Titelthema

Wandel kommt von Wandeln

Wie Kunst und ein ästhetischer Sinn transformierend wirken können.von Thomas Oser, erschienen in Ausgabe #32/2015
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Die Art und Weise, wie wir eine Strecke zurücklegen, lässt sich grundsätzlich unterscheiden: Die eine will nur möglichst schnell von A nach B kommen; die andere lässt sich etwas Zeit und hält ihre Augen offen. Sie bemerkt vielleicht, wie die Knospen gerade aufblühen oder wie ein Fremder sie kurz anlächelt. Sie läuft nicht, sondern wandelt eher durch die Landschaft oder eine Stadt. Ihre Wegstrecke verläuft nicht geradlinig, sondern eher – ähnlich dem sich selbst überlassenen Lauf des Wassers – mäandernd.
Wandeln heißt, aus den gewohnten, linearen Abläufen unserer technischen Zivilisation auszusteigen, sich für das zu öffnen, was einem begegnet, und sich von diesem zu »Umwegen« verleiten zu lassen. Die Fixierung auf ein vorgegebenes Ziel weicht dem Einlassen auf einen offenen Prozess.
Ein solches Einlassen hat viel mit einer ästhetischen Haltung zu tun: Wir registrieren und taxieren dann etwas nicht nur, sondern nehmen es wahr, fassen es in seiner Wahrheit auf. Hierfür ist es notwendig, sich vom Getriebe der Alltagsroutinen loszureißen, innezuhalten, bei etwas verweilen zu können und es in Ruhe auf sich wirken zu lassen – Muße nannten das die Alten. Ich entdecke dann, was bisher unbeachtet blieb – beispielsweise, dass auf ein Ahornblatt mit seinen feinen Adern und Rippen ein früher Sonnenstrahl fällt. Ausgehend davon erscheint mir vielleicht bald schon die ganze Welt in einem neuen Licht, irgendwie rätselhaft; ich beginne, mich zu wundern, und stelle Fragen, die zuvor hinter den Mauern der eigenen Konditionierung verborgen waren: Könnte nicht alles ganz anders sein? Schöner? Erfüllender? Hängt nicht alles letztlich auch von mir ab, wenn etwas so und nicht anders ist?
Dieses erste Staunen und Fragen sind die zarten Anfänge aller Kunst und Philosophie: Ohne jene gäbe es diese nie und nimmer.

Hat das Ästhetische eine ethische Kraft?
Die Kunst und ein ästhetischer Sinn wirken transformierend, und jede Wende – sei es die Energie-, Agrar- oder Geldwende – sowie jede technische Innovation sind ohne jene für die Katz. Der 2010 verstorbene Theaterregisseur Christoph Schlingensief hat den Wert der Kunst nicht zu hoch bemessen, als er sagte: »Wer den Raum der Kunst benutzen kann, wird so leicht kein Terrorist.«
Wenn man den Ausdruck »Terrorist« auf jeden Menschen anwendet, der in irgendeiner Form Gewalt ausübt, und Kunst nicht zu eng fasst, dann ergibt sich Folgendes: Die Entwicklung eines ästhetischen Sinns fördert gewaltfreies Handeln deshalb, weil dieser selbst in sich gewaltfrei verfasst ist.
Freilich: Kunst verfährt radikal, geht an die Wurzel und scheint deshalb mitunter auch etwas Gewaltsames an sich zu haben. Man denke nur an den unverfänglichen Fall eines Bildhauers, der die Gestalt aus dem Stein schlägt. Doch das Ästhetische und auch jedes künstlerische Schaffen haben wesentlich mit Achtsamkeit zu tun. Wenn ich mich einem Etwas ästhetisch widme, bin ich mit ihm auch verbunden und möchte es deshalb auch bewahren und fördern – auf keinen Fall zerstören. Einen alten Baum beispielsweise, dem ich ästhetisch begegne, werde ich nicht einfach so abholzen.

Unendliches Wachstum in einer endlichen Welt ist nötig
Ein beträchtlicher Teil der Gewalt, die den Menschen und der Natur heutzutage widerfährt, hängt mit dem ökonomischen Wachstumszwang zusammen. Wachstumskritiker rufen deshalb oft zur Genügsamkeit auf. Selbstverständlich haben sie recht, wenn es um eine Abkehr von der Steigerung des Bruttosozialprodukts, um einen geringeren Verbrauch materieller Ressourcen geht. Zustimmen möchte ich ihnen auch in dem Punkt, dass deren Knappheit oft nur auf sinnloser Verschwendung und ungerechter Verteilung beruht. Nicht recht haben sie dagegen in Bezug auf das, was wir Menschen wirklich für ein gutes Leben brauchen. Von dem, so behaupte ich, gibt es mehr als genug, und wir können – ja, sollten – damit auch entsprechend großzügig umgehen.
Wir haben nicht nur genug fruchtbare Erde auf dem Planeten, um zehn Milliarden Menschen zu ernähren, wie eine aktuelle Studie des WWF sagt, wir haben auch unendliche Möglichkeiten, uns auf einer ästhetischen Ebene zu nähren.
Wenn ich beispielsweise mein Lieblingsstück höre, den zweiten Satz aus Schuberts Streichquintett, habe ich nicht mit einem Mal Hören genug, es drängt mich vielmehr, es mehrmals zu hören, und je tiefer ich in die geheimnisvollen Tonfolgen eintauche, desto intensiver ist seine Wirkung – und immer so fort. Das Werk, das mir in Chiffren einen Blick in eine anders geartete Wirklichkeit eröffnet, ist also unerschöpflich, und ich könnte daran, wenn ich unsterblich wäre, unendlich wachsen.
Die Intensivierung des Kunsterlebens ist ein zwangloses Fortschreiten, weil ich – im Fall der Musik – durch jedes einzelne Hör­erlebnis wahrhaft erfüllt werde. Der Prozess kennt zwar im Unterschied zum Profitstreben kein Ende, aber das bedeutet in diesem Fall kein Leiden, sondern – ganz im Gegenteil – intensivierten Genuss: und zwar deshalb, weil für mich, sofern ich in Muße bin, das permanente Auf-dem-Weg-Sein selbst das Ziel ist.
Im Ästhetischen kann sich mir eine nie versiegende Unendlichkeit erschließen – eine Unendlichkeit, die im Sinn Hegels als eine »wahrhafte« bezeichnet werden kann, weil sie mich wirklich erfüllt. Fehlt diese Dimension im Leben, so laufen wir Gefahr, unser Glück vorrangig im Konsum und im Profitstreben zu suchen. Diese Formen einer »schlechten Unendlichkeit« lassen uns letztlich immer wieder unbefriedigt. Wir brauchen stattdessen Erfahrungen von wahrhafter Unendlichkeit, weil auf diese unser menschliches Sehnen im letzten Grund ausgerichtet ist. Auf dem Feld des Ästhetischen kann sich dieses unter anderem erfüllen. Derartige Erfahrungen sind den Versprechungen der Konsumwelt und des Geldes überlegen.

Die gesellschaftliche Dimension
Doch selbst wenn wir uns, beispielsweise mittels ästhetischer Erfahrungen, von den Systemzwängen zu befreien versuchen, lassen sie sich heute nur schwerlich abschütteln. Der mitunter etwas zu pessimistische Philosoph Theodor W. Adorno hat nämlich auch recht, wenn er sagt: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«
Erstaunlich ist allerdings, dass das System intakt bleibt, obwohl möglicherweise ein Großteil von uns nicht unter dessen Diktat leben will. Fragt man nämlich Menschen, die dem Tod nahe sind, was sie in ihrem Leben versäumt haben, so bekommt man oft zur Antwort, dass sie ihre persönlichen Beziehungen nicht genug gepflegt hätten: Familiäre, erotische, freundschaftliche und soziale Beziehungen stehen auf der Wunschliste der meisten ganz oben.
Der Grund dafür, dass das System funktioniert, obwohl es die Wünsche der Mehrzahl der Menschen missachtet, ist womöglich folgender: Der Satz, dass das Ganze mehr als seine Teile ist, gilt ­leider auch im negativen Fall. Das Ganze hat nämlich bis zu einem gewissen Grad auch dann Bestand, wenn die meisten dagegen opponieren. Man kann auch nicht irgendwelche einzelnen Kapitalisten – und seien sie auch noch so geldgierig – dafür verantwortlich machen. Vielmehr reproduziert das System von sich aus seine auswechselbaren Agenten. Selbst eine wie auch immer geartete Geldwende wäre keine Garantie für echten Wandel, denn die Kräfte, die das herrschende System am Laufen halten, sind tiefer verwurzelt.

Das Potenzial der sozialen Plastik
Was also tun? Wie kann das Ganze transformiert werden? Ehrlich gesagt: Ich weiß es nicht genau. Ich finde alle Initiativen und Gemeinschaften, die zukunftsfähige Alternativen erforschen und erproben, wichtig – wenn sie zugleich auch den inneren Wandel im Blick haben. Darüber hinaus vermute ich, dass es so etwas wie die individuellen Erfahrungen wahrhafter Unendlichkeit, die wir in der Liebe und in der Kunst machen können, auch auf kollektiver Ebene vonnöten ist.
Hierfür kann die Idee der sozialen Plastik, die von Joseph Beuys erstmals formuliert wurde, hilfreich sein. Kunst ist dieser Konzeption zufolge nicht länger »trostspendende Sonntagsveranstaltung« (Adorno) oder dringend notwendige Kompensation, sie verlässt vielmehr die ihr angestammten Räume und gestaltet politische, gesellschaftliche Prozesse mit.
Dem Konzept der sozialen Plastik liegt die Überzeugung zugrunde, dass das künstlerische Schaffen letztlich das Modell für ein menschliches Wirken in der Welt ist, das verantwortungsbewusst die natürliche Evolution fortsetzt, und dass in der Kunst eine anders geartete Wirklichkeit lebt, die letztlich der herrschenden Realität überlegen ist.
Statt diese Gedanken im Allgemeinen fortzuführen, sei mir gestattet, meinen eigenen bescheidenen Beitrag in dieser Sache zu beschreiben: Meine ursprünglichen Metiers sind das Theater und die Philosophie. Beide Disziplinen setze ich als kulturelle Werkzeuge ein: Theaterimprovisation ist für mich Einübung in ein gelingendes Leben, und bei philosophischen Einsichten geht es mir darum, sie auch (er-)lebbar zu machen, womit ich an eine alte Tradition anknüpfe.
In letzter Zeit ist aber vor allem die Stadt, in der ich lebe, zu meinem Aktionsfeld geworden, wo ich unter anderem eine Art Transition-Town-Initiative mit angestoßen habe. Wir binden hier künstlerische Elemente in den Prozess ein: Es gibt Vorträge zu ästhetischen Themen, und zu einem Vortrag über Postwachstums-ökonomie wurde die eigens dafür geschaffene Installation »Des Kaisers neue Kleider« gezeigt; eine Klangkünstlerin stimmte auf ein philosophisches Café ein; eine brasilianische Sängerin wird ein Gespräch über Tiefenökologie mit Liedern über den Gewerkschaftler und Naturschützer Chico Mendes bereichern.
Lokale Kunstschaffende sind für das Projekt wichtig: Erst durch sie wird über das rationale Element hinaus das ganze Spektrum unseres Menschseins angesprochen. Zudem vermag die Kunst wie kaum ein anderes Werkzeug, gemeinschaftliche Räume zu schaffen. In einem Chor zu singen, aber auch Konzerte oder Theateraufführungen – zumal dann, wenn sie inhaltlich und formal das Thema des Wandels aufgreifen – stiften Verbindung. Hier zeigt sich ansatzweise die gesuchte kollektive Funktion der Kunst: Sie erzeugt Resonanzfelder, die einen Vorschein für ein gelungenes gesellschaftliches Miteinander darstellen.
Soweit bewegen wir uns noch weitgehend im Raum der tradi­tionell verstandenen Kunst. Im spezifischen Sinn der sozialen Plastik wirken wir erst dadurch, dass wir auch in unserem alltäglichen und eben unserem politischen Tun künstlerischen Kriterien folgen. Darüber gäbe es viel zu sagen, ich beschränke mich hier auf den kommunikativen Aspekt:
Der Philosoph Martin Buber hat das künstlerische Schaffen als eine Weise dialogischen Handelns beschrieben. Da man als »Transition-Town-Plastiker« vorrangig nicht mehr irgendwelche Werke aus Stein, Farbe oder Noten schafft, sondern soziale und zwischenmenschliche Prozesse mitgestaltet, tritt der dialogische Charakter hier noch deutlicher hervor.
Dies vor Augen, verbietet es sich, sich zum selbstherrlichen Künstler aufzuschwingen – vielmehr ist man einer unter anderen: Mit diesen gemeinsam wird ein neues Beziehungsnetz gewebt. Aber auch wenn das Sich-Zurücknehmen deshalb die erste Devise ist, wird es immer Menschen geben – und das ist keinesfalls zu kritisieren – die starke Impulse aussenden: Sie können Prozesse inspirieren, koordinieren und moderieren, sie bringen Menschen zusammen, achten besonders darauf, dass sich alle möglichst auf Augenhöhe begegnen und dass sie kreativ zusammenwirken, ohne dass jemand über andere herrscht.
Im Grund geht es also um ein im wahren Sinn anarchisches Geschehen, bei dem es vor allem auf das Dialogische ankommt und sich die vielleicht wichtigste Einsicht von Joseph Beuys zusehends bewahrheitet: »Jeder Mensch ist ein Künstler.«
Da Künstler aber mitunter in der Gefahr stehen, in allem, nicht zuletzt in den anderen Menschen, in erster Linie ihr Material zu sehen, soll am Ende Georg Büchner zu Wort kommen. In seiner Erzählung »Lenz« lässt er seinen Protagonisten sagen: »Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen jedes einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen.« •


Thomas Oser (54) ist promovierter Philosoph, Theaterregisseur und Stadtentwickler: Vor kurzem hat er das »Forum zukunftsfähiges Nürtingen« mit auf den Weg gebracht. Die Stadt sieht er als eine soziale Plastik.
www.philosophie-theater.de
www.nuertinger-stattzeitung.de


Mehr zur sozialen Plastik forschen und experimentieren
Die »nn-akademie«, mitbegründet von Thomas Oser und Andreas Mayer-Brennenstuhl, widmet sich dem offenen Raum des »Noch-Nicht«. Mit Kunst und Philosophie möchte sie unterstützen, dass sich im Persönlichen und im Gesellschaftlichen konkrete Modelle herausbilden, in denen Träume von einem zukunftsfähigen und erfüllenden ­Leben wahr werden. www.nn-akademie.de

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