Titelthema

Wo Spaghetti im Winde wehen

Mit Kindern kochen und schmausen – ein genussreicher Ausflug.von Wolfram Nolte, erschienen in Ausgabe #29/2014
Photo
© Katharina Ziegler

Es begann damit, dass ein Freund mir ein Kochbuch aus Tirol mit dem Titel »Sinnesschmaus« mitbrachte. Der Inhalt hielt, was der Titel versprach. Viele, oft ganzseitige, ­Fotos zeigen die kreative Freude von Kindern bei der Zubereitung von Speisen und beim gemeinsamen Genießen.
Das Buch handelt von zwei Familien, die sich immer wieder treffen, um gemeinsam mit ihren Kindern zu kochen. Was so einfach klingt, zog mich beim Blättern durch die Geschichten, Aphorismen, alten Legenden und Rezepte in seinen Bann. Als ich erfuhr, dass dieses Buch nur direkt vor Ort zu beziehen ist, wuchs mein Interesse weiter. Mein Entschluss stand fest: Ich wollte diese Eltern und Kinder kennenlernen und beim Sinnesschmaus dabei sein!

Im Garten Kunterbunt
Als meine Lebensgefährtin und ich in Rieden bei Reutte eintreffen, scheint die Sonne. Das große Ereignis kann also im Garten stattfinden. Wir suchen in diesem kleinen Tal, umgeben von Wald und hohen Bergen, nach einem weiß getünchten Hof. Das muss der Garten sein! Ihn umgibt ein selbstgebauter, hoher Holzzaun mit einem bunten Tor, davor ein Schild mit einem laufenden wilden Mädchen – offenbar eine Warnung an die Autofahrer: »Vorsicht, hier spielt Pippi Langstrumpf!« Als wir durch das Tor spähen, sehen wir zwei Kindertipis, ein Holzpferd und an hohen »Huanzen«, auf denen sonst das Heu trocknet, Spaghetti und Tagliatelle im Winde wehen. Ein langer Tisch ist schon gedeckt. Um ein prasselndes Feuer sitzen mehrere Kinder und kneten Teig. Als erster begrüßt uns ein riesiger, schwarz-brauner Hund auf seine gutmütige Neufundländer-Art. Sogar unsere irische Wolfshündin Lucy ist beeindruckt, endlich einmal einem ähnlich großen Artgenossen zu begegnen. Dann heißen Christine und Katharina, die Herausgeberinnen des »Sinnesschmaus«-Buchs uns willkommen.
Zu den Protagonisten des Buchs müssen wir uns schon selbst ans Feuer begeben. Hier lernen wir Katharinas Kinder Laurenz (4), Paula (8), und Nora (15) kennen. Aaron (13) und Samuel (16) sind Christines Kinder, die sie als Kleinkinder adoptiert hat.

Die Seele ernähren
Christine und Katharina führen uns zu einem anderen langen Tisch in der Nähe des Hauses, ein wenig abseits von den beschäftigten Kindern, damit wir in Ruhe sprechen können. Wir erfahren, dass die beiden Frauen sich schon seit 21 Jahren kennen. Katharina suchte damals eine Tagesmutter für ihre Tochter, weil sie eine Ausbildung zur Food-Fotografin absolvierte. An diese Zeit erinnert sie sich gerne: »Christine hat früher ein Restaurant geführt. Bei ihr gab es immer großartiges Essen und – weil sie oft mehrere Tageskinder hatte – auch immer einen voll besetzten Tisch.« Diese Liebe zu einer großen Tischgemeinschaft scheint Christine aus ihrer Familie mitzubringen. Noch heute lädt ihre 83-jährige Mutter die ganze Familie und deren Freunde jeden Samstag zu einem gemeinsamen Essen ein. Da können bis zu 20 Personen zusammenkommen.
Christines und Katharinas Familie treffen sich nicht regelmäßig, aber oft – zu festlichen Anlässen und ganz spontan, wann immer ihnen danach ist, sei es zum Feiern oder zum Mutmachen. »Wir sind keine Lebens-, sondern eine Unterstützergemeinschaft«, betont Christine. Ihre Männer, die Kinder und Freunde sind mit von der Partie. Alle beteiligen sich am Kochen und genießen die Zeit des gemeinsamen Essens. Hier wird über alles gesprochen, auch Konflikte werden nicht ausgespart. Die beiden Frauen sind davon überzeugt, dass offenherzige Gespräche und gutes Essen gesund halten: »Krankheiten entstehen, wenn man sich keine Zeit mehr nimmt, sich an Leib und Seele zu nähren«, erklärt Christine.

Gute Mittel zum Leben
Wichtig ist ihnen selbstverständlich auch die gute Qualität der Lebensmittel; ökologisch und regional angebaut sollten sie sein. Christine und ihre Familie haben einen großen Bauerngarten in Breitenwang, fünf Kilometer von Rieden entfernt. Auch Katharina hat auf der Wiese vor ihrem Haus einen kleinen Garten mit Gemüse und Kartoffeln angelegt. »Früher war da nichts«, erzählt sie. »Als wir mit dem Gärtnern angefangen haben, sind die Kinder und Halbwüchsigen aus dem Dorf gekommen und haben sich gewundert. Dann haben wir sie zu einer Pommes-Fete eingeladen. Inzwischen sind schon einige weitere Kartoffeläcker im Dorf entstanden.«
Fleisch und Wurst kommen von den eigenen Schafen, die wir aber jetzt nicht zu Gesicht bekommen, weil sie noch auf der Alm sind. Eine weitere wichtige Quelle – aber auch Treffpunkt – ist der Bioladen in Reutte.
Katharina hat sich schon immer als Bäuerin gefühlt. Besonders das Getreide hat es ihr angetan. Seit sie von einem alten Bauern erfahren hat, dass in ihrem Tal ursprünglich Roggen angebaut wurde, träumt sie von einem Roggen­acker vor der Haustür. Sie kommt ins Schwärmen: »Man muss die alten Leute fragen. Ohne die geht’s nimmer! So wie früher könnten wir ein Backhaus für die Nachbarschaft bauen und gemeinsam Brot backen, dann würden schöne Gespräche entstehen! Ich möchte in einem Dorf leben, in dem Alt und Jung zusammenwirken – jeder stellt etwas her, und dann tauschen wir.«
Auf dem Weg zur Verwirklichung dieser Vision gibt sie als Bäuerin in Schulen Kurse zur guten Ernährung und zum gemeinsamen Kochen und Backen. »Die Kinder sollen wissen, wo die Lebensmittel herkommen und wie man achtsam und kreativ mit ihnen umgeht. Bei mir erfahren sie etwas vom bäuerlichen Leben.« Als Foto-Künstlerin erarbeitet sie mit Jugendlichen themenbezogene Dokumentationen mit zeitkritischen Aspekten. So hat sie zum Beispiel mit der katholischen Jugendgruppe in Reutte »Die sieben Todsünden« von Bertolt Brecht inszeniert und dazu eine beeindruckende ­Fotostrecke erstellt.
Auch Christine ist neben der leiblichen und seelischen Versorgung ihrer Familie sehr aktiv. Ihre zweite Leidenschaft ist die Harmonisierungskunst »Jin Shin Jyutsu« (»Erkenne dich selbst«), die sie in erster Linie durch Beobachtung ihrer Kinder erlernt hat. Stricken, Nähen, Filzen sowie die Beteiligung am Repair-Café sind weitere ihrer Tätigkeiten, mit denen sie neue Verbindungen im Ort fördern will.

Kreativität ist das Schönste
Nach einiger Zeit kommen wir auf das Buch zu sprechen. »Irgendwann fingen die Kinder an, alleine Gemüsesuppen am Lagerfeuer zu kochen, Säfte zu pressen und Kuchen zu backen«, berichtet Christine. »Wie immer war Katharina mit ihrer Kamera dabei. Ursprünglich wollten wir das Buch primär für unsere Kinder machen, als Erinnerung an diese schöne Zeit – damit sie auf allen Ebenen gut genährt ins Leben starten.« Doch das Buchprojekt entwickelte seine eigene Dynamik. »Wir hatten kein Konzept. Wenn es überhaupt eines gibt, entstand es mit dem Buch. Vielleicht besteht es nur darin, dass wir zeigen wollen, wie viel Kreativität, Freude und Verständnis Kinder beim gemeinsamen Kochen entwickeln können. Wir haben es deswegen auch den Kindern dieser Erde gewidmet.«
Katharina hat ständig fotografiert: »Das Objektiv war sozusagen in mein Auge eingebaut.« Sie liebt es, auf solche Art zu fotografieren.Das natürliche Geschehen will sie zeigen, keine gestellten Aufnahmen. Die Fotos wurden in der Regel nicht bearbeitet.
»Das Schönste war die spielerische Freude der Kinder, besonders wenn sie ungestört experimentieren konnten«, hebt Christine hervor. Alle Rezepte wurden von den Kindern mitgestaltet, sie sind beim Ausprobieren entstanden. Auch an der Gestaltung des Buchs haben die Kinder sich beteiligt; ihre Texte wurden so gelassen, wie sie sie formuliert hatten. Ein Jugendlicher hat die Buchmacherinnen bei der grafischen Gestaltung unterstützt. Das hat ihm geholfen, einen Platz an der Hochschule für Gestaltung in Dornbirn zu bekommen.
»Das Essen ist fertig!« – Unser Gespräch wird von den Rufen der Kinder, die inzwischen alles zum Essen vorbereitet haben, unterbrochen.
Aber ich will noch schnell wissen, wie es mit dem Buch weiterging. Den Druck haben die beiden Familien selbst finanziert. Deswegen haben sie zunächst nur 400 Stück machen lassen. Mit den Kindern wurde ein Ausflug zur Druckerei gemacht, um zu sehen, wie ein Buch in einem kleineren Handwerksbetrieb hergestellt wird. Ökologisches Papier, Fadenbindung und ein fester Einband waren ihnen wichtig. Ein Jahr ist seit der Vernissage, bei der das Buch der heimischen Presse, Nachbarn und Freunden vorgestellt wurde, vergangen. Die nächste Auflage soll ein Verlag übernehmen. Ein weiteres Buch, das die Kinder ganz alleine gestalten wollen, ist auch schon im Gespräch.
Doch jetzt werden die Kids ungeduldig und fordern: »Zum Essen kommen!« Ich erinnere mich daran, wie wichtig es ist, sich Zeit für das gemeinsame Speisen zu nehmen, und folge nur allzu gerne dem Ruf.

Tafelfreuden
Da wartet eine einladend gedeckte Tafel auf uns mit Spaghetti und Tagliatelle, grünem Salat und roten Tomaten aus dem Garten, Tomatensauce, Blütenpesto und selbstgebackenen Semmeln – dazu Holundersaft. Wir lassen uns nieder, füllen die Teller und genießen die ersten Happen. Jetzt sind wir zu neunt; manchmal sind es mit Freunden und weiteren Verwandten zwei Dutzend Menschen. Aber auch in einer kleineren Runde ist die Geselligkeit gut zu spüren. Die Kinder erzählen, wie sie das Buchabenteuer erlebt haben.
Nora: »Wir waren viele – das hat Spaß gemacht. Wir haben herumexperimentiert, und es gab immer jemanden, der uns geholfen hat.« Samuel: »Es ist toll, in Gemeinschaft zu sein, dann erfährt man immer wieder etwas Neues und bekommt Anregungen.« Für Aaron steht jetzt schon fest, dass er Bauer werden will.
Der Neufundländer Victor und unsere Lucy fühlen sich offenbar wohl; sie haben sich verdächtig nahe an die im Wind hängenden Nudeln herangemacht.
Unsere Ohren sollen ebenfalls am Sinnesschmaus teilhaben. Samuel singt gerne, spielt Klavier, tanzt und darf sich bei verschiedenen Musicals als Schauspieler erproben; er dichtet, spielt Trompete, Trommel, Schlagzeug und wahrscheinlich noch einiges mehr. Dem Kochbuch liegt seine CD »Flügelschlag« bei; Nora hat ihn auf dem Klavier begleitet. Jetzt möchte er uns ein Lied der CD vorstellen – einem poetischen Weckruf, auf unser Herz zu hören und uns um die Erde zu kümmern:

»Wieso wird es uns denn nicht klar
Wir schwächen unsere Erde viel zu sehr
Lasst uns schlagen mit den Flügeln
Zusammen ist das wirklich gar nicht schwer
Ich frag euch, ist das richtig,
 einfach nichts zu tun?

Kommt schon, was ist denn mit euch los
Ihr wisst am besten was gut für euch ist
Kommt schon, schlagt doch mit den Flügeln
Schlagt doch mit euren Flügeln
Hört mir zu und vertraut mir und
 hört auf euer Herz …«

 

Kraft der Träume
Der Abschied naht. Wir fühlen uns wohlgenährt – vom leckeren Essen und den guten Gesprächen. Paula und Laurenz wollen schnell noch einmal in ihren kleinen, improvisierten Hofladen am Weg, falls noch jemand von den vorbeikommenden Wanderern einen Kürbis, Steinschmuck oder Selbstgebackenes kaufen will.
Kurz darauf kommt Nora mit einem großen leeren Korb und einem enttäuschten Gesicht in den Garten gelaufen. Das von den Kindern gebackene Brot, das sie uns als Erinnerung mitgeben wollte, ist nicht mehr da – es wurde von Paula und Laurenz gerade verkauft. Na ja, dann werden wir uns eben selber eines backen! Am besten teilen wir es dann auch mit Freunden, denn es ist keine Frage: Geteilter Genuss ist Hochgenuss!
Katharina blickt beim Abschied auf die Wiese vor ihrer Tür, wo Nachbarn Heu machen. »Wie schön wäre es, wenn dort schon Roggen wachsen würde und hier das Backhaus für das ganze Dorf stünde!« Wie ich Christine und Katharina kennengelernt habe, wird es nicht mehr sehr lange dauern, bis auch dieser Traum wahr wird. •

 

Inspiration für spielerische Kochideen
Das Buch »Sinnesschmaus« ist zu beziehen über:
christine.hollenstein_ÄT_jsj.at
katharina.ziegler_ÄT_aon.at

weitere Artikel aus Ausgabe #29

Photo
von Julia Fuchte

Die grüne Matrix (Buchbesprechung)

Um weltweit Milliarden von Menschen zu ernähren, braucht es Gentechnik und industrielle Massenproduktion – so das Credo der Agrarkonzerne; Technik und Markt sollen die Lösungen liefern. Doch wie erklärt es sich, dass heute immer noch Milliarden chronisch Hunger leiden, obwohl

Photo
Gemeinschaftvon Susanne Fischer-Rizzi

Heimat der Sonne im hohen Norden

Island – ein karges, kaltes Land im Norden – sind die Menschen so unzugänglich wie die Natur? Susanne ­Fischer-Rizzi entdeckt die einzigartige Schönheit der Insel und einer Gemeinschaft, die sich hier zu Hause fühlt.

Photo
Gärtnern & Landwirtschaftvon Vivien Beer

Gebt den Kühen die Wiese zurück!

Der heilige Fintan lebte im achten Jahrhundert als Eremit im Kloster Rheinau. Nach ihm nennt sich eine Stiftung, die an der Doppelschleife des Rheins ökologische und soziale Projekte stützt und weitere gründet, darunter die größte Demeter-Landwirtschaft der Schweiz, eine

Ausgabe #29
Satt und glücklich

Cover OYA-Ausgabe 29
Neuigkeiten aus der Redaktion