Gemeinschaft

Gemeinschaftswissen für die Welt

Kosha Joubert beschreibt eine Lernpartnerschaft für Menschen, die Veränderung bewirken wollen.von Kosha Anja Joubert, erschienen in Ausgabe #4/2010
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Wieder einmal eine wichtige Konferenz, bei der die Rettung unserer Erde auf der Tagesordnung steht. Mit zwiespältigen Gefühlen erreiche ich das Kongressgebäude. Bestimmt läuft schon das wichtige ­Eingangsreferat, und alle werden gleich zur Tür schauen! Ich trete in den Raum, doch statt der erwarteten peinlichen Stille strömt mir ein Gewirr aus Stimmen und Lachen entgegen. Die Menschen sitzen in kleinen Gruppen an festlich gedeckten Tischen und sind in lebhafte Gespräche verwickelt. Ein Glöckchen erklingt, und die Gruppen werden neu durchmischt. Auf den Tischdecken erkenne ich kunstvolle bunte Skizzen der vorangegangenen Gespräche. Ich setze mich irgendwo dazu und finde mich in kürzester Zeit im kreativen Fluss wieder. Es geht zu wie in der Kaffeepause nach einem inspirierenden Vortrag – daher der Name dieser Tagungsmethode: »World Café«.
Wäre es nicht wunderbar, wenn die Rettung der Welt Spaß machen und die Sinne aller Beteiligten ansprechen würde? In gemeinschaftlichen Zusammenhängen werden seit Jahren kreative soziale Werkzeuge erfunden, erprobt und verändert. Doch die wenigen Gemeinschaftsprojekte sind zu klein, um alleine die Welt zu verändern. Die großen sozialen Bewegungen hingegen halten auf Dauer selten, was sie versprechen. Sie leiden an einem Widerspruch zwischen hehren emanzipatorischen Zielen und zentralistischen oder chaotischen Kommunikationsstrukturen. Immer wieder bringen Reibungen und Unwissen die besten Absichten zum Erliegen.
Im letzten Jahr ist eine Initiative entstanden, die hier einen Beitrag liefern will: die EU-geförderte Lernpartnerschaft »Transition to Resilience«. Sechzehn Menschen aus acht Organisationen und Gemeinschaften treffen sich vierteljährlich über einen Zeitraum von zwei Jahren. Ziel ist es, ein zweijähriges Begleitprogramm für »Change Agents« zu entwickeln – also für Menschen, die Veränderung in ihrer Umgebung initiieren. Aus den Kursen sollen Gemeinschaftsnetzwerke entstehen, in denen durch gegenseitige Unterstützung und Zusammenarbeit der Einsatz der einzelnen einen größeren Wirkungsradius entfaltet.
Seit vielen Jahren bieten die beteiligten Organisationen (GEN-Europe, Damanhur, Findhorn, Sieben Linden, Permakultur Akademie, Transition Town Network UK, Power Down Ireland, Center for Human Emergence und The Hub Network) inspirierende Ausbildungen an. Die Ziele der Kurse ähneln sich: Menschen erhalten einen Einblick in ihr Potenzial, Lebensumstände zu verändern und bewusst zu formen. Allerdings erweist sich die Umsetzung in der eigenen Umgebung dann meist doch als Herausforderung. Viele Change Agents wünschen sich während der Umsetzungsphase einen Gemeinschaftsprozess mit Gleichgesinnten.

Die Heldenreise
Beim ersten Treffen der Lernpartnerschaft im Januar 2010 ging es noch hauptsächlich darum, die Ursprungsvision in der Gesamtgruppe landen zu lassen. Beim zweiten Treffen im März sind wir bereit, weiterzugehen. Wir schauen auf die Qualitäten der bestehenden Kurse. Abläufe werden verglichen, Inhalte kartiert. Landkarten und Straßennetze entstehen vor unseren Augen. Ein Gefühl der Überwältigung ob der vielen Möglichkeiten droht sich auszubreiten. Doch statt ins Chaos abzugleiten, halten wir inne. Wir gehen spazieren und schreiben Gedichte, die den Kern des Unterfangens zu fassen versuchen. Poesie kann Zusammenhänge ausdrücken, die der Verstand nicht zu greifen vermag, und im Zuhören landet die Einsicht: Wir wollen die Reise beschreiben und begleiten, die Menschen machen, wenn sie gemeinschaftlich ihre Welt verändern.
Die von Joseph Campbell beschriebene, aus alten Mythen und Märchen als Archetyp kondensierte »Heldenreise« taucht in unserem Kreis auf. Jede solche Reise beginnt, indem etwas an unserer Tür klopft und wir aufgerufen werden, uns in Bewegung zu setzen. Die Beschaffenheit des Rufs fällt individuell ganz unterschiedlich aus, aber immer klingt mit: »Wach auf! Du wirst gebraucht!« Oft muss der Ruf noch viel lauter werden, zur Krankheit oder zum Schicksalsschlag auswachsen, bevor wir ihm Folge leisten.
Ist der erste Schritt dann endlich ­getan, gibt es oft eine unverhoffte Belohnung. Manchmal wird dem Helden ein magisches Werkzeug in die Hand gegeben. Eine unterstützende Kraft bringt Wind unter unsere Flügel. Langsam, aber sicher werden wir uns der Größe des Unterfangens bewusst, wir merken, dass wir Verbündete brauchen. Gibt es einen Kreis von Freunden, die uns Begleitung schenken könnten? Gibt es vielleicht sogar Mentoren, die die Landschaft kennen? Leider können auch falsche Freunde auftauchen. Lassen wir uns von ihnen aufhalten? Unsere Stärken und Schwächen werden auf der Reise sichtbar werden. Es gibt kein Verstecken, und so begeben wir uns in die Wirren des Lebens und streben unseren Zielen entgegen. Wenn es aber wirklich eine Helden­geschichte sein soll, werden wir unweiger­lich früher oder später an einen Punkt kommen, an dem uns die Kräfte versagen. Alle Selbstzweifel bäumen sich auf – doch wir müssen diesen Abschnitt alleine durchstehen, müssen dem Drachen in die Augen schauen und die Unterwelt der Schatten besuchen. Erst dann werden wir zu wahren Helden. Wir tauchen am anderen Ende auf und haben an Weisheit und Statur hinzugewonnen. In der Rückschau sehen wir klar, an welchen Punkten wir unnötige Umwege gemacht oder überflüssigerweise gekämpft und Schmerzen zugefügt haben. Wir sehen auch, dass all das, was wir als pure Ungerechtigkeit abgetan hatten, nur dazu eingefädelt wurde, uns an diesen Punkt der inneren Größe zu bringen.
Wir sind nun reif dafür, zur Gemeinschaft zurückzukehren. Wir bringen Geschenke, neue Einsichten und Resultate mit. Es ist Zeit für das große gemeinsame Fest und die Segnung der Helden.

Die männliche und die weibliche Reise
Im dritten Treffen im Juni kommt die Frage auf, ob wir eine Übersetzung der Heldenreise in weiblicher Sprache brauchen. Kommen etwa »Geburtswehen« dem Besuch in der Höhle des Drachen gleich? Sind »Hebammen« Mentoren? Gibt es eine Entsprechung, in der alle äußerlichen Waffen weggelegt und stattdessen Imagination und Intuition genutzt werden? Kann statt dem aktiven Erobern neuer Gefilde das Neue magnetisch angezogen werden? Diese weicheren Bilder sollen in dem von uns entwickelten Kurs weitere Entfaltung finden.
Der Kurs soll Change Agents auf einer solchen Reise die nötige Unterstützung bieten. Was könnte geschehen, wenn wir bei den Begegnungen mit dem Drachen nicht aufgeben, sondern zulassen, dass das Leben uns weitet? Im Wissen, dass wir Teil eines solidarischen Netzwerks sind, das praktische Hilfestellungen leistet, können wir viel mehr bewirken als ein Einzelkämpfer. Die anvisierten zwei Jahre Begleitungszeit passen für die Größenordnung dieser Veränderungsprozesse. Zwischen den Fünf­tagesmodulen pro Vierteljahr bereisen die Teilnehmer die von ihnen initiierten Projekte. Wir lernen im direkten Kontakt mit der Welt. Die Module sind wie Versammlungsorte auf einer gemeinsamen Abenteuerroute. Hier werden Freundschaften vertieft, Mentoren in Anspruch genommen und die eigenen Batterien aufgeladen.

Mustersprache statt Lehrplan
Die Begleitung einer solchen Reise kann keinem strikten Lehrplan folgen. Um den Prozessverlauf jederzeit optimal unterstützen zu können, benötigt sie eine große Bandbreite an hilfreichen Methoden und Expertenwissen. Deswegen haben wir uns entschieden, das Curriculum in Form einer Mustersprache statt in Form von ausformulierten Konzepten zu entwickeln. Eine Mustersprache beschreibt den Kern einer Lösung auf eine Art, die sie übertragbar macht für die Lösung vieler ähnlicher Probleme. Gerade die Einfachheit und Eleganz des Musters, das sich hinter dem Einzelfall verbirgt, wirkt bestechend und klärend.
Die »Heldenreise« stellt das zentrale Muster des Kurses dar. Wir wissen, dass am Anfang die Visionen der einzelnen entwickelt und mit anderen vernetzt werden müssen. Es werden flexible Gruppen entstehen, die an Projekten gemeinsam arbeiten. Wir wissen auch, dass Projekte nur dann zum Erfolg gelangen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Deswegen brauchen wir Feedback aus der Öffentlichkeit, aus der größeren Welt. Zum Abschluss des Kurses könnte z. B. die Veranstaltung eines groß angelegten World Cafés stehen oder eine Ausstellung das Entstandene dokumentieren.
Der Kurs möchte den Einzelnen (das »Ich«) darin unterstützen, zu lernen, im Zusammenspiel mit anderen (dem »Wir«) für die Transformation unserer Gesellschaft (der »Welt«) wirksam zu werden. Immer wieder wird in unserer Lernpartnerschaft die Kraft einer kollektiven Weisheit spürbar, die erst entsteht, wenn jeder einzelne bereit ist, sich Neuem zu öffnen und Aspekten zu lauschen, die nur am Rand der eigenen Wahrnehmung auftauchen. Geistesblitze brauchen zu ihrer Entstehung einen Raum des gegenseitigen Vertrauens. Letztlich zeichnen wir in diesem gemeinsamen Krea­tionsprozess den Ablauf und Charakter des Kurses selber vor.
Im Juni 2011 soll das fertige Curriculum zur Verfügung stehen, erste Kurse starten dann im darauffolgenden Herbst.
Auf dass die Kreativität der Zivilgesellschaft zum Ausbruch komme! 


Kosha Anja Joubert (41) ist Vorstandsmitglied des Global Ecovillage Network und hat den Ecovillage-Design-Education-Kurs mitentwickelt.

Internetseiten zu Empowerment-Initiativen
www.transitionnetwork.org
www.ecovillage.org
www.artofhosting.org
www.dragondreaming.info
www.gaiaeducation.org
www.humanemergence.org
www.the-hub.net  

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