Titelthema

Widerstand wirkt!

Vergangenheit und Zukunft der Freien Republik Wendlandvon Dieter Halbach, Dieter Schaarschmidt, erschienen in Ausgabe #4/2010
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Dieter Halbach Wir kennen uns nun seit über 30 Jahren. Bei der Gründung der »Freien Republik Wendland« im Mai 1980 waren wir beide dabei. Seitdem habe ich den Traum vom eigenen Dorf in ­Sieben Linden verwirklicht, und du bist weiter im Widerstand gegen das Atommüll-Endlager Gorleben aktiv. Mich interessieren heute die Auswirkungen dieser Widerstands-Kultur. Schon 1977, zu Beginn der Atompläne, wurde im Wendland unter dem Motto »Gorleben soll leben« für eine alternative regionale Entwicklung geworben. In dem Aufruf wurde die Gründung von Energiegenossenschaften, Biobetrieben und freien Schulen vorgeschlagen, nur leider kamen diese Vorschläge hauptsächlich von zugereisten Intellektuellen und nicht von den Einheimischen. Was ist inzwischen daraus entstanden? Sind die 33 Tage, die wir den Platz der Tiefbohrstelle 1004 besetzt hielten und die Freie Republik ausriefen (siehe Kasten Seite 23) nur noch Geschichte? Was ist angekommen im Wendland von den Utopien und der Gründungszeit der Freien Republik?


Dieter Scharschmidt Ich erlebe, dass diese Zeit der Freien Republik Wendland heute wieder für viele verstärkt eine Inspirationsquelle ist. Direkt nach der gewaltsamen Räumung war erst einmal viel Frustration und Resignation zu spüren. Auch Verzweiflung nach dem Motto: Jetzt hilft gar nichts mehr! Doch je weiter ein Ereignis zurückliegt, desto größer wird sein Mythos, aus dem sich auch wieder Kraft schöpfen lässt. Ich merke das daran, dass die Autoaufkleber für die Freie Republik Wendland wieder Hochkonjunktur haben.

DH Und die Wendenpässe? Werden die auch noch ausgestellt?


DS Ja, vereinzelt. Es sind nicht mehr so viele.


DH Ich habe meinen nämlich verloren …


DS Oh, dann muss ich dir einen neuen besorgen! Du kriegst einen originalen Stempel mit originalem ­Datum.


DH Wunderbar. Ich erinnere mich an die große Wirkung dieser Pässe. Meine Freundin hat damals auf dem Weg nach Berlin an der Grenze zur DDR den Wendland-Pass gezeigt. Da wurde sie in das Büro des höchsten Grenzoffiziers berufen und befragt, ob mit der freien Republik Wendland vielleicht Politik zu machen wäre.


DS Ja, die wollten diplomatische Beziehungen zu uns aufnehmen.


DH Nach 30 Jahren gibt es gewissermaßen eine »innerstaatliche« Anerkennung der Freien Republik. Der stellvertretende Landrat hat im Mai dieses Jahrs zur Einweihung der Gedenkstätte in der Schutzhütte auf dem Platz, den die Republikgründer besetzt hielten, eine Rede gehalten: Es sei ihm eine große Ehre, dass er diese Hütte einweihen und so an die Freie Republik erinnern dürfe. Das heißt, es ist etwas passiert!


DS Ja, früher war das Wendland ein schwarz-brauner Fleck auf der Landkarte, mit konservativer Mehrheit. Das hatte mit den Ausschlag gegeben, den Landkreis als Entsorgungsstandpunkt auszuwählen. Man wähnte sich sicher, dort keine Probleme mit der Bevölkerung zu bekommen. Dass sich jedoch gerade die Konservativen am widerspenstigsten zeigen, ist ja auch eine Erfahrung aus dem bayerischen Wackersdorf, wo Widerstand die dortigen Atompläne zunichte gemacht hat.
Ich vergleiche das Wendland immer mit der Bewegung um das geplante Atommülllager im »Schacht Konrad«. Schacht Konrad bei Salzgitter liegt ja inmitten einer Metropolenregion mit Millionen von Einwohnern. Obwohl die VW-Mitarbeiter und die Gewerkschaften recht aktiv waren, ist nie eine vergleichbare Widerstandsbewegung zustande gekommen, vielleicht weil die dort lebenden Menschen eher »Industrienomaden« sind, also ihrer Arbeit hinterherziehen, während im Wendland Menschen seit Jahrhunderten ihren Boden bewirtschaften und stark verwurzelt sind. So war es auch bei der gräflichen Familie von Bernstorff, die gesagt hat: »Wir sind jetzt seit 250 Jahren hier, und unsere Familie hat beschlossen: Wir werden nicht verkaufen!« Sie haben ein Angebot von 30 Millionen ausgeschlagen und sind bis heute eine wichtige Gruppierung im Widerstand. Graf Bernstorff sollte von der CDU ausgeschlossen werden und ist dem zuvorgekommen, indem er die unabhängige Wähler­gemeinschaft gegründet hat. Sie ist heute eine von fünf Gruppierungen, die seit Jahren die Mehrheit im Landkreis haben und jetzt auch den Landrat stellen. Alle zusammen nennen sich »Gruppe X«, und ihre Hauptgemeinsamkeit ist der Protest gegen Atomanlagen. Über die anderen Themen kriegen Sie sich immer in die Haare.


DH Was passiert denn da, wenn konservativ eingestellte Menschen ihre Heimat schützen wollen und gleichzeitig mit sogenannten alternativen Spinnereien konfrontiert werden, dass man doch anders viel besser leben könne? Wenn die Biografien und Ideen so unterschiedlich sind – hat sich das gegenseitig befruchtet?


DS Die klaren Fronten, die es früher gab, haben sich zum Teil aufgelöst. Noch immer gibt es Gräben zwischen den verschiedenen Gruppierungen. Aber es gibt viele, viele Beispiele, bei denen Landwirte Studentinnen oder Studenten Landwirtinnen geheiratet haben. Oder Städter sind auf die alten Höfe gezogen und haben ihr bisheriges Leben auf den Kopf gestellt. Michael Seelig hat ein nettes Büchlein mit 24 Porträts von Leuten, die ins Wendland gekommen sind, herausgegeben. Es zeigt, was Menschen bewegt, in so eine verlassene Gegend zu ziehen. Michael ist auch Werklehrer und Künstler und betreibt den Werkhof Kukate. Über 20 Jahre hat er dort den Pfingstmarkt organisiert. Dann hatte er die Idee, ein Zeichen der Lebendigkeit und der vielen kreativen Ansätze hier jenseits der Protestaktionen zu zeigen. Das war die Geburtsstunde unserer mittlerweile bundesweit bekannten kulturellen Landpartie. Mittlerweile strahlt das ganze Wendland zwischen Himmelfahrt und Pfingsten im festlichen Glanz. In allen Dörfern gibt es Kunst und Lebensfreude pur.


DH Ja, ich war auch wieder dabei und hatte mehrere Auftritte mit meiner Band. Der Reiz der kulturellen Landpartie für mich und viele andere war, aus der eigenen Szene oder dem eigenen großstädtischen Ghetto einmal herauszukommen und diese Vielfalt und Bodenständigkeit eines ganzen Landstrichs zu erleben. Der Widerstand wurde durch diese Kraft überhaupt erst möglich. – In welchen Lebensbereichen sind denn weitere Veränderungen im Wendland entstanden?


DS Da fange ich gleich mit mir selbst an. Ursprünglich habe ich eine Lehre als Biolandwirt absolviert und bin gleichzeitig Naturschützer und Vogelfreund gewesen. Deshalb kannte ich das Wendland von seinen schönen Seiten, von seiner Natur her. Ich war auch schon vor Gorleben politisch in der Anti-Atom-Bewegung aktiv und bin dann bewusst mit dem Ziel, die Atomanlagen aufzuhalten, ins Wendland gezogen. Nach der Zeit der Freien Republik Wendland habe ich mich für eine Umschulung zum Zimmermann entschieden, bei einem eingesessenen Zimmermannsbetrieb in Gartow. Der ist mittlerweile bundesweit als alternativer Zimmereibetrieb bekannt, weil er Tradition und Moderne verbindet. Beispielsweise ist er offen für Strohballenbau und pflegt auch die gute alte Zimmermannstradition des Mondholzes.
Auch der Biolandanbau ist eine direkte Folge der Politisierung der Landwirte durch den Protest. Heute existiert hier die höchste Dichte an Biobauern in ganz Deutschland. Und so geht es immer weiter: Wenn ich gegen Atomstrom bin, will ich auch keinen Atomstrom beziehen. Wenn ich bestimmte Konsumprodukte nicht will, muss ich mich dafür einsetzen, dass anders produziert wird. So hat tatsächlich eine breite Bewegung ihre Initialzündung im Anti-Atom-Protest gefunden.


DH Du hast dich inzwischen auf den Energiesektor fokussiert. Was wir damals auf dem Platz noch selber gebastelt haben, hast du mit der Genossenschaft WendlandWind professionalisiert und die ersten großen Windanlagen im Wendland gebaut.

DS Ja, wir haben solche Bürgerbetreibergesellschaften gegründet. Heute halten gut 300 Menschen daran Anteile. Morgen ist wieder Jahreshauptversammlung. Das läuft jetzt seit 20 Jahren und gab auch die Initialzündung für das Vorhaben, die gesamte Region zu 100 Prozent auf erneuerbare Energien umzustellen. Diese Projektidee kam mir vor zehn Jahren, als ich arbeitslos war und mich selbständig machen wollte. Damals wurden erstmals EU-Regionen und Gemeinden gesucht, die Energieautarkie zum Ziel hatten, und ich reichte bei der EU meine Projektskizze ein. Im Jahr 2000 sind wir dann in Toulouse als beste Region Europas auf dem Weg zu 100 Prozent eigener Energie ausgezeichnet worden. Im Gegensatz zu anderen Regionen hatten wir den Ansatz, die Bürger zu aktivieren und die Veränderung von der Basis her einzuleiten.


DH Hat sich auch die offizielle Politik im Wendland inzwischen Energieautarkie auf die Fahne geschrieben?

DS Der Landkreis hat die Bewerbung bei dem EU-Wettbewerb politisch sogar einstimmig beschlossen. Allerdings werden die damals ausgearbeiteten Pläne zu meinem Bedauern nicht mit der Intensität umgesetzt, wie ich es mir wünsche. Vor allem die Verwaltungen in den Kommunen und beim Landkreis machen im üblichen Trott weiter. Ein Beispiel: Die Schulen sollen auf erneuerbare Energien umgestellt werden. Dann wird einem von den Verwaltungsleuten vorgerechnet, dass Gas im Moment deutlich billiger ist, und schon wird mit einem Verweis auf die Haushaltslage wieder ein zukunftsfähiges Projekt zunichte gemacht.
Was jetzt Stück für Stück gelingt, ist die Kommunalisierung der Stromnetze, so dass die Menschen sich selbst wieder für die eigenen Dinge verantwortlich fühlen.

DH Was ist für dich der nächste Schritt?

DS Im Bereich Strom brauchen wir meines Erachtens nicht mehr viel zu tun. Das ist ein Selbstläufer durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz. Das Wendland dürfte jetzt bei 70 bis 75 Prozent erneuerbaren Energien im Stromnetz sein, aber im Bereich Treibstoff, Wärme und Heizung werden wir kaum solche Eigenständigkeit erreichen.


DH Der öffentliche Nahverkehr …

DS … ist immer noch ein Riesenproblem wie überall im ländlichen Raum. Immerhin gibt es Ruf- und Sammelbusprojekte. Der größte Lichtblick ist die erste Biogastankstelle. Da wir einen sehr hohen Anteil an Bio- und Erdgasfahrzeugen haben, gibt es dazu jetzt eine Kooperation mit VW. Bisher existiert ja nur ein synthetischer Treibstoff, der auch aus Biomasse hergestellt wird. Mit viel Energie wird also Bioenergie produziert, die kein Bauer selbst herstellen kann, damit das Monopol nicht gefährdet ist. Unser Biogas kommt aber von den Bauern in der Region.
Bei Biogas gibt es einen Preisvorteil für den Nutzer, so dass der Umstieg nicht nur einen ökologischen Anreiz hat, sondern auch einen ökonomischen. Das bringt eine Dynamik mit sich, die Breitenwirkung hat.


DH Weil du ein so praktischer Visionär bist, würde ich von dir gerne noch hören, wie du dir das Wendland in 20 bis 30 Jahren vorstellst? Optimistisch gesehen!


DS Ich denke, es wird dann nicht nur im Wendland das bedingungslose Grundeinkommen geben. Die Kreativität in dieser Region würde dann noch besser zum Tragen kommen. Was wir einmal im Jahr mit der kulturellen Landpartie haben, könnte noch stärker Alltag sein. Und ich bin sicher, dass dieses atomare Endlager in Gorleben nie gebaut wird! Wir werden diesen Salzstock in einen Heilstollen umbauen – Lebensstrahlen statt Todesstrahlen! Bei der letzten kulturellen Landpartie gab es einen Ideenwettbewerb: Was machen wir mit dem Salzstock, wenn das Atomthema beendet ist?
Ich organisiere gerade Reisen nach Berchtesgaden und nach Krakau in die beiden bestehenden Heilstollen, damit die Leute sehen und buchstäblich begreifen können, dass so etwas funktioniert, dass dort Gesundheits-Tourismus entstanden ist. Wellness­urlaub, ganzheitliche Heilung, Kuraufenthalte und »Gesundheitshäuser« wären auch etwas fürs Wendland. Was da zur Zeit als Atomanlage verbarrikadiert herumsteht, lässt sich kreativ nutzen.


DH Wäre ein Heilort im Zentrum der Todesindustrie im Salzstollen, der für Millionen Jahre strahlenden Atommüll aufnehmen soll, wirklich umsetzbar?


DS Ja! Genau das brauchen wir. Die Heilwirkung der Stollen geht von der großen Masse von Salz aus, die sie umgibt. Die Frequenz dieser Salzmasse ist genau die Frequenz, die der Mensch natürlicherweise braucht, um zu gesunden. Diese Strahlung ist so stark, dass sie bei Hautallergien, asthmatischen Krankheiten und vielen anderen Krankheitsbildern heilend wirken kann. In den bestehenden Heilstollen wird diese therapeutische Wirkung bereits angewendet, und wenn ich das Endlager für einen Euro kaufen kann, kann ich auch einen Heilstollen wirtschaftlich betreiben.


DH Das wäre dann das vollendete »Gorleben soll leben«. Das begeistert mich: heilende Strahlen statt Atomstrahlen. Ein echtes Zukunftsprojekt! Ich danke dir für dieses inspirierende Gespräch!

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