Titelthema

Die weiße Kunst

von Lara Mallien, erschienen in Ausgabe #36/2016
Photo
© www.earthbuilding.eu

Wer bauen wollte, hatte eine Kalkgrube auf dem Hof. Bis in die 1960er Jahre hinein war das Usus. Der zuvor gebrannte Kalkstein sumpfte im Wasser vor sich hin und wurde dadurch von Jahr zu Jahr besser.

Mit etwas Sand vermischt, ergibt Kalk Mörtel zum Mauern oder Putz für Wände, mit Wasser verrührt einen Kalkanstrich. Handwerker und Hausbauer wussten bis in jüngste Zeit, wie eine solche Mixtur auf Grundlage des jeweils regional vorhandenen Kalksteins anzurühren war. Heute kann das kaum noch jemand – die Fertigmischungen aus dem Baumarkt sind bequemer. Kalkbrennen wurde in der Bronzezeit erfunden; die dafür errichteten Öfen finden sich am Rand fast jeder menschlichen Siedlung seit dem 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung – bis sie in den letzten hundert Jahren mehr und mehr verschwanden. 900 bis 1000 Grad ­Celsius sind ­nötig, damit aus dem Kalkstein Kohlendioxid entweicht. So entsteht Branntkalk, der bei Wasserzugabe äußerst hitzig zu Kalkhydrat reagiert.
Eine Kalkputzmischung benötigt die genau richtige Konsistenz, härtet relativ schnell aus und ist in der Verarbeitung anspruchsvoller als Lehmputz. »Du musst dieses Material tief verstehen«, sagt Solène Delahousse. Wenn es in Europa jemanden gibt, die mit Kalk alles nur Menschenmögliche anstellen kann, dann ist es Solène.
Als junge Frau lernte die Französin Freskomalerei in Italien. »Fresco« bedeutet auf Italienisch »frisch«: In den frischen Kalkputz werden Pigmente eingearbeitet, so dass sie beim Aushärten konserviert werden – sie sintern ein. Solène liebte diese Kunst, hatte aber Schwierigkeiten, daraus einen Brotberuf zu machen. Also verlegte sie sich auf das Modellieren von Stuck, arbeitete in Italien bei der Restaurierung historischer Gebäude mit und begegnete immer wieder neuen Anwendungen von Kalk. Fasziniert von diesem Material verschlang sie alle Literatur zum Thema und entdeckte Anfang der 1990er Jahre »L’Ecole d’Avignon, Centre de Ressources sur le bâti ancien« – die »Schule von Agignon, Zentrum für alte Baustoffe«. Diese residiert in dem 600 Jahre alten »Hôtel du Roi René«, das seit Schulgründung im Jahr 1983 von den dort Lernenden restauriert wird. »Der Kurs, den ich dort besuchte, dauerte nur eine Woche, aber er hat mir die Augen dafür geöffnet, was mit Kalk möglich ist, wieviele tradierte Techniken es für Wandputz oder abwaschbare Fußböden gibt«, erzählt Solène.

Oberflächenzauberei mit Tadelakt
Auf den Spuren des Kalks reiste sie durch viele Länder und landete schließlich in Marokko, wo der Tadelakt seinen Ursprung hat: eine Putzmischung aus Kalk, Sand, Marmormehl, Ton und Asche, die durch das Einreiben mit Öl und Seife wasserdicht wird. Eingebrachte Pigmente verwischen dabei zu schillernden Oberflächen: Tadelakt-Badezimmer wirken wie aus Tausendundeiner Nacht. Schon die antiken Bäder Marrakeschs waren so ausgekleidet.
»Vor 20 Jahren bin ich zum ersten Mal nach Marrakesch gefahren«, erinnert sich Solène. »Ich radelte durch die Straßen und fragte die erstbesten Passanten, wo ich wohl etwas über Tadelakt erfahren könne. Tatsächlich konnte mich jemand in die Werkstatt eines Handwerkers führen. Der sprach nur Arabisch – ich aber nicht. Als ich am nächsten Tag in meinen Arbeitsklamotten wiederkam, hat er verstanden, dass ich mitarbeiten wollte. Er hat meine Hände geführt, so habe ich ohne Worte gelernt.« Nach einigen Wochen erfuhr ein Nachbar, dass Solène Fresko-Malerin ist, und wünschte sich eine mit Blumenfresken verzierte Tadelakt-Wand in seinem Büro. So hatte sie mit ihrem Lehrer ein gemeinsames Projekt, und nun brachte sie ihm ihrerseits etwas bei: wie man Blumen malt.
Dreimal kehrte sie nach Marokko zurück. Inzwischen sind dort ­Tadelakt-Kurse für Touristen zu einer beliebten Einnahmequelle geworden – in Deutschland kaufen sie dann eine aus Afrika importierte Mischung, um ihr Bad zu verputzen. Solène findet das absurd.
Sie unterrichtet an einer Hochschule in Paris und an vielen Orten in Europa, unter anderem in Wangelin (siehe Seite 24), wie sich aus den basalen und überall zu gewinnenden Ausgangsstoffen Kalk und Sand die richtigen Mischungen für jegliche mit diesen Stoffen mögliche Bautechniken – sogar Tadelakt – selbst herstellen lassen.
Sieben Prozent der Erdkruste besteht aus dem in den ­Urmeeren abgeschiedenen Kalk; in fast jedem Land tritt irgendwo der weiße Schatz zutage: Er wird auch nach tausend Generationen nicht knapp werden. Das Kalkhandwerk gehört zum enkeltauglichen Teil der Menschheitstraditionen. •

www.solenedelahousse.com
www.kurzlink.de/solene_wangelin

weitere Artikel aus Ausgabe #36

Photo
von Elena Ball

Schiff in der Sonne

Zum ersten Mal wird in Deutschland ein »Earthship« gebaut. So ein Erdschiff-Haus besteht größtenteils aus recyceltem Material und ermöglicht seinen Bewohnern durch spezielle Bauweisen ein weitgehend autarkes Leben. Der Gemeinschaft Schloss Tempelhof im Hohenloher Land

Photo
Bildungvon Julian Mohsennia

Vertrauen bilden

Freilerner-Porträt – Folge 2
Was erleben junge Menschen, die mit Hilfe ihrer Familien ihre Bildung jenseits von Schule organisieren? Oya-Autor Alex Capistran hat eine Reihe von Freilernerinnen und Freilernern eingeladen, ihre Geschichte zu erzählen.

Photo
von Matthias Fersterer

Der begrabene Riese (Buchbesprechung)

Als Schriftsteller komme man mit fast allem durch, nur ein absolutes Verbot habe die Kritik verhängt: Keinesfalls dürfe in ernstzunehmender Literatur über Drachen geschrieben werden, bemerkte einst der drachenaffine Fantasyautor Terry Pratchett. Dieses Tabu bricht Kazuo Ishiguro in

Ausgabe #36
Enkeltauglich Bauen

Cover OYA-Ausgabe 36
Neuigkeiten aus der Redaktion