Jugendgruppe sind inzwischen in einer WhatsApp-Gruppe vernetzt und tauschen sich auch auf der Straße aus. Zudem ist es hilfreich, wenn es jemanden wie Martin gibt, der sich als neutraler und wohlwollender Ansprechpartner sowohl für die Eltern als auch für die Jugendlichen anbietet. Martin sieht sich als eine Art »Springer«, seitdem er vor zwei Jahren in Rente gegangen ist und nun Zeit und Herz ins Engagement für die Siedlung stecken kann. Er geht dorthin, wo es nötig ist. Die Jugendlichen wissen ihn zu schätzen und wollen ihn nicht verärgern: Er ist zu einer »großväterlichen« Bezugsperson geworden, aber eben kein Verwandter. Gleichzeitig ist er auf Ebene des Vereins offizieller Ansprechpartner für die Kids und hat sich sehr für das Wohnwagenprojekt eingesetzt. Der Verein ist auch ­Eigentümer des Jugendtreffpunkts. So hebt Martin schon mal selbst den Müll vom Boden auf, wird aber auch ernstgenommen, wenn er solche Dinge anspricht. Die Jugendlichen wissen, dass er bei Verstößen gegen Absprachen Konsequenzen im Sinn des Vereins folgen lassen kann und muss. Dass sich hier die persönliche und die offizielle Ebene überschneiden, war nicht geplant, ist aber bei der Konfliktlösung hilfreich.

Wohlwollen ist der Schlüssel
Ab und zu gibt es auch Streitigkeiten, die mit dem Auszug einer Partei enden oder gar vor Gericht landen. Martin geht Konflikten nicht aus dem Weg, sondern betrachtet sie als Lernchancen, an denen alle Beteiligten wachsen können. »Wir machen oft viel zu schnell resigniert einen Haken an scheinbar Unlösbares«, meint er und schmunzelt: »Ich bin ja so naiv – ich denke, das Paradies ist machbar.« Er setzt auf langsame Entwicklung und Geduld; weiß er doch, dass die Saat irgendwann zu keimen beginnt. So wohnt zum Beispiel in der Siedlung eine ältere Dame, deren eigene Hausgemeinschaft von bisher nicht gelösten Spannungen geprägt ist. Sie sieht sich jedoch nicht nur als Teil ihrer unmittelbaren Hausnachbarschaft, sondern als eingebettet und gestützt von der größeren Gemeinschaft der Siedlung – diese empfindet sie als ihre Heimat. Sie trifft sich zu Doppelkopfrunden, besucht das Seniorencafé des Nachbarschaftsvereins und kann so mit den Differenzen in ihrem nahen Umfeld umgehen, ohne sich allein zu fühlen.
Eine neu entstandene Arbeitsgruppe möchte sich speziell mit Lösungsstrategien für Probleme befassen. Im März traf sich dazu ein Dutzend Menschen zu einer Infoveranstaltung über die Methode der »Restorative Circles«, die Mitte der 1990er Jahre in Rio de Janeiro entwickelt wurde, um die Menschen eines Stadtviertels bei Konflikten in einen lösungsorientierten Dialog zu bringen. Auch hier wurde wieder ein Keim für das Wachsen einer Haltung von Wohlwollen und Achtsamkeit gelegt, der bereits die Zuversicht erzeugt, dass seine Blüten irgendwann aufgehen und von allen in voller Pracht genossen werden können. •


Christina Stange (43) ist unter anderem Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation, Heilpraktikerin und Mutter. Sie leitet Gesprächs- und Entspannungskurse für Frauen und Kinder.

Zum Nachbarschaftsverein der Kölner Autofreien
www.nachbarn60.de

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