Die Kraft der Vision

Mensch, Natur, Psyche

Radikale Ökopsychologie: Psychologie für eine ökologische Gesellschaft.von Andy Fisher, erschienen in Ausgabe #28/2014
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Nicht weit von meinem Haus entfernt gibt es einen Platz, den ich regelmäßig aufsuche. Dort beobachte ich die Spuren der Hirsche, die Markierungen der Koyoten, untersuche die Pilze, die seit dem letzten Mal aus dem Boden gedrungen sind, und lausche den fernen Rufen der Krähen und dem Tschilpen der Meisen. Diese ökopsychologische Praxis ist mir kostbar: Sie ermöglicht mir, in die Psyche der Landschaft, in der ich wohne, vorzudringen, und mich den Tausenden anderen Menschen nahe zu fühlen, die sich für eine Wiederverbindung mit der Natur einsetzen und an ihren jeweiligen Heimatorten einen ebensolchen »Sit Spot« haben. Leider werden diese »Sitzplätze« nicht selten mit Bulldozern planiert und in Bauland für Wohnsiedlungen oder Einkaufszentren umfunktioniert. Wenn ich an meinem eigenen Sitzplatz bin, denke ich nicht an die Kapitalströme, die Tag und Nacht den Planeten umkreisen, dabei die lokale Eigenartigkeit der Erdkruste zu einer homogenen Oberfläche abschleifen und überall natürliche Sitzplätze bedrohen – einschließlich meines eigenen, der auf dem Gelände eines Sand- und Kiesunternehmens liegt. Und doch lenke ich meine Gedanken auf eben diese größeren gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhänge, wenn ich – fernab der sinnlichen Unmittelbarkeit von Pilz- und Vogelsprache – als Theoretiker einer »radikalen Ökopsychologie« an meinem Schreibtisch sitze.
In Abgrenzung zur therapeutischen Ökopsychologie, die das von der Natur entfremdete menschliche Bewusstsein wieder der mehr-als-menschlichen Welt anzunähern versucht, habe ich den Begriff »radikale Ökopsychologie« geprägt. Damit stelle ich die Ökopsychologie in den Kontext der »radikalen Ökologie«. Mit »radikal« meine ich weder extremistisches Verhalten noch ein Moralisieren mit dem Holzhammer, sondern möchte vielmehr betonen, dass es gilt, sich mit den Dingen in der Tiefe auseinanderzusetzen und dabei zum Aufbau einer neuen Gesellschaft beizutragen. Wörtlich bedeutet »radikal« »zu den Wurzeln vordringen«; es hat denselben sprachgeschichtlichen Ursprung wie die schönen Wurzelgemüse »Radieschen« und »Rettich«. Folglich fordern radikale Ökologen, dass die ökologische Krise auf der systemischen Wurzel­ebene anzupacken sei: kulturell, gesellschaftlich, politisch, ökonomisch, philosophisch, historisch – und psychologisch. Darüber hinaus erklären sie, dass die ökologische Krise nicht bloß nach politischen Reformen und etwas grüneren Lebensstilen rufe, sondern nach einer historischen Transformation, die eine völlig andere Gesellschaft hervorbringt: eine ökologische Gesellschaft.

Auf dem Weg in eine ökologische Gesellschaft
Ich verstehe die radikale Ökopsychologie somit als eine Art an der Psychologie geschulter ökologischer Politik, deren Theorie und Praxis direkte Verbindungen zur Verwirklichung einer solchen ökologischen Gesellschaft herstellt – einer Gesellschaft, deren Produktiv- und Konsumkraft sich in die größere »Gesellschaft der Natur« integriert und Raum für die Regeneration des Lebens auf unserer Erde schafft. Die große Frage ist jedoch, inwieweit sich die radikale Ökopsychologie von dem, was wir heute als Psychologie kennen – mit ihren Heerscharen von Psychotherapeuten, ihrer ausgedehnten Forschungs- und Selbsthilfeindustrie, ihren diagnostischen Lehrbüchern und Evaluierungen –, lösen muss. Manchmal frage ich mich sogar, was in einer ökologischen Gesellschaft überhaupt von der »Psychologie« übrigbliebe.
Persönlich bin ich zu dem Schluss gelangt, dass die Ökopsychologie für eine radikale Transformation der Psychologie selbst stehen muss, wenn sie eine ernstzunehmende Rolle bei der Transformation der Gesellschaft spielen möchte. Die Psychologie in ihrer gegenwärtigen Form – selbst in ergrünter Spielart – ist dieser Aufgabe nämlich nicht gewachsen. Das erwähne ich, weil es in der Psychologie gravierende Widersprüche gibt, die verhindern, dass sie Anknüpfungspunkte zur radikalen Ökologie findet. Der erste grundlegende Widerspruch ist jener, der überhaupt erst zur Entstehung der Ökopsychologie führte: Der Konflikt zwischen dem Hauptziel der Psychologie – dem Wohlergehen des Menschen – und dessen anthropozentrischer Missachtung des Wohlergehens der Erde als Ganzer. Dies wirft die grundsätzliche Frage auf, wie wir auf einer durch permanente Vernutzung und Verelendung gepeinigten Erde je glücklich sein könnten. In diesem ursprünglichen Sinn geht es in der Ökopsychologie darum, uns wieder daran zu erinnern, auf welche Weise unser Bewusstsein aus der natürlichen Welt hervorgeht, und darum, die Synergie zwischen persönlicher und planetarer Gesundheit aufzuzeigen. Dieses Wiedererinnern ist jener Aspekt der Ökopsychologie, der uns nach draußen zu unseren liebsten Sitzplätzen lockt.

Radikale Ökopsychologie heißt Kapitalismuskritik
Es gibt noch einen zweiten, gravierenderen Widerspruch, dem wir uns stellen müssen: Indem sich die Psychologie die individualistischen, marktwirtschaftlichen Ideologien unserer kapitalistischen Gesellschaft zu eigen gemacht hat, hat sie sich mit den Kräften eines naturbeherrschenden Gesellschaftssystems verbündet, das nicht nur die Erde malträtiert, sondern auch den Menschen immenses Leid zufügt, ja, die menschliche Natur ausbeutet und knechtet. Es ist keine Kunst, eine Verbindung zwischen sich epidemisch ausbreitenden seelischen Erkrankungen und Nöten – wie Entfremdung, Sinnverlust, Narzissmus, Raserei, Einsamkeit, Depression, Angstattacken, Süchten und vielen weiteren – und den Mechanismen einer Gesellschaft, deren oberste Priorität die Akkumulation von Geld ist, herzustellen. Und von dieser kapitalistischen Verwertungslogik lässt sich mühelos eine Verbindung zum schrecklichen Elend und armseligen Dahinvegetieren so vieler Lohnarbeiter, Heimatloser und Flüchtlinge in aller Welt ziehen.
Im Licht dieser gesamtgellschaftlichen Zusammenhänge betrachtet, kann die Ökopsychologie gar nicht anders, als zu einer Form von kritischer Psychologie zu werden, wenn sie zu den psychologischen Wurzeln der ökologischen Krise vordringen möchte. Ohne eine kritische Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft wird es ihr nicht gelingen, ihre Konzepte mit dem Aufbau einer ökologischen Gesellschaft zu verbinden. Wo uns der Aspekt des Wiedererinnerns zu unserem Sitzplatz führt, fordert uns dieser gesellschaftskritische Aspekt auf, die in der Gesellschaft wirkenden Kräfte zu verstehen, die nicht nur die Natur unserer Sitzplätze gefährden, sondern auch der menschlichen Natur Gewalt antun.
Die radikale Ökopsychologie muss völlig neue Wege beschreiten. Wenn sie eine Kraft für den Wandel hin zu einer ökologischen Gesellschaft sein möchte, muss sie in ihren Theorien die komplexe Verwobenheit zwischen Gesellschaft, Ökologie und Psychologie nachzeichnen, anstatt die herausfordernde, von gesellschaftlichen Beziehungen, Institutionen, Machthabern und anderen Faktoren geprägte Wirklichkeit auszublenden. Die durch eine solche Theorie informierte Praxis muss wiederum Veränderung auf der kulturellen und gesellschaftlichen – nicht bloß auf der individuellen – Ebene anstreben.
Hier liefert die Wildnisbewegung ein gutes Beispiel: Eine ihrer wichtigsten Erkenntnisse ist nämlich, dass ein Individuum die Rückverbindung mit der Natur nur zu einem gewissen Grad verwirklichen kann, sofern es keine Unterstützung durch eine Kultur, die als Ganze zu dieser Wiederverbindung aufruft und ermutigt, erfährt. Folglich hat sich die Wildnisbewegung zu einem Projekt entwickelt, das eine Kultur wiederbeleben möchte, die Kindern und Jugendlichen eine innige Verbindung mit der ungezähmten Natur nahebringt, die kunstvoll gestaltete Zeremonien zur Würdigung natürlicher Übergänge von einer Lebensphase zur nächsten zelebriert und die ihren in ökologischer Hinsicht reifen Ältesten eine besondere Rolle zuerkennt. All dies befürworte ich aus vollem Herzen. Dennoch glaube ich, dass diese kulturelle Wiederbelebung schnell an ihre Grenzen stößt, wenn sie nicht durch einen Prozess gesamtgesellschaftlichen Wandels unterstützt wird.
Eine extraktivistische Gesellschaft, die weiterhin Kapital aus der brutalen Ausbeutung der mehr-als-menschlichen wie auch der menschlichen Natur schlägt, ist unweigerlich eine von Niedertracht, Unsicherheit und Konkurrenz geprägte, die zahllose Schranken und Hürden auf dem Weg in eine Kultur der Verbundenheit errichtet. Wollen wir eine respektvollere und beseeltere Mensch-Natur-Beziehung Wirklichkeit werden lassen, müssen wir uns der Infiltration unserer sozialen Beziehungen durch das kapitalistische System widersetzen. Und das heißt wiederum, partnerschaftlich zusammenzuarbeiten, um unser Leben auf dieser Erde radikal anders weiterführen und erhalten zu können – im Sinn einer ökologischen Gesellschaft.

Wir müssen uns als Menschen »outen«
Neulich sprach ich abends im Pub mit Umweltschützern über ihre Verzweiflung und Ratlosigkeit. Sie erzählten von ihrem Sinn für die Schönheit und das Wunder des Lebens – und von ihrer Unsicherheit, wie sie in der Öffentlichkeit über diese Leidenschaft sprechen könnten. Mit fortschreitender Stunde wurde mir klarer, dass die Arbeit der radikalen Ökopsychologie auch darin liegt, uns bei unserem Coming-out als Menschen zu unterstützen. Sich als Menschenwesen zu »outen«, heißt, zu sagen: »Ja, so und nicht anders bin ich – Schluss mit den Entschuldigungen!« Und als Menschen sind wir Diener der Natur, sind schlicht und ergreifend Mitglieder der Gemeinschaft allen Lebens. Aufzustehen und uns mit geöffneten Herzen zu erklären, bedeutet in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, dass wir uns angreifbar machen, dass wir riskieren, verspottet zu werden. Dieses Gefühl der Angreifbarkeit können wir jedoch getrost zulassen. Als Psychotherapeut weiß ich, dass alle Menschen ein Bedürfnis danach haben, zu lieben und geliebt zu werden, und dass im Grund ihres Wesens alle Menschen gut sind. Als Ökopsychologe weiß ich mit derselben Gewissheit, dass sich alle Menschen als Teil der natürlichen Welt erfahren und ihre ­eigene Natürlichkeit erleben müssen. Je deutlicher die radikale Ökopsychologie ihre alternative Vision des Menschen, der Natur und der Gesellschaft ausformulieren kann, desto wirkungsvoller wird sie Menschen darin ermutigen können, für eine Welt, in der diese Vision Wirklichkeit wird, einzustehen.
Mit ihrem Dreiklang aus Therapie, Wiedererinnerungsarbeit und Kritik der kapitalistischen Verwertungslogik birgt die radikale Ökopsychologie das Versprechen, einen kraftvollen Beitrag zum Aufbau einer ökologischen Gesellschaft zu leisten. •


Aus dem Englischen übersetzt von Matthias Fersterer. Erstmals in englischer Sprache erschienen in »Resurgence« 277, März/April 2013. All rights reserved, © The Resurgence Trust, www.resurgence.org


Andy Fisher (50) wurde in Toronto, Kanada geboren. Seit mehr als einem Jahrzehnt zählt er zu den Wortführern der aufkeimenden Bewegung der Ökopsychologie, deren transformierender Impuls die klassische Psychologie zu einer ökologischen Sicht der Wirklichkeit hinführen möchte. Sein vielbeachtetes, 2002 bei der State University of New York Press erschienenes Buch »Radical Ecopsychology« wurde 2012 in zweiter, erweiterter Auflage veröffentlicht. Andy Fisher ist als Psycho­therapeut, Dozent und Wildnislehrer ­tätig. Seit 2010 lehrt er an der University of Vermont und tritt im kommenden Jahr einen Posten am »Viridis Graduate Institute« in Kalifornien, einer internationalen ökopsychologischen Bildungseinrichtung, an. Im Herbst führt Andy Fisher zum zweiten Mal einen Lehrgang in Ökopsychologie am Schumacher College in England durch. Derzeit arbeitet er an seinem zweiten Buch, das unter dem Arbeitstitel »Invitation to Ecopsychology« theoretische, praktische und gesellschaftliche Aspekte einer Psychologie, die den Übergang hin zu einer ökologischen Gesellschaft begleitet, erforscht. Andy Fisher lebt auf einem kleinen Gehöft im Osten der kanadischen Provinz Ontario. Zu seinen frühesten Kindheitserfahrungen gehört die Bestimmung von Wildblumen am Wegesrand gemeinsam mit seiner Mutter.

www.andyfisher.ca

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