Bildung

Kochen kam zuerst

Die 21-jährige Tabea Kratzenstein war bis zur 8. Klasse Freilernerin.von Tabea Kratzenstein, erschienen in Ausgabe #37/2016
Photo
© Daniel Müller

Dass ich Freilernerin werden sollte, haben damals meine Eltern entschieden. Sie waren sehr kritisch gegenüber dem sozialen Druck und den vielen anderen Zwängen, die einem die Schule aufbürdet. Ich bin ihnen dankbar für diese Weitsicht und habe ihre Entscheidung auch bewusst mitgetragen. Hätte ich in die Schule gehen wollen, wäre das jederzeit möglich gewesen.
Als Einzelkind war ich eher der ruhige Typ, ein bisschen introvertiert. Geschwister haben mir nicht gefehlt: Ich habe Brettspiele gespielt und viel gebastelt. Im Kreativbereich habe ich fast alles durchprobiert, von Origami über Häkeln und Stricken bis hin zum Gestalten von Fensterbildern. Weil meine Mutter zu Hause war, habe ich wochentags viel mit ihr unternommen und am Wochenende umso mehr Zeit mit meinem Vater verbracht. Meistens bin ich zwischen 9 und 10 Uhr aufgestanden und habe erstmal etwas gebastelt, das ich am Vortag angefangen hatte. Vormittags habe ich oft englische CDs und Radio gehört oder ganze Märchen auswendig gelernt – »Kalif Storch« oder »Rumpelstilzchen« zum Beispiel. Nach dem Mittagessen bin ich meistens draußen unterwegs gewesen: Einkaufen, Klavierstunde, Ballettunterricht oder Museumsworkshops. Ein bisschen ungewöhnlich ist vielleicht, dass ich früher kochen konnte, als lesen und schreiben. Das habe ich erst mit 13 Jahren gelernt, wogegen ich beim Kochen schon früh Erfahrungen gesammelt habe. Angefangen habe ich wohl mit sieben Jahren, ein paar Möhrchen anzudünsten. Damals hat es zwar noch nicht so richtig geschmeckt, aber ich war trotzdem stolz auf meine Werke. Bald schon ­konnten sich mein Rührei oder meine ­Nudeln mit Spinatsoße essen lassen, und ich begann, regelmäßig zu kochen. Das hat mich bis heute nicht mehr losgelassen, heute koche ich auch für bis zu 300 Leute.
Als ich Teenager wurde, wünschte ich mir ein bisschen mehr Anregungen, als ich zu Hause bekommen konnte. Ich suchte nach neuen Ideen, um mich mit Sachen zu beschäftigen, auf die ich alleine nicht gekommen wäre – zum Beispiel Geometrie. Außerdem war ein gewisses Interesse daran gewachsen, wie Schule wohl sein würde. Eigentlich wollte ich es vor allem deshalb ausprobieren, weil die anderen Teenager auch in der Schule waren und ich so sein wollte wie sie. Dass ich ohnehin zur Schule wollte, erwies sich als praktisch, weil eine Verwandte meine Familie wegen Verletzung der Schulpflicht angezeigt hatte und wir dadurch Probleme mit dem Schulamt bekamen. Durch meine Entscheidung hatten wir keinen Ärger mehr mit den Behörden – ein angenehmer Neben­effekt.
Ob mir beim Freilernen etwas gefehlt hat? Einerseits hätte ich mir schon ein bisschen mehr soziale Vielfalt gewünscht, andererseits konnte mir die Schule diese auch nicht geben: Ich fand Erwachsene viel cooler als Gleichaltrige und hatte während meiner Freilernerzeit schon viele Freundschaften mit Erwachsenen. Zudem hat mir der Konkurrenzdruck die sozialen Beziehungen in der Schule zu sehr überschattet. Mit den Lehrern kam ich hingegen sehr gut zurecht, war fast ein bisschen überangepasst. Es gab vor allem in der Oberstufe schöne Momente, die ich mit Lehrern verbinde, zu denen ich auch immer noch Kontakt habe. Zum Beispiel gehe ich bis heute zum Philosophie-Unterricht in meine alte Schule – dabei wäre ich eigentlich schon in der 15. Klasse.
Nach dem Abitur konnte ich mir nicht vorstellen, mich für ein ganzes Jahr auf die Beschäftigung mit einem bestimmten Thema zu begrenzen, so wie ein Studium das erfordert hätte. Schon in der Schule hat es mich geärgert, so lange festgelegt zu sein. Also habe ich alles mögliche unternommen, bin bei den Funkenfliegern (siehe Oya Ausgabe 36) mitgewandert, habe das »Schulfrei-Festival« mitorganisiert und vor allem viel gekocht: Gerade erst habe ich einen Kurs für glutenfreies vegan-asia­tisches Kochen geleitet und möchte noch viele knurrende Mägen glücklich ­machen. Mittlerweile keimt in mir aber das Bedürfnis nach einer längerfristigen Per­spektive: Wenn alles klappt, werde ich schon bald anfangen, in Mainz Geschichte und Soziologie zu studieren – aber nicht auf ­Lehramt. •

weitere Artikel aus Ausgabe #37

Photo
von Matthias Fersterer

Dankbarkeit (Buchbesprechung)

Die erste und wichtigste Aufgabe des Gehirns sei es, Geschichten zu erzählen, sagte Oliver Sacks (1933–2015) in einem Interview wenige Jahre vor ­seinem Tod. Dass er als Neurobiologe nicht nur ­Experte für das komplexeste der menschlichen Organe, sondern auch ein versierter

Photo
von Anke Caspar-Jürgens

Wer sein Kind liebt … (Buchbesprechung)

Franziska Klinkigt nimmt es mit geläufigen Redensarten wie auch mit den Beziehungen zwischen uns Menschen genau. Als Psychologin und Mutter von zwei Kindern hat dies bei ihr zur Folge, dass sie sich mit tief verankerten Glaubenssätzen – wie der im Buchtitel angedeuteten, an

Photo
von Lara Mallien

Weniger ist nicht immer weniger

Eine Kampagne des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie versucht derzeit, für Industriebetriebe Auszubildende zu gewinnen. »Entdecke das DU in Industrie« ist das Motto, und so fährt der Werbetext fort: »›Industrie ist, wenn’s stinkt, lärmt

Ausgabe #37
Die große Illusion

Cover OYA-Ausgabe 37
Neuigkeiten aus der Redaktion