Titelthema

Ein Dorf in der Stadt

Das Wirtschaftsexpriment »Lindentaler« sucht seinen Weg.
von Alex Capistran, erschienen in Ausgabe #34/2015
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© Rainer Kühn

»Das Besondere an der Regionalwährung ›Lindentaler‹ ist, dass mit der Zeit Tauschen und Geld in den Hintergrund treten. Stattdessen kommt das Bedürfnis in den Vordergrund, anderen durch die eigenen Fähigkeiten etwas geben zu wollen und Begegnungen entstehen zu lassen. Fast alle Menschen, die ich in meinem Leben regelmäßig treffe, habe ich über den Lindentaler kennengelernt.« Das erzählt Rainer Kühn mit leuchtenden Augen. Der Initiator des alter­nativen Wirtschaftsexperiments hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein Miteinander-Handeln jenseits der kapitalistischen Logik in der Praxis auszuprobieren. Dabei wollen er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter so viele Ansätze verbinden, dass mir schon vom Zuhören der Kopf brummt. Neben bedingungslosem Grundeinkommen, Regiowährung, Schenkwirtschaft oder Commons ist auch »soziale Permakultur« ein Schlagwort, mit dem der Lindentaler geadelt wird. Wie soll das alles zusammengehen?
Im Leipziger »Haus der Demokratie« besuche ich an einem Julitag ein Treffen der Lindentaler-Gemeinschaft. »In der Regel kommen immer um die 20 Leute«, sagt Rainer, während er Tütchen mit Pflanzensamen auf eine Durchreiche legt: »Das ist unser Platz für Dinge, die Mitglieder verschenken. Leider gibt’s heute kein Gemüse.« Hier zeigt sich im Kleinen, dass Schenkökonomie ein angestrebtes Ideal des Lindentaler-Netzwerks ist. Doch ist das im Rahmen der konventionellen Wirtschaft überhaupt möglich?


Mehr als ein »besserer Flohmarkt«
»Ich habe nie verstanden, warum Gruppen, denen es um alternatives Wirtschaften geht, separat ihr eigenes Ding drehen und nur auf einen bestimmten Ansatz setzen«, versucht Rainer, die Komplexität ihrer Herangehensweise zu erklären. »Beim Lindentaler haben wir von all dem genommen, was wir wichtig fanden.« So ist das Lindentaler-Netzwerk eben kein Tauschring, obwohl die Internetseite mit den verschiedenen Angeboten der Mitglieder auf den ersten Blick so wirken könnte. »Tauschringe sind leider meist nur ein besserer Flohmarkt«, kritisiert der Verleger Georg, der es trotz Sommerhitze ins Haus der Demokratie geschafft hat. Die Lindentaler haben da einen höheren Anspruch: Das Projekt versteht sich als Katalysator, um regional geschlossene Wirtschaftskreisläufe zu initiieren, die autonom und für alle existenzsichernd wirken sollen. Das soll insbesondere durch ein bedingungsloses Grundeinkommen für jedes Mitglied befördert werden.
Wie funktioniert es praktisch, so viele Ansprüche unter einen Hut zu bekommen? Technisch betrachtet, ist der Lindentaler ein internetbasiertes Währungssystem, bei dem jede und jeder Interessierte deutschlandweit mitmachen kann, auch wenn es eine Ballung im Raum Leipzig-Halle gibt. Scheine existieren nicht – anders als bei vielen anderen Regiowährungen. Gedrucktes Geld wäre »ein übergroßer Aufwand«, erfahre ich von Rainer. »Sobald du Scheine druckst, hast du keine Ruhe mehr. Bei uns werden monatlich nach der Anmeldung 50 Lindentaler als Grundeinkommen gutgeschrieben, mit denen dann gehandelt werden kann.« Woher kommt dieses Guthaben? Tritt ein neues Mitglied dem Lindentaler bei, werden automatisch 1000 Lindentaler geschöpft – das heißt, die Menge an Lindentalern variiert nach der Anzahl der Mitglieder. Die Summe kann von dem neuen Mitglied als Grundeinkommen über viele Monate aktiv abgerufen werden. Damit der Grundeinkommenstopf wieder gefüllt wird und sich Lindentaler nicht ungenutzt ansammeln, wurde die beim Regiogeld bewährte »Umlaufsicherung« eingeführt: Fünf Prozent des gesamten Lindentaler-Vermögens einer Person werden am Ende des Monats abgezogen und dem Kreislauf zugeführt; Lindentaler gegen Zinsen zu verleihen, ist verboten. Somit wird befördert, dass das Geld fließt. »Nicht die eigentliche Geldschöpfung ist das Problem, sondern das unbegrenzte und unkontrollierte Geldschöpfen der Banken«, kommentiert Rainer.

Das Tauschen vergessen, ins Handeln kommen
Hinter dem Lindentaler steht unter anderem das Anliegen, Geld mit sozialen Beziehungen zu verbinden – oder mehr noch: die Beziehungen an erste Stelle zu rücken und Geld als Tauschmittel eine pragmatische Nebenrolle spielen zu lassen. Auf der Internetseite, die die Angebote der Mitglieder kommuniziert, herrscht einigermaßen rege Aktivität, und in allen Kategorien finden sich Waren oder Dienstleistungen. Ich bin erstaunt über die Vielfalt: Von Rechtsberatung, Mitläufern für Amtsgänge, Kräuterwanderungen, »Crossmedialer Medienberatung« bis zur Trauerbegleitung findet man so manches; in der Produkte-Sektion ist es weniger, aber viel Selbstgemachtes, wie Marmelade, Vollkornbrot und Socken, oder Gebrauchtes, wie Fahrräder, Bücher oder Ikea-Regale.
Wie sieht das konkrete Leben in Lindentaler-Beziehungen aus? Einige in der Inforunde haben am letzten Wochenende über das Lindentaler-Netzwerk einen kostenlosen Sensen-Workshop mitgemacht und flachsen ausgelassen darüber. Ein Handwerker, der neben mir sitzt, erzählt, wie sich Aufträge, die mit Lindentalern bezahlt werden, gestalten können: »Ich habe schon mal einen ganzen Tag mit Elektroherd-Anschließen verbracht, viel erzählt und am Ende fast vergessen, eine Lindentaler-Rechnung zu stellen, weil es einfach eine erfüllte Zeit war. Bei anderen Gelegenheiten wechsele ich aber auch nur ganz fix gegen Lindentaler ein Teil aus, und fertig – wie bei einem Euro-Auftrag.« Rainer geht seit vier Jahren zum Yoga, was er sich ohne Lindentaler nicht leisten könnte. Seine Yogalehrerin ließ sich mittels ihrer Lindentaler-Guthaben Flyer entwerfen. Antje kann nicht nähen und hat sich eine Tasche mit selbst ausgesuchten Motiven von einem textilbegabten Lindentaler-Mitglied anfertigen lassen. Auch Freundschaften habe sie über den Lindentaler geschlossen, erzählt sie. Das kann ich mir gut vorstellen, denn wie skeptisch man auch gegenüber dem Nutzen von alternativen Zahlungsmitteln eingestellt sein mag: Sie sind gemeinschaftsstiftender als normale Währungen. Einer aus der Runde meint: »Der Lindentaler ist für mich wie ein Dorf in der Stadt.«
All das hört sich gut an, in der Praxis scheint der Wirtschaftsfluss aber noch träge zu fließen. Symptomatisch ist die Antwort einer sonst sehr alternativ-aufgeschlossenen Freundin auf die Frage, warum sie nicht beim Lindentaler dabei sei: »Weil ich die Zeit und das Engagement, dort mitzumachen, nicht aufbringen kann und somit das Grundeinkommen gar nicht ausgeben würde.« Da wäre sie nicht die einzige: Bis vor kurzem war die Anmeldung beim Lindentaler kostenlos; so waren immerhin 730 Mitglieder verzeichnet, von denen aber ein Großteil keinerlei Aktivitäten zeigte. Auch wegen des immer größer werdenden organisatorischen Aufwands muss daher seit diesem Jahr ein jährlicher Mitgliedsbeitrag in Höhe von 12 Euro gezahlt werden. Das Problem der Inaktivität ist in alternativen Wirtschaftskreisen leider nur allzu bekannt: »Von über 130 Regionalwährungen, die aus dem Boden geschossen sind, sind 60 wieder verschwunden«, weiß ein Teilnehmer der Runde. Rainer meint, dass meine zaudernde Freundin über den Lindentaler-Marktplatz bestimmt etwas finden könnte, was sie sonst auf dem normalen Euro-Markt erwirbt, aber er räumt ein: »Sicherlich macht es Arbeit, sich mit dem Lindentaler zu beschäftigen, Leute kennenzulernen und auch mal ein Stück zu fahren, um sich etwas Gebotenes zu holen.« Da ich weiß, dass meine Freundin durch Vollzeitjob und Pendeln wenig Zeit hat, kann ich ihre Haltung nachvollziehen. Mein eigenes Engagement in einer solidarischen Landwirtschaft zeigt mir: Allein sein Gemüse auf solidarisch-partizipativem Boden wachsen zu wissen, kann einen schon sehr in Beschlag nehmen. Wollte ich zusätzlich möglichst viele Produkte und Dienstleistungen über den Lindentaler an Land ziehen, brächte das womöglich mein Kapazitätenfass zum Überlaufen. Niemand kann gleichzeitig bei allen alternativen Projekten Leipzigs dabeisein – aber für manche ist das Lindentaler-Netzwerk genau das Richtige.

Das Schielen nach den Euros
Auch wenn sich der Lindentaler als Währung versteht, die komplementär zum Euro Veränderung sanft aus dem Bestehenden wachsen lassen möchte, ist das konventionelle Wirtschaftssystem wohl der Sand im Getriebe des Projekts. Wer an Rainers Kräuterwanderung teilnehmen möchte, kann nur maximal die Hälfte des Preises in Lindentalern zahlen, auch bei vielen anderen Angeboten sind nur anteilige Lindentaler-Zahlungen möglich. Alle Anwesenden sind sich einig: Was sie am meisten davon abhält, verstärkt über den Lindentaler zu wirtschaften, sind ihre »normalen« Erwerbsarbeiten und Alltagssorgen. Sie machen trotzdem mit – aus Idealismus und Pioniergeist. Ein gravierendes Problem ist, dass viele Produkte des täglichen Lebens nur schwer regional erzeugbar sind. Überhaupt sind Produzenten schwer für den Lindentaler zu begeistern. Verleger Georg meint: »Sie haben Angst, überrannt zu werden, wenn sie Waren gegen Lindentaler herausgeben, auf denen sie dann womöglich sitzenbleiben. Aber ich bin dafür, mutig anzufangen und auf die lokalen Strukturen zu vertrauen.« Ein bisschen kämpferisch fügt er hinzu: »Meine Vision ist, dass irgendwann alle Waren, die man zum Leben braucht, über den Lindentaler bezahlt werden können. Deshalb machen wir mit unseren Büchern den Anfang.« Rainer hakt ein: »Aber Georg muss auch seine Druckerei bezahlen. Deswegen kaufe ich bei ihm manchmal bewusst in Euro.«
Als ich in der Woche nach dem Lindentaler-Infoabend eine weitere Freundin auf das Projekt anspreche, sagt sie: »Für mich sind alternative Währungen ein psychologischer Wohlfühl-Trick. Es wäre doch viel sinnvoller, die Energie dafür zu verwenden, ­lokale Produzenten zu stärken. Erst dadurch können selbstverwaltete Kreisläufe florieren.« Es ist richtig, dass auch der Lindentaler primär ein Rahmen für Beziehungen ist, die auch über den Euro funktionieren würden. So scheint es mir von zentraler Bedeutung zu sein, mehr Produzenten ins Boot zu holen, wenn aus dem Lindentaler-Netzwerk umfassendes selbstbestimmtes Wirtschaften hervorgehen soll. Dazu gibt es auch schon Ideen. Rainer berichtet von einem geplanten Laden für regionale Produkte, der als Sammelstelle für Lindentaler-Angebote wirken soll und auch Raum für Treffen und Veranstaltungen bieten könnte. Außerdem gibt es einen in Gründung befindlichen Verein – aus dem später eine Genossenschaft werden soll –, in dessen Rahmen gemeinsam fair und ökologisch produzierte Lebensmittel hergestellt werden könnten.
Gelingt ein wirklich florierendes alternatives Wirtschaften vielleicht nur durch wirtschaftliche Notlagen – wie bei der katalanischen Cooperativa Integral (CIC), über die Jochen Schilk in der Oya-Ausgabe 30 berichtet hat? Ich merke, wie solche Vorbilder den Lindentaler-Leuten Mut geben, weiterzumachen. Über 2000 Menschen nehmen innerhalb der CIC am regen Wirtschaften der Kooperative teil, Nahrungsmittel können ebenso wie Seife oder Möbel voll über eine Regiowährung bezahlt werden, und wer intensiv innerhalb der Kooperative vernetzt ist, kommt weitgehend ohne Geld zurecht. Produktion vor Ort aus regionalen Ressourcen ist die Grundbedingung für das Ziel einer Schenkökonomie, wie sie auch beim Lindentaler angestrebt wird. Doch mittelfristig sind die Leipziger Wünsche eher bescheiden: Für den IT-Fachmann Volkmar wäre es schon viel, »wenn das Finanz­amt die Buchführung mit Lindentalern akzeptieren würde«. »Als Selbständiger gut leben zu können«, ohne vom kapitalistischen Geldsystem abhängig zu sein, wäre das persönliche Ziel für den Handwerker neben mir. Volkmar meint, viele Schwierigkeiten ­wären vergessen, wenn »der Lindentaler ein soziales Projekt der Stadt werden würde«. Die Kommune könnte den Bürgerinnen und Bürgern für ehrenamtliche Arbeit Lindentaler gutschreiben und sie als Zahlungsmittel für den öffentlichen Nahverkehr oder die Trinkwasserversorgung akzeptieren. Ohne solchen Rückhalt sei ein sehr langer Atem gefragt. Wachsen Alternativen auch im satten Mitteleuropa ohne hautnah fühlbare Krisen? Rainer meint nachdenklich: »Ich wollte immer aus der Fülle heraus handeln, doch manches wird wohl erst in der Not entstehen.« •


Alex Capistran (24) lebt in Leipzig und interessiert sich für alternative Bildungsformen, Theater und Formen gemeinschaftlichen Zusammenlebens. Mit dem Team von gewagt.info gibt er Workshops an Schulen; ausserdem studiert er »Philosophie und Spiritualität« an der Cusanus Hochschule.

Nicht nur Leipziger können mitmachen
www.lindentaler.org

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