Gesundheit

Was präventiv wirkt, ist therapeutisch wirksam

Johannes Heimrath sprach mit Harald ­Walach, der seit vielen Jahren zur Wirkungsweise von Komplementärmedizin forscht, über den Effekt der Selbstheilung.von Johannes Heimrath, Harald Walach, erschienen in Ausgabe #34/2015
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© Drachen Verlag

Herr Walach, 2011 haben wir Ihr Buch »Spiritualität – Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen« verlegt, und zeitgleich ist Ihr anderes Buch »Weg mit den Pillen! – Selbstheilung oder warum wir für unsere Gesundheit Verantwortung übernehmen müssen« erschienen; beide werden gerade neu herausgebracht. Sie beschäftigen sich darin als Wissenschaftler mit subjektiven Erfahrungsbereichen, die sich einer Standardisierung widersetzen. Mich hat damals beeindruckt, mit welcher Selbstverständlichkeit Sie erklären, dass Selbstheilung und spirituelle Erfahrung allerdings sehr wohl wissenschaftlicher Beobachtung zugänglich sind, wenn man sie als Phänomene ernstnimmt und ihre Wirkung erforscht.

Ja, beides sind Phänomene, die sich nicht durch einen von außen beobachtenden, materialistischen Zugriff erschließen. Deshalb sind Selbstheilungseffekte und Spiritualität für die Wissenschaft immer problematisch.

1995 bin ich auf die Studie »The Healing Effect« der britischen Mediziner David ­Hodges und Tony Scofield gestoßen. Sie fragten sich, ob nicht die gemeinsame Grundlage aller komplementärmedizinischen Richtungen – und zum Gutteil auch der Schulmedizin – die vertrauensvolle Beziehung zwischen Therapeut und Patient sei. Auf eine mechanistisch nicht erklärbare Weise scheine sie den eigentlichen Heilungseffekt auszulösen.

Ja, es gibt viele solcher Studien, die immer wieder an den Punkt kommen, dass es um Beziehung geht. Insofern ist der Begriff »Selbstheilung« missverständlich. Wenn jemand meinen sollte, da könne man irgendwo in sich selbst auf den Knopf drücken und werde dadurch gesund, ist das falsch. Es geht immer um ein interaktives Geschehen. Wir haben leider keinen treffenderen Begriff für einen solchen Prozess als »Selbstheilung«. In unserem westlich ­geprägten Verständnis haben wir gerne diese »Schalter« – wie einen molekularen Rezeptor, an dem etwas einen eindeutigen Effekt auslöst. Selbstheilungsprozesse sind aber komplexer und die Interaktionen, die dabei stattfinden, nur schwer zu verstehen.

Wie weit fassen Sie den Begriff »Beziehung«? Wenn mein eigener Gesundheits­zustand aus der Balance gerät, möchte ich niemand anderen sehen, sondern beschäftige mich intensiv mit mir selbst.

Wenn sich Menschen am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, gehört es dazu, dass sie sich zu ihrer jeweiligen Lebensgestaltung und ihrem Umfeld in Beziehung setzen und daraus zum Beispiel eine Verhaltensänderung ableiten, sich neue Ziele stecken oder neue Werte verwirklichen.

Diese Art der Bezogenheit auf sich selbst und die Mitwelt – hat das für Sie etwas mit Spiritualität zu tun?

Um Spiritualität geht es immer dann, wenn jemand über die Belange des unmittel­ba­ren Ichs hinaus das eigene Leben gestaltet. Das kann zum Beispiel bedeuten, dass sich ­jemand für eine tiefere Dimension des ­Lebens öffnet und Wahrnehmungen zulässt, die sie oder er früher unterdrückt hat. Dass sich jemand mehr Zeit für die Pflege von Beziehungen zu Menschen in seinem Umfeld nimmt, kann therapeutisch wirken. Aber wir sollten nicht vergessen, dass für die meisten Menschen solche Veränderungen durch eine therapeutische Begleitung eingeleitet werden.

In den letzten Monaten habe ich viel über die therapeutische Situation als solche nachgedacht. An unserer Akademie in Klein Jasedow haben wir jahrelang Weiterbildungen in Musiktherapie angeboten und dabei Menschen auf die Arbeit mit Kranken vorbereitet. Mit der Zeit empfanden wir das ­typische Machtgefälle zwischen der Person, die um Hilfe bittet, und derjenigen, die Hilfe anbietet, zunehmend als problematisch. Wir haben uns daher entschieden, im Bereich Prävention zu arbeiten und die Fähigkeit zur Selbstverantwortung zu stärken.

Auf jeden Fall geht es darum, dass der einzelne zu seiner Verantwortung und Kraft findet. Heute werden therapeutische Beziehungen leider oft missbraucht, um Verantwortung abzugeben. Der Nicht-Fachmann bekommt gesagt, was zu tun ist, und bleibt passiv, statt dass er zum Akteur seines eigenen Lebens wird und eigenständig für sein Wohlbefinden sorgt.

Mir scheint es eine herausfordernde gesell­schaftliche Bildungsaufgabe zu sein, zu vermitteln, was solche Selbstverantwortung tatsächlich bedeutet.

Richtig, dafür müsste auch die entsprechende medizinische Kultur geschaffen werden. Unsere Medizinkultur ist ja eine Erbin der Akutversorgung. Die medizinischen Grundprobleme im 19. Jahrhundert waren vor allem akuter Natur – da ging es um Kindbettfieber oder die Verletzungen in den großen Kriegen. Unter diesen Bedingungen hat sich der wissenschaftliche Begriff der Medizin entwickelt. Der kulturelle und wirtschaftliche Wandel der letzten Jahrzehnte hat uns nun in eine ganz andere Situation gebracht: Wir haben es vor allem mit lebensstilbasierten Krankheiten zu tun. Als Todesursache Nummer eins gilt heute weltweit die koronare Herzkrankheit, ­gefolgt von Krebs, Nebenwirkungen von Medikamenten, Gefäßkrankheiten, Demenz und Diabetes. All dies sind Probleme, die durch einen stressigen Lebensstil, falsche Ernährung und zu wenig Bewegung begünstigt oder verursacht werden. Wir antworten nun auf sie mit dem medizinischen Denken, das sich für die Bekämpfung akuter Situationen entwickelt hat und dafür ja auch bestens geeignet ist. Für die heute verbreiteten chronischen Krankheiten brauchen wir aber neue Strategien.

Wer gerade einen Herzinfarkt erlitten hat, dürfte in der Regel über die gute Akutversorgung im Krankenhaus glücklich sein.

Ja, aber nach dem Krankenhausaufenthalt hilft einem in so einem Fall vor allem eine Veränderung der Lebensgewohnheiten. ­Alles, was präventiv wirkt, ist letztlich auch therapeutisch wirksam. Fundierte Studien zeigen, das koronare Erkrankungen tatsächlich durch Lebensstil-Interventionen zurückgebildet werden können. Wer nach einem Herzinfarkt sein Verhalten ­ändert, hat gute Chancen, nicht rückfällig zu ­werden.

Ein präventiver Lebensstil darf freilich nicht in einen von ständiger Angst vor Krankheiten geprägten ausarten.

Das ist ein großes Problem, vor allem für die autoritätshörigen Deutschen, die schnell bereit sind, die Keule gegen sich selbst zu schwingen und sich nichts mehr zu erlauben, was sie erfreut. Dabei ist die Freude am Leben ein ganz wesentliches Element aller Heilungsprozesse!

Haben wir es hier womöglich auch mit ­einem linguistischen Problem zu tun und müssten statt »Prävention« ein Wort verwenden, das die Lebensfreude betont?

Leider ist mir noch nichts Besseres eingefallen. Die medizinischen Terminologien bringen oft so etwas krankheitsaffines mit sich. »Gesundheitsförderung« ist auch nicht sonderlich griffig. Spannend finde ich, dass die meisten Menschen beim Einschwenken auf einen gesunden Lebensstil nur eine kurze Durststrecke überwinden müssen, während derer sie das Gefühl haben, auf viele liebgewonnene Dinge verzichten oder sich anstrengen zu müssen. Sobald sie merken, dass ihnen ihre neue Praxis guttut, wird sie beibehalten. Das haben langfristige Studien des amerikanischen Kardiologen Dean Ornish ergeben. Er stellt Herz-Kreislauf-Patienten auf eine vegane Lebensweise mit wenig Fett um und verordnet Entspannungsübungen und viel Bewegung, wie zum Beispiel Yoga. Wer bei diesem ­Programm ein paar Wochen lang mitmacht, bleibt auch langfristig dabei. Ornishs Studien zeigen, dass sich durch die gesündere Lebens­weise Koronarverengungen und sogar Prostatakrebs zurückbilden. Das zeigt deutlich: Ich kann selbst für meine Gesundheit etwas tun – und das wirkt zum Teil mächtiger als die vielen nebenwirkungsreichen Verabreichungen der Schulmedizin.
Wenn ich mich selbst als Zentrum meiner Aktionen, als Gestalter meines Lebens empfinde und von dieser Basis her auch meine Freiheit realisiere, habe ich eine andere Konzeption meiner selbst als die eines Automaten, der auf diese oder jene Medizin vorhersehbar reagiert. Wer so ein Automaten-Bild von sich hat, wird einen präventiven Ansatz nicht verstehen können.

Meinen Sie, dass man breiten Bevölkerungsschichten vermitteln kann, wie wichtig es wäre, sich von solchen mechanistischen Konzepten zu verabschieden?

Ich glaube, ja. Letztlich ist dies eine Frage der Kultur, die sich ja durch alle Informationskanäle vermittelt. Schwierige Bücher können die breite Bevölkerung sicherlich nicht erreichen, aber was die Fernsehmoderatoren sagen oder in Illustrierten zu lesen ist, spricht die Menschen an. Auch in diese Kanäle sickern präventive Strategien inzwischen ein. Zwar ist die dominante Kultur immer noch darauf aus, den Menschen als Objekt zu betrachten, das den Kräften, die von außen einwirken, ausgeliefert ist. Die Frage ist, ob wir uns weiterhin als komplexe biologische Maschinen sehen wollen, die von einer vage greifbaren Evolution durch die Gegend geschoben werden, oder ob wir uns als Autorinnen und Autoren unseres ­eigenen Lebensbuchs sehen.

Ihr Buch »Weg mit den Pillen!« hat Ihnen aus dem konventionellen akademischen ­Lager viel Kritik eingebracht. In einem ­Interview wurden Sie einmal gefragt, ob sie ein »Gegenaufklärer« seien. Das fand ich denkwürdig – denn schließlich betont der Untertitel ihres Buchs »Spiritualität« ­sogar explizit die Notwendigkeit, die Aufklärung fortzuführen! Genau das möchten Ihre Kritiker im Prinzip verhindern. Welche Interessen, denken Sie, stellen sich Ansätzen wie dem Ihren in den Weg?

Das lässt sich nur schwierig beantworten. In jeder Gesellschaft wirken große Beharrungskräfte. Im Bereich Ernährung denke ich zum Beispiel an internationale Nahrungsmittelkonzerne, die noch viel mächtiger sind als die pharmazeutische Industrie. Ich will das aber gar nicht an einzelnen Betrieben festmachen, sondern sehe generell die Tendenz zur Status-quo-Erhaltung.
Auf der positiven Seite gibt es in vielen Bereichen Menschen, die eine gute ­Praxis etablieren, die forschen und mehr oder weniger vernetzt konstruktiv zusammenarbeiten. Selbst diejenigen, die den Placebo-Effekt erforschen, tragen zur Änderung des medizinischen Weltbilds bei, obwohl sie meist gar nicht diese Absicht hegen. Wenn so viele Gruppen unterwegs sind, entsteht eine Art Muster von Veränderung, das in die Gesellschaft hineinwirkt und über das bald niemand mehr hinwegsehen kann.

Ermutigend, dass Sie diese Entwicklung so positiv sehen! Haben Sie herzlichen Dank für das Gespräch.•


Harald Walach (58), klinischer Psychologe, Philosoph und Wissenschaftshistoriker, ist Professor für Forschungsmethodik komplementärer Medizin und Heilkunde. Er leitet das Institut für transkulturelle ­Gesundheitswissenschaften an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder).

Unbequeme Einsichten eines Wissenschaftlers
Harald Walachs Buch »Spiritualität. Warum wir die Aufklärung weiterführen müssen« ist im Drachen Verlag erschienen. »Weg mit den Pillen! Selbstheilung oder warum wir für unsere Gesundheit Verantwortung übernehmen müssen – Eine Streitschrift« wird demnächst unter dem Titel »Selbstheilung« im Verlag Systemische Medizin aktualisiert neu herausgebracht.

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