Permakultur

Die Thüringeti

Ein Wilde-Weiden-Projekt mit Zukunft.
von Peter-Hugo Scholz, erschienen in Ausgabe #37/2016
Photo
© Peter-Hugo Scholz

Noch ist die »Thüringeti« auf keiner herkömmlichen Landkarte zu finden. Obwohl inzwischen nicht nur Naturschützer, Ökologen oder Viehhändler von ihr schwärmen – auch die Gäste dieses savannenartigen Landstrichs am Nordrand des Thüringer Walds werden ihre Neuentdeckung weiterempfehlen. Dabei ist es noch gar nicht so lange her, da wurde auch hier – auf sogenannten landwirtschaftlich benachteiligten Flächen mit Bodenwertzahlen ­zwischen 20 und 30 – nur Getreide angebaut. Hier, das ist das Hochplateau um die Gemeinde Crawinkel, gelegen zwischen Oberhof und Gotha. Geografisch gehört das Gebiet zur Ohrdrufer Muschelkalkplatte, auf der normalerweise nur Halbtrockenrasen gut gedeiht. Wer auf den steinreichen Äckern Feldfrüchte anbaut, darf nicht mit großen Erträgen rechnen.
Das mußte auch der erfahrene Landwirt Heinz Bley feststellen, als er nach dem »Umschluss« der DDR aus dem Oldenburgischen nach Thüringen kam und die LPG Crawinkel mit all ihren Flächen erwarb. Doch er dachte schnell um und wurde zum »Bauer Courage«: Alle Äcker widmete er auf einen Schlag in Dauergrünland um, kaufte angrenzende Brachflächen, verkommenes Militärgelände sowie Wälder hinzu und startete 2004 auf 2700 Hektar Thüringens bislang größtes Wilde-Weiden-Projekt. Der Zuzügler ging eine Liaison mit dem regionalen Naturschutz ein und holte sich robuste Weidegänger auf die zwischenzeitlich umzäunten Koppeln: zuerst Konik-Pferde aus Westpolen und Heck-Rinder aus Ostfriesland, dann Galloways und Angus-Kühe sowie Schafe, Ziegen und Esel. Fortan wurden die Vierbeiner zu Landschaftsgestaltern: großflächi­ges Neuland unterm Huf und reichlich Grünzeug zum Fraß, führen sie in wildes Leben, ganzjährig unter freiem Himmel.

Die Grassavanne zum Vorbild?
Das Experiment entwickelte sich zusehends zum (nach)machbaren Modell. Heinz Bley wurde zum Weidemanager und Prozessbeobachter. Von Anfang an achtete er darauf, dass alle Tiere weitläufigen Lebensraum bekamen. Für jedes Rind stehen z. B. zwei Hektar Grünland bereit.
Weidetiere fressen behutsam, und je nach Jahreszeit sind bei ihnen nicht alle Pflanzen gleichermaßen beliebt. So entstanden ganz verschiedenartige Biotope für eine Vielzahl davon angelockter Tier- und Pflanzenarten. Der schlaue Heinz schickte Pferde- und Rinderherden alsbald gemeinsam auf die Weiden, wusste er doch: Die Rinder zupfen, die Pferde beißen die Grünpflanzen, Blumen und Wildkräuter bodennah ab. Genauso verfuhr er mit den Schaf- und Ziegenherden, die er zudem als Gärtner in die angelegten Heckenstreifen und auf die hier typischen Karstböden schickte. Die neuen mobilen Gemeinschaften – ein Konik-Pferd wandert am Tag auch gern mal 100 Kilometer – funktionierten wie die in der Serengeti: Die einen zupfen wie die Giraffen am Blattwerk, die anderen grasen wie die Antilopen. So dauerte es nicht lange, bis in der Schenke von Crawinkel der Name Thüringeti am Biertisch die Runde machte.
Als die ersten Neugierigen von nah und fern kamen, um die neu angelegten Wanderwege zwischen den Weiden zu beleben, staunten nicht wenige, dass in den Schaf- und Ziegenherden auch Esel mitzogen. Der von Zeit zu Zeit auch Touristen führende Bley hat auf fast alles eine Antwort: »Das haben schon unsere Vorfahren im Mittelalter gemacht – so sparen wir uns die teuren Schutzhunde. Die in die Hütegesellschaften ­­­integrierten Esel sind sehr ­wehrhaft und halten zum Beispiel freilaufende Hunde von den Pfennigsuchern fern. Selbst wenn ein Wolf auftauchte, wäre die Herde nicht in Gefahr. Seit wir Esel als ›Schutzhunde‹ nutzen, haben wir zudem 80 Prozent weniger Durchbrüche von Wildschweinen registriert, die sonst gern mal die Grenznetze kaputtmachen.«
Wo so viele Nutztiere laufen – allein 150 Konik-Stuten und 700 Galloway-Mutterkühe sind es auf den Crawinkler Standweiden –, da fällt auch reichlich Dung an. Das ist gut für die weitere Humusbildung, doch Biologen wertschätzen die Äpfel und Fladen außerdem als »Gold für den Artenschutz«. Riesige Gesellschaften von Insekten und Käfern werden davon angezogen, und die wiederum sind bestes Futter für »plötzlich« einfliegende Vögel. Für die neue Vielfalt auf den »wilden Weiden« führt der Biologe Siegfried Klaus von der Uni Jena, der das Projekt wissenschaftlich begleitet, den Rückbau der zuvor geschehenen »Bodenverbesserung« als ­weiteres Plus an. Mit dem Wiedervernässen der ­Wiesen durch Gräben und die Rückführung von Bächen sowie durch das Anlegen von Tümpeln und Flachstellen entstand eine ganze Reihe von Biotopen. »Damit sind hier Vogelarten hergekommen, die vorher nicht mehr da waren. Auf den Äckern haben wir ja sonst kaum noch ein Rebhuhn oder eine Wachtel«, freut sich Klaus. Positiv sei auch, wie sich diese saftigen grünen ­Areale auf den Klimaschutz auswirken. Das habe das Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena schon nachweisen können. »Solche Graslandgesellschaften«, ergänzt Klaus, »­bilden mit der Humusanreicherung gleichsam Kohlenstoffsenken, die so viel CO2 wie Wald binden können! Außerdem initiieren wir damit Neubildung von Grundwasser auf ­großen Flächen.«
2007 untersuchten gut 100 Biologen die Flächen der Agrargenossenschaft. Das Ergebnis ihrer Auswertung gleicht einer Sensation: Wie von Zauberhand gelenkt, sind seit Beginn des Projekts 2457 wilde Tier- und Pflanzenarten – darunter nicht wenige, die auf Roten Listen geführt werden – eingewandert: ein Rekordwert für Deutschland! Zudem machten die Experten hier die schmetterlingsreichsten Wiesengebiete Europas aus. Das Anlegen von Nisthilfen für den Steinkauz – der eine halbe Ewigkeit verschwunden war – oder das Anbringen von Unterschlüpfen für diverse Fledermausarten nennt Heinz Bley lakonisch »sozialen Wohnungsbau für seltene Tiere«. Diesen speziellen Naturschutz läßt er sich freilich von der EU bezahlen.

Die ökonomische Seite
Doch wie wirtschaftet er sonst, um auf schwarze Zahlen in seiner GmbH, die mittlerweile 18 Angestellte hat, zu kommen? Er erhält die üblichen Flächennutzungsprämien; dazu verkauft er immer wieder junge Pferde und Rinder. Er achtet strikt auf gesunde Besatzdichten auf den zur Verfügung stehenden Flächen. Um die Herden nicht zu groß werden zu lassen, werden auch erwachsene Tiere, etwa vier Jahre »alte« Mutterkühe, geschlachtet. Das Biofleisch ist heiß begehrt, und Bleys Kunden wissen es längst zu schätzen, dass dessen Nutztiere auf chemiefreien Wiesen grasen und nur im absoluten Notfall Anti­biotika erhalten. Bei einem Crawinkler Reiterfest läßt Heinz Bley »Ochsen-Fetzen« grillen und fordert die Gäste auf, diese nicht gleich zu würzen: »Und, schmecken Sie auch die Wiesenkräuter raus?!«
Zunehmend wird das Naturkleinod in der Mitte Deutschlands von Besuchern entdeckt. Manche begeben sich hoch zu Ross, andere mit dem Bergfahrrad, die meisten per pedes auf Safari. Schnell nehmen sie wahr: Hier wird das Kälbchen nicht gleich von der Mutter getrennt; hier haben die Nutztiere viel Auslauf. Die Vielfalt an wilden Pflanzen und Tieren kann niemand auf den ersten Blick erfassen. Mit viel Geduld ist das aber dem Naturfilmer ­Andreas Winkler gelungen. Ein Jahr lang beobachtete er alle Niederungen, die Bergwiesen und die Waldwinkel mit seiner Kamera. So ist sein Film »Augenweide« entstanden. Winklers Resümee ist eindeutig: »Das ist eine Oase hier. Außerhalb dieses Geländes, in der intensiven Landwirtschaft, da findet Chemie-Krieg statt. Da machen sich Monokulturen aus Raps und Mais breit. Durch Humusrückgang geht viel Boden verloren. – Hier hingegen sind die Kreisläufe geschlossen. Die Natur bekommt sogar mehr zurück, als wir aus ihr entnehmen. Nur so hat Landwirtschaft auf der Erde eine Zukunft!«
Theoretisch geeignet für eine derartige Nutzung sind etwa fünf Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in Thüringen – tatsächlich umgesetzt wird eine extensive Beweidung laut NABU aber nur auf 0,02 Prozent der Flächen. Die Agrargenossenschaft Crawinkel jedenfalls baut das Bewirtschaftungskonzept weiter aus und liebäugelt schon mit dem nahen Gelände eines stillgelegten Truppenübungsplatzes.
Inzwischen werden auch die Bergwiesen von Schafen und Ziegen beweidet. Auf den Liebensteiner Hängen hat das unter anderem zu neuer blumiger Vielfalt geführt. Der hier aktive Orchideenwart Albrecht Dürer, mit 83 Jahren Thüringens ältester ehrenamtlicher Bürgermeister, kommt bei seinen Streifzügen ins Schwärmen: »Das macht schon Freude, wenn man das wieder sieht – fünf Orchideenarten und drei verschiedene Enziane, dann die Silberdisteln, der Kopfklee oder das Wollgras!«
Doch längst herrschen nicht nur Friede und Freude in der Thüringeti. Immer wieder gibt es Streit mit den Behörden und andere Ärgernisse. Die dynamisch wachsenden Heckenstreifen und Dornenbüsche sollen beispielsweise linear beschnitten werden. So will es die schon dreimal geänderte EU-Buschverordnung – damit die Äsungsflächen auch aus der Luft genau bemessen werden können. Ausserdem fehlt es an Bio-Schlachthöfen in unmittelbarer Nähe. Erwähnt sei auch die Invasion jener Wildtiere, die hier gar nicht heimisch sind, wie die plötzlich aufgetauchten Nilgänse oder die Waschbären. Außerdem bereitet es immer wieder Probleme, wenn draußen auf der Weide mal ein Kälbchen stirbt. Laut Gesetz müssen alle Kadaver in freier Natur sofort entsorgt werden – obwohl gerade hier die natürliche Hygiene-Polizei im Nu aktiv wird: Sogleich erscheinen die Fliegenmaden, die Schönschrecken, Füchse und Krähen; Wildschweine holen sich zuletzt sogar die Knochen!

Heu am Stiel
Den Weidetieren aber scheint es an nichts zu fehlen. Im Herbst legen sie sich ein dickes Winterfell an. In den frostigen Monaten wird dann das überständige Futter – Hochstauden und Disteln – von ihnen gefressen. Heinz Bley nennt dies »Heu am Stiel«. Bei Bedarf bietet er zusätzliches Futter an, und die Liegeflächen werden zur Wärmeisolation mit Stroh eingestreut. Für den ständigen Nachschub an Wasser hat Bley Trinkwasserleitungen zu den Saufplätzen legen lassen.
Über die Jahre hat sich auf anfangs eintönigen Grünlandflächen eine abwechslungsreiche, parkähnliche Struktur entwickelt – mit allein stehenden Hutebäumen, die den Weidetieren auch als Scheuerpfähle für die Fellpflege dienen, und mit Heckenreihen sowie Feldholz-Inseln, die den Herden Schutz gegen Wind oder Sonne bieten – ein stilvoller Kontrast zum weitgehend geschlossenen Thüringer Wald, der hier angrenzt.
In der neuen grünen ­Arche Noah machen die Erbauer, Besucher und Wissenschaftler immer mehr spannende Entdeckungen. Es ist noch nicht lange her, da wurde im Geäst eines Baums die erste Wildkatze gesichtet. Auch Fährten vom Luchs sind schon ausgemacht worden. Ornithologen beobachten Populationszuwächse bei den selten gewordenen Braun- und Blaukehlchen, bei Wendehälsen und Wiesenpiepern. Pflanzenexperten erfreuen sich am (Neu-) Wuchs von Trollblumen, Wiesenknöterich oder Sumpfblutaugen. Pilz-Spezialisten fanden an beweideten Waldrändern den schon als ausgestorben gemeldeten Dung-Pilz.
Durch die extensive Beweidung und den dadurch geringen Stickstoffeintrag in die Böden hat auch der Biologe Jochen Wiesner bereits manchen Sensationsfund gemacht, darunter solch sensible Wiesengewächse wie Saftlinge, Ellerlinge, und Korallenpilze. »Sogar die wachsen hier noch oder wieder – während sie auf den überdüngten Fettwiesen und in den landwirtschaftlich intensiv bewirtschafteten Feldern total verschwunden sind«, gibt der professionelle Pilzsammler Auskunft.
Faszination Thüringeti. Der Philosoph Andreas Weber meinte angesichts der wilden Weiden: »Hier werden wir mit Lebendigkeit beschenkt.« Bleibt zu hoffen, dass diese Arche Noah weiter den eingeschlagenen Kurs hält und alsbald Schule macht – in der Nachbarschaft und darüber hinaus. ­Natur kennt ja auch keine Grenzen. •


Peter-Hugo Scholz (61) ist promovierter Kommunikationswissenschaftler und lebt in Leipzig. Er arbeitet als freier Radiojournalist, Dokumentarfilmer und Organisator eines internationalen Bergfilm-Festivals. www.bergfilmnacht.de

Die Thüringeti besuchen
www.agrar-crawinkel.de

weitere Artikel aus Ausgabe #37

Photo
Gesundheit

Psychiatrie-Verarbeitung in Eigenregie

Die oft hierarchischen Verhältnisse in der psychosozial-psychiatrischen Versorgungslandschaft auf den Kopf zu stellen, mag realitätsfern anmuten – doch im »Durchblick e. V.«, einer Interessengemeinschaft für Psychiatriebetroffene, ist dies seit bald 27 Jahren tägliche Praxis.

Photo
von Matthias Fersterer

Dankbarkeit (Buchbesprechung)

Die erste und wichtigste Aufgabe des Gehirns sei es, Geschichten zu erzählen, sagte Oliver Sacks (1933–2015) in einem Interview wenige Jahre vor ­seinem Tod. Dass er als Neurobiologe nicht nur ­Experte für das komplexeste der menschlichen Organe, sondern auch ein versierter

Photo
von Johannes Heimrath

Jeder möchte der letzte sein, der das Spiel verliert

Mathis, viele Diskussionen über den Rebound-Effekt vermitteln mir den Eindruck, dass die Forschergemeinde in folgenden Tenor einstimmt: Wenn wir so gut wie möglich aufpassen und Rebounds, so weit es geht, vermeiden, lässt sich mit Hilfe des technischen Fortschritts die Welt doch noch

Ausgabe #37
Die große Illusion

Cover OYA-Ausgabe 37
Neuigkeiten aus der Redaktion