Titelthema

Berlin lädt zum Kochen ein

Christiane Scherch besuchte Berlins historische Markthalle Neun in Kreuzberg. Wo früher Aldi und Lidl residierten, hat ein engagiertes Team einen lebendigen Treffpunkt im Quartier geschaffen.von Christiane Scherch, erschienen in Ausgabe #29/2014
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© Markthalle Neun

Am Donnerstagabend kurz nach 19 Uhr scheint die Eisen­bahnstraße in Berlin Kreuzberg aus allen Nähten zu ­platzen. Ein buntes Volk tummelt sich vor der Markthalle Neun.

Schon von weitem lockt die Markthalle mit Gerüchen, die auf eine Reise in verschiedenste Winkel des Globus entführen. Im Inneren geht es wie auf einem Wochenmarkt zu. Lange Jahre herrschte hier Tristesse – seit Ende der 1970er-Jahre hatten Discounter mehr und mehr die traditionellen kleinen Händler in der seit 1891 bestehenden Halle verdrängt. Doch vor fünf Jahren machten sich Bürgerinnen und Bürger dafür stark, dass wieder ein »echter« Markt mit saisonalen, regionalen Angeboten entstehe. Am Donnerstagabend werden allerdings nicht nur Zutaten für das heimische Köcheln und Brutzeln angeboten, sondern Köchinnen und Köche legen selbst Hand an: Von veganen Burgern über Pies in allen möglichen und unmöglichen Variationen, peruanischer Ceviche und selbstgemachtes Eis am Stiel ist alles vertreten – auch ein Backschweinstand gehört zum quirligen Ambiente in der großen Halle.
»Schon für unseren Wochenmarkt hatten wir immer viele und unglaublich kreative Angebote für Essensstände. Da haben wir uns entschieden, noch ein eigenes Format fürs Kochen anzubieten«, erklärt Nikolaus Driessen, einer der drei Geschäftsführer der Markthalle Neun. Ausschlaggebend für die Idee waren die vielen Menschen mit internationalem Hintergrund in Berlin. Der »Street Food Thursday« soll ihnen die Möglichkeit geben, sich »das Heimweh von der Seele zu kochen«. Auch Neulinge in der Gastronomie sind hier eingeladen, die Köstlichkeiten, die in ihrer Heimat auf der Straße angeboten werden, für die Berliner zu kochen. Wer sich als zukünftiger Restaurantbetreiber ausprobieren möchte, bekommt hier von einem vielschichtigen Publikum Feedback. Nicht alle, die hier vorbeischauen, beschäftigen sich mit den politischen Hintergründen der Markthalle. In einer Großstadt neigen reichhaltige kulinarische Angebote oft dazu, auf die bloße Konsumebene abzugleiten. Urbaner Lebensstil wird groß geschrieben.

Bäuerliche Landwirtschaft und Märkte gehören zusammen
Doch dem Organisationsteam der Markthalle Neun geht es um mehr. Anfang Oktober war der Raum im Rahmen des Festivals »Stadt Land Food« ausdrücklich politischen Fragen rund um das Essen gewidmet. Neben »Slow Food Berlin« und der Kampagne »Meine Landwirtschaft« war die Markthalle Mitorganisator. Bei der letzten »Wir haben es satt!«-Demonstration für eine enkeltaugliche Agrarpolitik kam die Idee auf, einen agrarpolitischen Kongress und ein Festival für regionales Essen zu verbinden. »Wir wollten nicht nur politische Forderungen auf der Straße vertreten, sondern bestehende positive Ansätze zeigen«, erklärt Nikolaus. Das Festival zog sich quer durch Kreuzberg, füllte Hinterhöfe, Turnhallen, Kneipen und Straßen rund um die Markthalle. Auf dem Programm standen Theater, Musik und Werkschauen von Lebensmittelproduzenten.
Wie weit reicht die gesellschaftliche Transformationskraft, die von Aktionen wie dem Street Food Thursday oder dem Stadt-Land-Food-Festival ausgeht? »Das ist schwierig abzuschätzen«, überlegt Nikolaus. »Nicht alle, die zum Festival kamen, denken Hintergründe mit oder haben ihren Weg in die Konferenz, die gegenüber der Markthalle getagt hat, gefunden. Sicherlich gehört ein solches Festival zum aktuellen Trend und steht für den Lebensstil des grünen Konsums. Genuss soll ja auch nicht zu kurz kommen. Durch viele Programmpunkte, die auf die Herstellungsweise und Herkunft der Lebensmittel hingewiesen haben, wurde sicherlich zum Nachdenken angeregt – das ist zumindest unser Wunsch. Wir möchten das nicht mit erhobenem Zeigefinger tun, sondern viele Menschen neugierig machen, einladen und dort abholen, wo sie sind.«
Wer in der Markthalle Neun mit einer Tischnachbarin ein Gespräch beginnt, wird feststellen, wie schnell die Themen politisch werden: Lebensmittel aus bäuerlicher, regionaler Landwirtschaft liegen immer mehr Menschen am Herzen. • 

www.markthalleneun.de

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Wam Kat ist Mitbegründer des Kollektivs »Rampenplan«, das seit den 1980er Jahren politische Aktionen vegetarisch bekocht. Während der Jugoslawienkriege engagierte er sich als Friedensarbeiter und initiierte 1999 die »Balkan Sunflowers – Volunteers for Social ­Reconstruction«. In Belzig im Fläming, wo Wam seit 1995 wohnt, rief er die Initiative »Info-Café – Der Winkel für Toleranz und gegen rechte Gewalt« ins Leben. 2008 wurde der Revolutions-Koch in die Stadtverordnetenversammlung gewählt. Seit ­einiger Zeit ist er mit seiner »Fläming Kitchen« europaweit unterwegs, um auf die Lebensmittel­verschwendung hinzuweisen.

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