Gemeinschaft

Sinn-Reich

Ein Ort für Sinne, Gefühle und wechselnde Gemeinschaft: EvaMaria Siebert besuchte das »Valle de Sensaciones« in Andalusien.von EvaMaria Siebert, erschienen in Ausgabe #35/2015
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Das spanische Wort »sensación« meint »Gefühl«, »Sinnesempfindung«. Die Sensation im »Valle de Sensacíones«, einem abgelegenen Tal in den Bergen von Andalusien, südlich der Sierra Nevada, ist das Experimentelle der Gemeinschaft – wobei die Gemeinschaft mit den Menschen, die gerade dort sind, immer neu entsteht. Ich habe meinen Aufenthalt dort als eine Herausforderung erlebt, die eigene Lebens- und Denkweise zu überprüfen.
Eine Freundin hatte mir eine Postkarte geschickt: Sie zeigte tanzende Menschen im Schlammbad, Lehmhäuser, ein Lehmmonster mit aufgesperrtem Maul, dazu eine Internetadresse. Aber was ist ein »Ökodorf-Labor«? Wer lebt dort, was geschieht dort? Schon lange frage ich mich, ob es möglich ist, dass schöpferische Lebensfreude nicht allein in ausgewählten Räumen der Freizeitbranche stattfindet, sondern in jedem Moment, mit jeder Handlung. Beim Anblick der Bilder fühlte ich diese Frage wieder in mir vibrieren. Ist das ein Ort, an dem ich einer Antwort näherkommen könnte? Noch ehe mir so recht klar war, was ich tat, hatte ich einen Flug gebucht, erreichte einige Wochen später den Ort Yátor – und wandere jetzt den letzten Kilometer ins Tal.
Das Valle de Sensacíones ist ein schmales Tal, wie in den Berg gefaltet. Durchzogen wird es von einem jener Bachbetten, die nur einen Teil des ­Jahres Wasser führen. Den ersten Anblick beim Betreten des Tals bieten ein altes, rotes Feuerwehrauto und Zirkuswagen. Ich streife verschiedene Orte: Einige Caravans dienen offenbar als Behausungen; ich finde drei Baumhäuser, ein sechseckiges Lehmhäuschen, die »Oktogon«-Küche als zentrales Gebäude in der Talmitte sowie den Permakulturgarten direkt daneben. Mehr am Rand des bebauten Geländes liegen zwei »heilige« Orte, wie ich später erfahre: das Medizinrad und »El Templo de la Luna«, der Mondtempel.
Das Medizinrad wurde vor zehn Jahren von Roy Littlesun, einem in der Tradition der Hopi-Indianer stehenden Medizinmann, angelegt. Um die von Kolonia­lismus geprägten Beziehungen zwischen Südamerika und Spanien heilen zu helfen, baute er einen Kreis von Medizinrädern in ganz Spanien: eines für jede Himmelsrichtung und eines für die Mitte in Madrid, so dass Spanien wie von einem gewaltigen Medizinrad umschlossen ist. Das Rad des Südens findet sich im Valle de Sensacíones. Kreisförmig aus Steinen gelegt, wird es an den Positionen der vier Himmelsrichtungen von ­Figuren geschmückt, kunstvoll aus Olivenholz geschnitzt: das Mandelblütenkind im Süden, eine Frauen­gestalt im Westen, im Norden der Gott Pan und im Osten der Drache. Es liegt eingebettet in den Berg, jeder darf es betreten, der Stille und Klärung sucht.
Der Süden im Medizinrad steht für die Gefühlswelt, für Kindheit, Kreativität sowie für das Element ­Wasser. Je mehr ich in diese Welt eintauche, scheint es mir immer weniger einen passenderen Ort für das Rad des Südens geben zu können! Das Valle de Sensacíones ist ein Ort der Gefühle, der Kreativität, der Verspieltheit und des Chaos. Neben den beschriebenen Bauwerken finden sich hier auch zahlreiche begonnene Projekte, denen man ihre Bestimmung noch nicht ablauschen kann – etwa eine Gruppe farbiger Kloschüsseln am Weg; ein Kreis geflochtener Wände aus Schilfrohr, durch die der Wind weht; ein Wall mit farbigen Mosaiken; ein Lager, in dem Baumaterialien in wilder Unordnung liegen. Es ist, als wären alle Stadien schöpferischen Seins im Tal versammelt – und es erscheint fast folgerichtig, dass es nicht nur Schönheit und Vollendung gibt, sondern auch das Chaos.

Was das Tal will
Das Valle de Sensacíones wird von Achim Burkard, seiner Partnerin Johanna Ananda Halder, dem Hund Jambo sowie drei Katzen bewohnt und gehütet. In Deutschland geboren und aufgewachsen, reiste Achim viele Jahre und lebte vom Instrumentenbau. Mehrmals kam er in das kleine andalusische Dorf Yátor, und einmal fand er dabei auch das Tal, setzte sich an verschiedene Plätze und lauschte dem Ort seine Bestimmung ab. Die Vision, die er empfing, handelte von Menschen, die eng bei der Natur leben, in einer Umgebung, die die Sinne anspricht. Es dauerte nur zwei Wochen, dann beschloss er, zu bleiben und das Tal zu kaufen. Achims Vision ist mit den Jahren Wirklichkeit geworden, und viele Menschen waren schon zu Gast im Tal. Es zeigte sich, dass Besucher lernen wollten, wie man anders leben kann, worauf eine Art Schulungs- und Seminarort entstand. Der gemeinschaftliche Prozess des Lebens und Lernens strukturiert sich mit nur zwei wesentlichen Mitteln: dem Küchenspiel und der Redestabrunde.
Das Küchenspiel ist eine Art Brettspiel, in dem jede anwesende Person eine Figur wählt – etwa Pinguin, Fee, Delphin, Peter Pan oder Charlie Chaplin. Das Brett ist in sieben Bereiche mit den Bezeichnungen der Wochentage aufgeteilt. Jeder Tag ist in weitere Felder für die regelmäßigen Arbeiten unterteilt. Die Figuren werden entsprechend gesetzt, wobei keine Felder übersprungen oder ausgelassen werden dürfen. Wer jedoch etwa einen Kuchen gebacken, eine wichtige zusätzliche Aufgabe übernommen oder eine besonders gelungene ­Aktion initiiert hat, bekommt einen gelben Stein, »Sonne« genannt. Jede Sonne ermöglicht Zusatzfreuden: Nun dürfen Felder übersprungen werden, oder man wird mit Keksen oder Bier belohnt.
Mit dem Küchenspiel wird die Arbeit gleichmäßig auf alle verteilt, und jeder kann schnell sehen, wer für welche Aufgaben verantwortlich ist. Zugleich schafft es eine spielerische Stimmung. Ich habe als »Wasserfee« nicht nur dafür zu sorgen, dass immer genug Trinkwasser greifbar ist, sondern auch dafür, dass die Stimmung leicht bleibt, spielerisch, fließend. Ich darf Wasserschlachten beginnen und allzu ernste Gesichter necken …
Die Redestabrunde ist eine Vollversammlung. Sie findet statt, wenn neue Menschen angekommen sind, bevor Menschen abreisen, oder wann immer es das Bedürfnis nach Austausch und Klärung gibt. Die Kommunikationsregeln sind einfach: Wer den Stab hat, redet und hat die ungeteilte Aufmerksamkeit aller Anwesenden. Jeder spricht über sich, über seine augenblickliche Verfassung, seine Gefühle und mitteilenswerten Gedanken. Dann wird der Stab im Uhrzeigersinn weitergereicht. Er wandert so lange durch den Kreis, bis keine und keiner mehr etwas mitzuteilen hat.
Ich bin immer wieder verblüfft, wie sehr diese einfachen Regeln uns verändern, wie sie die Alltagsstimmung aufheben und die Aufmerksamkeit schärfen. Viele der Dinge, für die im Fluss des Tags kein Raum ist, weil sie zu zerbrechlich, zu scheu sind, werden ausgesprochen und geteilt. Das Wesen jedes Menschen erscheint in der Redestabrunde klarer, ungeschminkter, wahrhaftiger. Viele Teilnehmer bekommen mit dem Redestab Kontakt zu ihren Gefühlen; häufig gibt es Tränen. Das Tal ist ein Ort, an dem Gefühle manchmal überraschend und unvorhergesehen auftauchen. Vor allem aber taucht das Echte auf. Ein Gast, der gleichzeitig mit mir da ist, erkennt erst hier die wahre Tiefe seiner Lebenskrise. Eine spanische Besucherin geht durch einen Prozess der Verwirrung und entscheidet sich schließlich für einige Tage des Rückzugs in der Stille des Mondtempels. Ich behalte das Strahlen, das von ihr ausgeht, als sie – wesentlich gestärkt und geklärt – das Tal verlässt, gern in Erinnerung.

Auch schwierige Gefühle sind willkommen
Doch nicht jeder mag den Ort und seine Herausforderungen. Ein enttäuschter Gast schreibt, es sei voller angefangener Projekte, die nicht fortgeführt werden. Es sei ungepflegt, schmutzig, das Kompostklo stinkend und der Empfang nicht herzlich und freundlich genug. Achim kennt diese Momente. Er versucht nicht, ihnen auszuweichen. Manchmal, sagt er, sei es ihm lieber, wenn Menschen, die so denken, das Tal gleich wieder verlassen. Wer aber bleibt, empfinde sich nicht in erster Linie als Gast, sondern als Teil einer kleinen Gemeinschaft von meist nicht mehr als fünf bis zehn Personen. Zu große Gruppen würden vermieden, damit intime Prozesse – zum Beispiel in der Redestabrunde – den notwendigen Raum finden können.
Das Tal ist als offener, neutraler Ort gemeint, an dem Gemeinschaft stattfindet – mit allen Schwierigkeiten, die dazu gehören. Achim sieht sich nicht als Gastgeber, sondern als Teil der fluktu­ierenden Gemeinschaft. Auch seine Probleme sind Teil der Gruppe, er nimmt sich nicht aus. Viele Menschen – das weiß Achim aus Erfahrung – meinen, sie könnten in eine Gemeinschaft ziehen, um ihre Einsamkeit zu beenden. Dass häufig dort erst die Probleme beginnen, ist für sie ein Schock. Das Valle de Sensacíones versteht sich als ein Übungs- und Experimentierfeld für solche Prozesse. Alles ist willkommen, auch die schwierigen Gefühle und die Konflikte, die sich im Kontakt ergeben.
Die gleichberechtigte Stellung in der Gemeinschaft bedeutet, dass jede und jeder Anwesende eingeladen ist, zur Schönheit des Tals beizutragen. Nachdem ich das verstanden habe, macht es mir viel Spaß, die Stellen zu sehen, an denen in meiner Wahrnehmung etwas fehlt, und sie mit meinen Mitteln zu verändern. So streiche ich etwa das Kompostklo mit Kalkfarbe und schnitze einen Klo­rollenhalter aus einem Olivenast, während Johanna im Nachbarklo Mosaike legt und wir uns angeregt unterhalten.
Achim arbeitete in den vergangenen Jahren intensiv an einer Vernetzung der globalen Ökodorf-Bewegung im »Global Ecovillage Network« (GEN). Er erstellte die Online-Plattform, mit der weltweit alle Ökodörfer und Menschen, die ihnen nahestehen, in Verbindung kommen können. Der Gedanke der Vernetzung von Orten soll in Zukunft auch im Valle de Sensacíones selbst stärker zutage treten. Unter dem Motto »Ökodorf-Labor« sollen zunehmend Menschen eingeladen werden, die aus Ökodorf-Zusammenhängen kommen und zu ­Fragen der Gemeinschaftsgestaltung in den Projekten forschen möchten. Achim hofft auf Ergebnisse, die mitteilbar sind und die die Arbeit anderer Ökodörfer befruchten. Außerdem soll das Tal als Retreat-Ort für Menschen in Führungspositionen von Ökodörfern offenstehen.
Zurückgekehrt frage ich mich: Habe ich gefunden, was ich suchte, etwa die künstlerische Alltagsgestaltung? In mir klingt als Antwort ein erstauntes Ja! Da war die Kunst, die sich in das Alltägliche hineinmischte. Alles ist entweder Kunst oder Chaos, wobei auch das Chaos Einladung für Gestaltung sein möchte. Da war die große Offenheit von Achim, ­allem Raum zu geben, was erscheint, und gleichsam mit dem Tal für die Wege, die von den Beteiligten gegangen werden wollen, ein Gefäß zu bilden. Etwas in meiner Seele wurde genährt, was nicht an der Harmonie lag oder an der Schönheit oder an irgendeiner reproduzierbaren Postkartenweisheit. Dennoch ist die Antwort seltsam, denn sie ist kaum in Worte zu fassen – ich kann es nur versuchen: Es ist die Gemeinschaft, die sich in einem künstlerisch gestalteten Feld bewegt, selbst Teil der Gestaltung ist, in einer Natur, die auch mitspricht, die auch Teil der Gemeinschaft ist. •

 

EvaMaria Siebert (44) studierte Gesang, Chorleitung und Psychologie. Sie arbeitet in diesen Bereichen freiberuflich im Großraum Hamburg und ­beschäftigt sich mit der Bedeutung von kreativem Ausdruck im Alltag.

Den Sensationen des Lebens nachspüren:
www.sensaciones.de
sites.ecovillage.org
www.klangbewegung.org

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