Gemeinschaft

»Nichts von dem, was hier passiert, verlässt den Raum«

Gefühle kommunizieren – eine Erfahrung mit der »Forum«-Methode.
von Martha Steffen, erschienen in Ausgabe #36/2016
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© Daniela Singhal – www.zegg.de

Dreiundzwanzig Augenpaare sind auf mich gerichtet und warten gespannt auf das, was ich jetzt sagen werde. Ich tigere auf dem flauschigen, roten Teppich hin und her, schaue flüchtig in die wohlwollend lächelnden Gesichter und denke: nichts. Mein Kopf ist leer. Eben waren da noch die Worte drin, die ich sagen wollte – wie’s mir gerade geht, und was ich wirklich, wirklich fühle … Leere. Huh! »Hallo zusammen! Ähhh, eben war ich noch ganz entspannt …«
An diesem Wochenende in der Gemein­schaft des Ökodorfs Sieben Linden in Sachsen-Anhalt habe ich unter anderem gelernt, dass ich mit dem »Drei-Zonen-Modell menschlicher Zustände« schnell checken kann, wo ich innerlich stehe: Entspannt, satt und ohne drängendes Mangelempfinden befinde ich mich in der »Komfortzone«; mit gespannten Sinnen und beim Betreten von unbekanntem Terrain entere ich die »Risikozone«; und wenn plötzlich ein Automatismus auftaucht (Flucht, Starre) und da nur noch Brei im Kopf ist, bin ich in der »Chaoszone« gelandet. Mein aktueller Check ergibt: Etwas in mir ist ganz ruhig und fühlt sich sicher; mein Körper tapert dagegen weiterhin unkontrolliert auf und ab; und da ganz hinten in meinem Nacken schrillen die Glocken: Alarm! – Bin ich in ­allen drei Zonen gleichzeitig?
Forum: Viele Menschen sitzen im Kreis; eine Person steht in der Mitte und spricht. Zu allen, wenn möglich. In der Gemeinschaft Sieben Linden und manchen anderen Gruppen wird dieses Werkzeug verwendet, um auf emotionaler Ebene Transparenz zu schaffen, um Gefühlsstau und zwischenmenschliche Blockaden sichtbar zu machen. Für Sachthemen und Entscheidungen gibt es an diesem Ort andere Kommunikationsformen und Werkzeuge – im Forum geht es einzig um Gefühle.
Dieses Vorgehen hat sich für die Sieben-Lindener bewährt: Sensibilisiert für die Unterscheidung zwischen Gefühlen und Sachlichem, sind alle aufgefordert, sich zu fragen: Versperrt mir da gerade eine Emotion die klare Sicht auf einen Sachverhalt? Habe ich womöglich einen Konflikt mit meinem Gegenüber und stimme deshalb gegen seinen Vorschlag? Da sich alle dieser Unterscheidung bewusst sind, können sie mitunter derlei Dinge aneinander erkennen und sich gegenseitig darauf hinweisen. Etwa: »Ich glaube, da ist etwas zwischen euch, das gar nichts mit dem Thema hier zu tun hat – warum schaut ihr nicht im Forum am nächsten Mittwoch mal genauer hin, was mit euch los ist?« So erklärt uns die Permakultur-Designerin Sandra den Sinn des Forums. Wir zwanzig Teilnehmer am Vertiefungskurs der »sozialen Permakultur« rutschen etwas angespannt auf unseren Stühlen herum und schauen von einem zum anderen. Jetzt wird es heiß! »Tolle Sache«, denke ich aufgeregt und lausche neugierig den beiden Forumsleitern Ita und Sancho, die uns auf lebendige Weise von sich und ihren Erfahrungen mit diesem Werkzeug berichten. »Versucht, authentisch zu sein«, sagen sie, und: »Lasst eure Rollen los – oder macht sie euch bewusst und spielt damit.«
Hoppla! Während wir im Kreis zusammenkommen und zum Aufwärmen, je nach Ansage, wie angewurzelt stehenbleiben oder uns hastig hin- und herbewegen, stumm nach Worten und dem Draht zum Bauchgefühl suchen oder schnellquasselnohnezudenkenoderzuatmen – bekommen wir von Ita und Sancho ein paar weitere Tipps: »Atme!«; »Schau dich um im Kreis – sind sie wirklich so bedrohlich?«; »Beweg dich mal ein bisschen hin und her …«
»Keiner muss!«, heißt es dann, als es in unsere erste Forumsrunde geht. Jeder hat eine Minute Zeit, um sich zu entscheiden, in die Mitte zu gehen. Viele von uns ­kennen sich seit genau einem Tag, und doch springen nacheinander – bis auf eine Teilnehmerin – alle ins kalte Wasser und zeigen sich mit dem, was gerade da ist. Wow!
»Puh, jetzt sitzt ihr alle da und guckt so ungemein wohlwollend – ist ja kaum auszuhalten!«, spiegelt uns ein Teilnehmer, als er in der Mitte des Kreises steht. Unbehagen, Schwitzen, befreiendes Lachen, Euphorie; dann wieder hochgezogene Schultern und verlegenes Händekneten – eine emotionale Achterbahn ist es, ­dieses Sich-Zeigen. »Ich hätte ja gedacht, dass wenigstens ein paar von uns ganz cool bleiben würden in der Situation«, staunt ein Kursteilnehmer hinterher. Nein, cool ist wirklich keiner.
Aber sehr, sehr ehrlich. Dass wir füreinander sichtbar werden, mit Nervosität, Angst und Unsicherheit, erzeugt Nähe und viel Verständnis – und sorgt für eine noch tiefere Entspannung mitein­ander in den weiteren Kurstagen. Keiner muss cool sein. Und – mit diesem Experiment haben wir ein Stück mehr den Raum geöffnet, um emotionale Dinge, Bedürfnisse und Konflikte auszusprechen – wir sind an der Basis, am Fundament der sozialen Permakultur, angekommen.
An das, was wir gerade erlebt haben, die sogenannte Einminüter-Runde, schließt sich im ­Forum normalerweise der »Auftritt« einer Person an: Jemand trägt ein paar Minuten lang vor, welchen Konflikt oder welche Gefühle sie oder er gerade hat, und es gibt Raum für Reflexionen aus dem Kreis der Zuschauer. Was habt ihr bei dem Menschen in der Mitte wahrgenommen? Diese sogenannten ­Spiegel sind ebenfalls ein essenzieller Teil des Ganzen: ­Neben der wohlwollenden Zeugenschaft sind alle Menschen im Kreis dazu aufgefordert, die Person in der Mitte zu unterstützen – weniger durch konkrete Ratschläge, sondern indem sie ihr ihre Wahrnehmung des Gesagten mitteilen. Der »Auftretende« kann so im besten Fall sich selbst und sein Thema aus einer anderen Perspektive betrachten. »Einen Schritt zur Seite treten« nennt Sandra das. Indem die anderen Teilnehmer ein Feedback geben, kann der Mensch in der Mitte des Kreises zu mehr Klarheit finden. –
Irgendwann funktioniert auch mein Kopf wieder, und ich kann meinen Mitstudenten von einem inneren Konflikt erzählen, den ich gerade mit mir trage. Während ich spreche, blicke ich umher, schaue in die aufmerksamen Gesichter, und ein Gedanke blitzt in meinem Kopf auf: »Ist das jetzt wirklich wichtig? Warum trage ich meine Emotionen in diesen Kreis?« Und ich erkenne, dass es genau darum geht: mich und meine Bedürfnisse ernstzunehmen und zu formulieren, was passiert; für mich einzustehen; und es geht auch darum, einen klaren, transparenten Raum um mich herum zu kreieren. –
Aus meinem »Sharing« (Mit-Teilen) ergaben sich übrigens später einige sehr schöne Gespräche mit den anderen Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern, die mir viel Klarheit brachten und für die ich enorm dankbar bin.
Menschen, die einander zu essenziellen Einsichten verhelfen; gelebtes Miteinander; Kreiskultur; einander zuhören; das Bedürfnis nach Transparenz, Heilung und Wachstum – all das steckt im Forum, und dort liegt seine Kraft und Qualität. Goethe hat mal geschrieben: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: Sie muss zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.« Da ist so viel Hoffnung für uns Menschen, wenn wir ein­ander auf diese Art und Weise begegnen können! •


Martha Steffen (33) ist nach dem Studium in die Schweiz ausgewandert, um als vegetarische Köchin in einem Seminarhaus zu arbeiten. Dort hat sie ihre Liebe zu Tanz und Permakultur entdeckt.

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