Gemeinschaft

Die Suche nach kollektiver Weisheit

Der »WIR-Prozess« setzt auf die Selbststeuerung einer Gruppe.
von Gabriele Kaupp, erschienen in Ausgabe #29/2014
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© photocase.com – nonkonformist

 »Wie kommt das Neue in die Welt?«, »Wie kann jeder und jede einzelne beim ›Großen Wandel‹ (Joanna Macy) hin zu einer Kultur des friedlichen und schöpferischen Miteinanders mitwirken?«, »Wie kann dieses ›Neue Wir‹ entstehen?« – Das sind Fragen, die mich in meinem langen Gemeinschaftsleben und bei der Begleitung von Gruppen immer beschäftigt haben.
Beim aktuellen Blick in die Welt könnte es zum Beispiel bedeuten, denen, die an unsere Tür klopfen und um Hilfe bitten, ganz selbstverständlich zu öffnen und mit ihnen unseren Reichtum und Überfluss zu teilen. Was wäre, wenn wir die Flüchtlinge nicht mehr als Fremde betrachteten, sondern als Teil der großen Menschheitsfamilie? Es könnten sich wohl jeweils drei Familien zusammentun und einer Flüchtlingsfamilie beim Ankommen in der Fremde helfen. Wir haben genug, um zu teilen, auch genug Platz – ganze Landstriche stehen leer!
Die Erde – eine große Gemeinschaft. Welch wunderbare Vision! Doch wie gelangen wir dahin?

Authentisch werden
Als ich vor zehn Jahren am Gemeinschaftsbildungsprozess nach Scott Peck im Ökodorf Sieben Linden teilnahm, war ich sofort von der Einfachheit, vom Forschergeist und der Ernsthaftigkeit des »Community Building« begeistert – und das ist bis heute so geblieben.
Scott Peck nennt den im Gemeinschaftsbildungsprozess bewusst kreierten Forschungsraum »Laboratorium für persönliche Abrüstung«. Gemeint ist damit ein ehrliches Miteinander. Dieses bedarf der wahrhaftigen Kommunikation – jenseits von Hierarchie und Verteidigung. Peck sieht den Aufbau von authentischer Gemeinschaft sogar als »wichtigste Voraussetzung zur Rettung der Welt«, da erst die Erfahrung eines friedvollen Miteinanders die Vision von einer brüderlichen und schwesterlichen Welt des Teilens möglich machte.
Um dahin zu gelangen, sind der Wille zur Gemeinschaft trotz aller Verschiedenheit und auch die Bereitschaft, um die persönliche Wahrheit zu ringen, nötig. Das schließt die verdrängten und beschönigten Aspekte unseres Menschseins ein, die Schatten, die – wenn sie ausgesprochen werden – das Risiko beinhalten, nicht verstanden, nicht geliebt, ja: abgelehnt zu werden. Meist geschieht jedoch das Gegenteil: Annahme. Doch genau dafür braucht man den Mut, sich mit allen Facetten zu zeigen. So lautet eine der wichtigsten Empfehlungen für den Prozess: »Riskiere etwas!«
Zwei Menschen fungieren als eine Art »Reisebegleitung«. Sie übernehmen jedoch keine Führung und Leitung im üblichen Sinn, da die Verantwortung für das Gelingen des Prozesses jedem einzelnen Gruppenmitglied paritätisch zugesprochen wird. Es ist spannend, welches Potenzial sich in den Menschen zeigt, wenn es niemanden mehr gibt, der vor­angeht, keine mehr, die vorgibt zu wissen, wie »es« geht oder wie der Karren aus dem Dreck zu ziehen ist – das ist vielleicht die derzeitig ehrlichste Standortbestimmung der menschlichen Spezies.
Die Erfahrung von wirklicher Gemeinschaft, die auf Solidarität, ehrlicher Kommunikation und einem liebevollen Miteinander beruht, ist in unserer Gesellschaft größtenteils verlorengegangen; sie wurde und wird höchstens in Katastrophen- und Krisenzeiten erlebt. Scott Peck hat die Frage erforscht, wie sich dieser besondere Gemeinschaftsgeist willentlich herstellen lässt. Sein Motiv hierfür: »Ich habe begriffen, dass wirkliche Gemeinschaft Heilung bedeutet«, sagte er. »Es ist der Raum, den jeder braucht, um seine Schritte zu tun und vertrauen zu können.«

Abenteuerliche Reise
Eine Gruppe von Menschen verspricht sich, für einen bestimmten Zeitraum, etwa ein Wochenende, gemeinsam am Ball zu bleiben, nicht wegzulaufen, wenn es schwierig und zäh wird, und sich an den vorgegebenen Kommunikationsempfehlungen zu orien­tieren. Diese weisen darauf hin, die eigenen Impulse zu erforschen und mitzuteilen sowie die Verantwortung nicht nur für den »persönlichen Erfolg« als auch für das Gelingen des Gesamtprozesses zu übernehmen. Des Weiteren halten die Empfehlungen dazu an, nur zu sprechen, wenn es ein inneres Bewegtsein gibt; in der Ich-Form zu sprechen; nicht zu dozieren oder zu analysieren; keine Ratschläge zu geben; ein Wagnis einzugehen (»Take a risk!«); und den Wert von Stille anzuerkennen.
Für die dreitägige gemeinsame Reise benutze ich gerne das Bild eines Schiffs, das am Freitagabend ablegt, ohne Kapitän und Reise­route. Immerhin gibt es zwei Menschen, die diese Art von Reise schon öfters gemacht haben – aber auch sie wissen letztlich nicht, auf welchem Schiff sie gelandet sind, welche Crew an Bord ist, wie das Wetter wird und aus welcher Richtung der Wind bläst. Das Einzige, was alle Passagiere verbindet, ist die Sehnsucht nach so etwas wie »Gemeinschaftsgeist«, der über das individuelle Wohlbefinden hinausreicht und der sich nach Heimat, Ankommen und Verbundenheit anfühlt, nach einem Miteinander, das auf Vertrauen und Achtsamkeit basiert: sozusagen nach dem »gelobten Land«.
Nach einer kurzen Einführung der Begleiter mit der Vorstellung der Kommunikationsempfehlungen beginnt die Reise: Das Schiff verlässt den Hafen. 20 bis 40 Menschen sitzen für drei Tage im Kreis und lassen sich auf das Abenteuer Gemeinschaft ein. Sie können sowohl die Mitglieder einer schon bestehenden Gruppe sein als auch Menschen, die sich nicht kennen und sich selbst im Kontext Gemeinschaft näher kennenlernen möchten.
Der Anfang ist ein spannender Moment. Wer spricht als erster, und welchen Impuls setzt sie oder er für den, der als nächster sprechen wird? Wer spricht, steht für einige Zeit am Steuer des Schiffs der »Gruppe aus lauter Kapitänen«, setzt Impulse, bestimmt die Richtung, bis der oder die nächste übernimmt.

Stationen
Im Verlauf des Prozesses können in der Regel verschiedene Phasen wahrgenommen werden. Der Anfang der Gruppe ist meist harmonisch, alle zeigen sich von ihrer freundlichen Seite, es werden Allgemeinplätze ausgetauscht, Geschichten erzählt, es wird über andere gesprochen. Die Grundhaltung ist: Wir sind alle gleich, wollen dasselbe, gehören zusammen, zumindest für einen gewissen Zeitraum. Die individuellen Unterschiede bleiben noch im Hintergrund. Scott Peck nennt diesen Kommunikationsmodus »Pseudogemeinschaft«. Er schreibt dazu: »Die langweilige Höflichkeit der Pseudogemeinschaft ist ein Vorwand, um Konflikte zu umgehen.« Das Schiff dümpelt also vor sich hin, es kommt kein rechter Wind auf. Durch Kommunikationsempfehlungen wie »Sprich von dir!« oder »Sprich nur, wenn du wirklich bewegt dazu bist!« wird diese Art der Kommunikation schnell offensichtlich, wird langweilig, ja bisweilen sogar unangenehm.
Damit beginnt meist die »Chaosphase«, die von der Unterschiedlichkeit der Teilnehmer gekennzeichnet ist: Persönliche Weltanschauungen, Lebenshaltungen und Verhaltensmuster prallen aufeinander; damit verbunden sind Gefühle wie Wut, Angst, Schmerz und Freude. Vorwürfe, Angriffe und gegensätzliches Erleben scheinen jegliches Zusammenkommen unmöglich zu machen. In dieser Phase helfen die beiden Empfehlungen »Take a risk!« und »Bleibe bis zum Schluss!«, um den Raum zu halten. Die Phase des Chaos ist notwendig, um »leer« zu werden und sich von allen Hindernissen der Verständigung zu befreien. Hier kommt in erster ­Linie einmal all das zum Vorschein, was nicht Gemeinschaft ist, all das, was trennt und zwischen den Menschen steht. Es ist im Normalfall anstrengend und zäh, einfach zum Davonlaufen – dennoch lohnt es sich (meistens) zu bleiben!
Inmitten von Chaos und Ringen kann urplötzlich die Wende eintreten. Vielleicht spürt jemand seinen Schmerz und hat den Mut, dies offen zu zeigen. Es wird still im Raum. Dies ist oft ein Moment, in dem es sich anfühlt, als ob die ganze Gruppe langsam beginne, sich von außen nach innen zu wölben und zu lauschen.
Jetzt beginnt eine neue Phase, die der »Leere«. Wenn eine Gruppe sich zur Leere hinbewegt, beginnen einige, das Risiko einzugehen, wahrhaftig über sich selbst zu sprechen, über ihre Niederlagen, Verletzungen, Zweifel, Ängste. Was aber ist zu tun, wenn auf einmal Tränen fließen und Verletzlichkeit im Raum ist? Und wenn es – laut Empfehlungen – nicht mehr darum geht, zu trösten, zu analysieren, zu dozieren, zu heilen oder Ratschläge zu erteilen? Jetzt glätten sich die Wogen. Ein Lauschen nach innen auf die eigenen Impulse, die vielleicht ganz leise anklopfen, setzt ein.
Ankommen im Hier und Jetzt – manchmal ist das wie eine sanfte Ruhe, die sich über die Gruppe senkt. »Authentische Gemeinschaft« ist nun möglich, ist erfahrbar: Jemand erzählt etwas aus seiner Tiefe, sehr persönlich. Die anderen sind ganz wach, hören zu. Es gibt keinen Impuls mehr, zu bekehren, zu ändern, den »eigenen Senf dazuzugeben«. Zwischen den einzelnen Beiträgen ist Stille und Innehalten – eine wunderbare Erfahrung von »Dazugehören«, von Einfachheit und Stille. In solchen Momenten ist es, als ob sich der Raum vergrößert hat und ein Geist spürbar wird, der über das individuelle Gruppenbewusstsein hinausgeht. Wir können es »Liebe« nennen oder auch die »Kraft der kollektiven Weisheit« an der Schwelle zu einem »neuen Wir«.

Was bleibt
Auch wenn die Gruppe nicht zusammenbleibt, sondern am Sonntagmittag wieder auseinandergeht, so nimmt sie doch den Geschmack von Gemeinschaft mit und das große Geschenk, das dar­in verborgen liegt. Sie hat die Notwendigkeit des Sich-Einlassens erfahren und die Bereitschaft gezeigt, immer wieder gemeinsam durchs Nadelöhr zu gehen, was oft zähes Ringen und Arbeit bedeutet – jenseits von jeglicher Romantik und Idealisierung.
Ein guter Realitäts-Check für Gemeinschaftsinteressierte! 


Gabriele Kaupp (55) lebt am Bodensee und in der Gemeinschaft Schloss Tempelhof. Sie ist als Facilitatorin für »WIR-Prozesse« und Gemeinschaftsbildung, Visionssucheleiterin und Trainerin für angewandte Tiefenökologie tätig. Kontakt: gabriele.kaupp@gmx.de


Interessiert am WIR-Prozess?
www.gemeinschaftlich-leben.net
www.schloss-tempelhof.de

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